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nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 12
55. Jahrgang | Oktober
Semmelmann
Äppelkonto
Wenn ich früher frische Musik in meinen Besitz bringen wollte,
musste ich das Haus verlassen und einen Schallplattenladen aufsuchen.
Die Öffentlich-Rechtlichen (andere gab es noch nicht) verließen
fast nie den Mittelstreifen, und die Aufgabe von Radio und Fernsehen
war schon damals, die Konsumbereitschaft der Hörer und Zuschauer
zu fördern. Witzigerweise funktionierte das damals fast ganz
ohne Werbung.
Die Welt hat sich seitdem nicht nur weitergedreht – nein
– es ist eine völlig andere Welt geworden. Musste ich
früher, wie bereits erwähnt, zum Musikeinkauf einen Plattenladen
aufsuchen, funktioniert das heute ganz anders. Ganz anders. Und
man kann dabei sogar sitzen bleiben. Alles, was man braucht, ist
ein Internetzugang und eine Kreditkarte. Letzteres habe ich schon
lange nicht mehr. Macht aber nix, dann nehme ich eben die meiner
Frau. Was nur fair ist: Ich habe den Internetzugang, sie die Kreditkarte.
Flugs klicke ich mich in mein mp3-Programm und trete von dort
aus durch die digitalen Pforten des Apple iTunes Music Store. Und
wie vor 30 Jahren schnüffle ich sofort in den Regalen herum,
nur eben virtuell. Ich bin nämlich der felsenfesten Überzeugung,
dass ich in diesem Laden all die Songs finden werde, die ich noch
gerne auf meinem iPod hätte. Doch weit gefehlt.
The Doors: Absolutely live? Fehlanzeige
The Tubes: Young and Rich? Fehlanzeige
Pere Ubu: Cloudland? Fehlanzeige
Ich suche nach The Jam, finde Pearl Jam. Nix gegen Pearl Jam,
aber ich meinte The Jam. Erst nach mehreren Klicks durch den quälend
langsamen Laden finde ich sie dann. Es ist fast wie früher,
wenn dumme Kaufhausverkäufer John Mayall bei J statt bei M
einsor-tiert haben. Irgendwann komme ich auf die völlig absurde
Idee, nach der legendären englischen Punkband Crass zu suchen.
Und was soll ich sagen, was mir die Musikfrüchtchen vom Appleshop
um die Ohren hauen? Bittschön: „Zurück, Elsa! Nicht
länger will ich dulden!”
Anja Silja, Astrid Varnay, Chor der Bayreuther Festspiele, Franz
Crass, Jess Thomas, Orchester der Bayreuther Festspiele & Wolfgang
Sawallisch, Wagner: Lohengrin
Ja, spinn’ ich denn? Bayreuther Festspiele? Schon wieder?
Franz Crass? Ich mache kurz die Gegenprobe bei der Konkurrenz von
musicload.de …
Franz Crass (Bass) & Münchener Bach-Orchester (Orchestra)
& Karl Richter (Conductor)
Bach, J.S.: Sacred Masterpieces – 10 CDs
No. 47 Aria (Bass): „Erleucht auch meine finstre Sinnen”
Dir erleuchte ich gleich was anderes, Freundchen. Ausgerechnet
Bach. Da höre ich sofort die Bratschen quälend in meinem
Oberstübchen kratzen und zirpen, und es läuft mir eiskalt
den Buckel runter. So richtig verärgert klicke ich einfach
ein paar Songs in meinen Einkaufskorb, denn das eine oder andere
habe ich dann doch gefunden. Dann gehe ich – nein –
klicke ich mich zur Kasse durch. Hier kommt die Kreditkarte meiner
Frau ins Spiel, denn bevor ich die Songs auf die Festplatte runterladen
kann, muss ich ein Äppelkonto einrichten. Und das geht nur
mit Kreditkarte. Auch diese Hürde nehme ich bravourös,
lade endlich die 10 Songs auf meine Platte und tilge den Debit bei
meiner Frau sofort und in bar. 9 Euro und 90 Eurocent. Für
10 Songs aus der guten, alten Zeit. Alles in allem hat mir dieser
Einkauf sehr wenig Spaß gemacht. Doch so ist das eben, wenn
man in einer Kleinstadt wohnt, in der es schon seit vielen Jahren
keine Plattenläden mehr gibt. Sehr traurig.