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nmz-archiv
nmz 2006/11 | Seite 43
55. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Ein Hauptstadt-Ereignis auf dem richtigen Weg
Musikfest Berlin 2006 entwickelt sich wieder zu einem urbanen
Ereignis
Beim Eröffnungskonzert rieb man sich die Augen. Immerhin ist
das Philadelphia Orchestra kein Nobody, sondern ein Star in der
internationalen Orchesterlandschaft. Dennoch gab es an diesem Abend
wie bei den Klangkörpern aus Birmingham, Cleveland und Bamberg
viele leere Plätze – ganz anders als im Monat zuvor,
als bei Young Euro Classic selbst unbekannte Jugendorchester für
ein vollbesetztes Konzerthaus sorgten. Sind Jugendorchester in Berlin
beliebter als internationale Star-Orchester? Den Grund für
dieses Missverhältnis muss man wohl eher darin sehen, dass
sich Young.Euro.Classic seit Jahren kontinuierlich ein Stammpublikum
aufgebaut hat, das erst im Vorjahr geschaffene Musikfest Berlin
dagegen noch nicht.
Die
Bamberger Symphoniker unter Jonathan Nott boten in Berlin
nur Positives. Foto: Musikfest Berlin
Dabei sind die Berliner Festspiele auf dem richtigen Wege, seit
sie wieder mit den Berliner Philharmonikern kooperieren und von
diversen Ausweichquartieren in die repräsentative Philharmonie
zurückkehrten. Deren Intendantin Pamela Rosenberg erinnerte
vor der Presse denn auch an die siebziger und achtziger Jahre, als
sie die Berliner Festwochen als wahrhaft urbanes Festival erlebt
hatte. Zu solcher Urbanität gehörte beim diesjährigen
Musikfest das Programmprofil mit den Schwerpunkten ungarischer Musik
um György Kurtág sowie englischer Musik verschiedener
Epochen. Darüber hinaus stiftete die Todesthematik einen Zusammenhang.
Schon Mahlers „Lied von der Erde“ beim Eröffnungskonzert
stimmte auf dieses Thema ein, was sich in Elgars Gerontius-Oratorium,
in Passionsstücken von Orlando di Lasso und Wolfgang Rihm,
in den Beschwörungen des Schattenreichs bei Jonathan Harvey
und Igor Strawinsky, in der Totenstimmung von Henzes „Sebastian
im Traum“, in „Tod und Verklärung“ von Richard
Strauss, in Kurtágs „Grabstein für Stefan“
und „Stele“ sowie Mahlers „Auferstehungssymphonie“
fortsetzte. André Hebbelinck, dem sich das ebenso düstere
wie intelligente Programm verdankte, garnierte damit seinen eigenen
Weggang von den Berliner Festspielen, wo inzwischen Winrich Hopp
seine Nachfolge antrat.
Während dem City of Birmingham Orchestra und seinem fabelhaften
Chor unter Sakari Oramo eine klangprächtige Elgar-Interpretation
gelang – über immer neue Klangtore in den Himmel aufsteigend
–, überzeugte das Philadelphia Orchestra nicht durchweg.
Nach den ungleichwertigen Solisten, die Christoph Eschenbach beim
„Lied von der Erde“ zur Verfügung standen, hinterließ
die Sopranistin Marisol Montalvo bei den thematisch verwandten „Hérodiade-Fragmenten“
von Matthias Pintscher einen stärkeren Eindruck. Sogar beim
Auftritt des Concertgebouworkest Amsterdam mit Mariss Jansons, dem
bestbesuchten Gastkonzert, erlebte man qualitative Schwankungen.
Nur Positives kann man dagegen über die Bamberger Symphoniker
unter Jonathan Nott berichten. Die Kriegswarnungen in Brittens Violinkonzert
von 1939, von Daniel Hope mit sachlicher Präzision gespielt,
fanden ihr Echo in den faszinierend dunklen Orchesterfarben von
Birtwistles „The Shadow of Night“ und der eher nüchtern
aufgefassten Tondichtung „Tod und Verklärung“.
Zu den eindrucksvollen Höhepunkten zählten Schuberts
Große C-Dur-Sinfonie, ebenso kammermusikalisch wie gesanglich
dargeboten vom Mahler Chamber Orchestra unter Daniel Harding, und
Mozarts „Prager“ Sinfonie, mit wienerisch leichtem Bogenstrich
gespielt vom Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst. An
dem gewichtigen Kurtág-Schwerpunkt zum 80. Geburtstag des
Komponisten beteiligten sich die Streichquartette Ébène,
Kuss und Minguet, die Berliner Philharmoniker, das SWR Vokalensemble
Stuttgart und vor allem die Ungarische Nationalphilharmonie. Diese
bot unter Zoltán Kocsis zwei vom Komponisten selbst entworfene
Programme, die seine Wurzeln bei Bartók und Webern aufzeigten
und auf faszinierende Weise unterschiedliche Raumkonzepte in den
Werken „Grabstein für Stefan“, „... quasi
una fantasia“ und „Doppelkonzert“ vorführten.
György Kurtág will seine Kompositionen nicht als Neue
Musik, sondern als traditionsgebunden verstanden wissen. Ähnlich
bezeichnete auch Wolfgang Rihm seine jetzt uraufgeführte „Vigilia“
für Sänger, Orgel und Ensemble als „ein Drittes
zwischen Alter und Neuer Musik“. Die Gegenüberstellung
mit Orlando di Lassos Vokalkomposition „Lagrime di San Pietro“
zeigte, wie stark er sich durch Renaissance-Madrigale inspirieren
ließ, ohne damit an Originalität einzubüßen.
Seine über große Strecken überraschend konsonante
und homophone Musik erhielt immer wieder neue Spannung durch dissonante
Reibungen und harte Akzente, durch ausdrucksvolle Pausen und instrumentale
Zwischenspiele. Dass das neue Rihm-Stück trotz einiger Längen
insgesamt stärker wirkte als die berühmte Lasso-Komposition,
lag auch an der perfekten Wiedergabe durch die Vokalisten von Singer
Pur. Leider war die große Philharmonie bei diesem Ereignis
kaum zur Hälfte gefüllt.
Durchweg gut besucht waren dagegen die Konzerte der Berliner Orchester,
die auch qualitativ hinter denen der internationalen Gäste
nicht zurückstanden. Die Philharmoniker trugen mit zwei sehr
unterschiedlichen Programmen zu den Themenschwerpunkten bei. Einleuchtend
verbanden sie die deutsche Erstaufführung von Jonathan Harveys
„Madonna of Winter and Spring“ (1986), einer Meditation
über Werden und Vergehen, mit Igor Strawinskys Tanzmelodram
„Persephone“. Bei Harvey faszinierte die Live-Elektronik,
die den Orchesterklang um neue Dimensionen bereicherte, bei Strawinsky
das reizvolle Gegeneinander von Rezitation (Isabelle Huppert), Chor
und Orchester. Das zweite Philharmoniker-Programm steigerte sich
von György Kurtágs „Stele“ (mit neuen Schlusstakten)
zur gigantischen Auferstehungsvision von Mahlers 2. Symphonie, die
Simon Rattle leider ins Lärmende abgleiten ließ. Für
den Höhepunkt, den Choreinsatz, blieben damit kaum noch Steigerungswirkungen.
Jederzeit kontrolliert spielte dagegen das Rundfunk-Sinfonieorchester
unter Marek Janowski. Die „Métaboles“ von Henri
Dutilleux waren mit nicht geringerer Sorgfalt ausgefeilt als die
bekannten Werke von Mendelssohn und Schumann. Bei der Staatskapelle
kam die vorgesehene europäische Erstaufführung der „Notations
VIII“ von Pierre Boulez sowie der Auftritt von Martha Argerich
nicht zustande. Der unermüdliche Daniel Barenboim sprang mit
einem Mozartkonzert ein und erhielt auch für das immer noch
üppige Mahl aus „Don Juan“ und die ebenso theatralisch
wiedergegebene Vierte von Brahms starken Beifall. Einen hochrangigen
Abschluss des Musikfests bildete der Auftritt des Deutschen Sinfonie-Orchesters
unter Herbert Blomstedt. Bei Mozarts A-Dur-Violinkonzert vermochte
er den Solisten Nikolaj Znaider nicht aus seiner Reserve zu locken.
Alle dynamischen und gestalterischen Register zog er dann aber bei
Bruckners 5. Symphonie, die man in der Gegenstellung von Klang-
und Themengruppen wohl selten plastischer und aufregender erlebt
hat.