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nmz-archiv
nmz 2006/11 | Seite 45
55. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Seltener Gast namens Neue Musik
Uraufführung der Multimedia-Oper „Jenseits der Schatten“
von Vladimir Tarnopolski im Forum Bonner Bundeskunsthalle
„bonn chance!“ In Bonn wünscht man nicht nur „Viel
Glück!“, man tut auch etwas dafür. Zu den alten
Anstrengungen der städtischen Oper fürs neue Musiktheater,
ein Erbe Udo Zimmermanns, hat die Bundeskunsthalle 1993 ihr Forum
eingebracht. Seitdem hat das musikalisch-kompositorische Labor der
alten Bundeshauptstadt einen neuen Ort bekommen. Zwei, manchmal
drei Uraufführungen und Premieren zeitgenössischer Opern
werden pro Spielzeit zur Diskussion gestellt. Nun, zum dritten Mal,
jeweils im Herbst, in Kooperation mit dem Beethovenfest. Die jüngste
Produktion lieferte zudem den Beweis, dass der Blick weit über
den rheinischen Tellerrand hinausreicht. Mit „Jenseits der
Schatten“ als Auftrag von Theater Bonn und Beethovenfest,
verhalf man einem ambitionierten Musiktheater zur Uraufführung,
das in der Heimat des Komponisten chancenlos gewesen wäre.
Der Grund ist einfach: Vladimir Tarnopolski kommt aus Moskau, wo
Leute wie er entweder marginalisiert sind oder, wenn sie sagen,
was sie denken, (und gehört werden), um ihr Leben fürchten
müssen.
Gleichnis
auf das unterirdische Leben: „Jenseits der Schatten“
von Vladimir Tarnopolski. Foto: Theater Bonn
Bonn chance! – Für Vladimir Tarnopolski war es tatsächlich
eine solche. Regisseur Neuendorff von Enzberg, der den ukrainischen
Komponisten im Vorfeld der Bonner Produktion besuchte, zeigte sich
geschockt. Selbst am Tschaikowskij-Konservatorium, wo Tarnopolski
eine Lehrtätigkeit ausübt, sei dieser, erzählt Neuendorff,
eine Randfigur. Außer Insidern kenne ihn niemand in Moskau,
geschweige denn seine Arbeiten. Im Premieren-Gespräch legte
der Künstler, darauf angesprochen, russischen Gleichmut an
den Tag, ein anderes Wort für Leidensfähigkeit. Alles,
was er bisher für die Bühne geschrieben habe, so Tarnopolski
in einwandfreiem Deutsch, sei im Ausland aufgeführt worden.
Sechs szenische Stücke. „Neue Musik ist in Russland immer
noch ein seltener Gast.“ Kein Wunder, dass es diese Isolation
ist, die der Komponist in seinem Musiktheater thematisiert, reflektiert.
Nach seinem Opernerstling „Wenn die Zeit über die Ufer
tritt“, als interessanteste Produktion der Münchener
Biennale 1999 gerühmt (nmz 06/99), hat Tarnopolski mit Hilfe
seines Librettisten Ralph Günther Mohnau jetzt einen neuen
Anlauf unternommen, ist vom Tschechow-Material der „Drei Schwestern“
weiter in den Tiefbrunnen europäischer Geistesgeschichte hinabgestiegen
– mitten hinein in Platons Höhle. Die aus dem siebten
Kapitel des Buches „Politeia“ mit dem Entwurf eines
autoritären Staates, regiert von einer selbstgerechten Elite,
ausgestattet mit absolutem Wissen. Im Unterschied zur großen
Masse, deren Status und Bewusstsein gefangenen Höhlenmenschen
vergleichbar ist. Was diese sehen, sind nur die Schattenrisse der
Dinge, Zerr- und Trugbilder. Die Welt „Jenseits der Schatten“,
das Licht wahrer Erkenntnis, ist ihnen unerreichbar. Auch wenn Tarnopolski
einen kunstautonomen Ausweg weist – „tanzend bin ich
Licht“ – es ist die Düsternis von Platons Gleichnishöhle,
die ihn beschäftigt: Da sind drei Gefangene, die die Wände
abtasten. Als Gefängniswärter erscheint der antike Philosoph
selbst, eine Art entfernter Rocco-Verwandter. In die Zeichnung der
einzigen Sprechrolle dieser Oper hat die Regie viel Sorgfalt gelegt.
Überzeugend gibt Wolfgang Jaroschka die lässige Selbstgefälligkeit,
den höhnischen Sarkasmus dieses gebildeten Kerkermeisters.
Manchmal wird er von den Gefangenen eingekreist; dann zahlen sie
es ihm heim, dass er sich auf der Erde krümmt. Doch mehr als
ein momentanes Sich-Luftmachen wird nicht daraus.
Dieser Gefangenschaft bereitet keine Ankunft des Ministers ein
Ende. In diese Höhle dringt kein Freiheit verheißender
Trompetenstoß. Zwar will die Musik immerzu hinaus ins Offene,
erkundet Schlupflöcher, klopft an die Wände, doch der
entscheidende Schritt in die Welt „Jenseits der Schatten“
bleibt ihr verwehrt. Das Ensemble musikFabrik, in geteilten Gruppen
auf den Seitenemporen platziert, von Wolfgang Lischke mit klarer
Zeichengebung durchs Geflecht dieser überaus suggestiven Musik
dirigiert, steuert seinen expressiven Ensembleton bei. Klaustrophobische
Existenzangst wird ebenso hörbar wie der Protestschrei und
das Sich-Wegwünschen. Wohin? Wohin? Am besten ins „göttliche
Licht“ wie es die drei Inkarnationen der schönen Künste
vorsingen. Und doch – Tarnopolskis Musik erzählt keine
Geschichte, sie liefert eine Zustandsbeschreibung. Mit spitzen Nägeln
zieht der Komponist Linien über die Partitur, erhöht hier
den Druck durch elektronische Verstärkung, schnarrende Harfencluster,
knirschende, peitschende Streicher, röchelnde Bläser,
lockert dort ein wenig die akustischen Daumenschrauben, nur um im
nächsten Moment via Tonband und Synthesizer-Klangtrauben die
Fräßspur zu vertiefen. Und damit den Schmerz über
ein Leben im Schatten, dem man nicht entrinnen kann – vor
allem nicht im heutigen Russland, wo – so Tarnopolski –
Schostakowitsch schon die vorgeschobenste Position der Moderne markiert.
Und jenseits davon – da regiere der Pop.
„Jenseits der Schatten“, die zweite Oper Vladimir Tarnopolskis,
ist der Klang gewordene Subtext zu dieser speziell russischen Tristesse,
ein Höhlengleichnis auf das unterirdische Leben, auf die Nicht-Öffentlichkeit
der Moderne im heutigen Russland. Vor allem diesen Schmerz drückt
Tarnopolski in seiner Musik aus. Schonungslos mit sich selbst wie
mit dem Publikum gräbt sich seine Tonspur in die Gehörgänge.
Das NRW-Landesensemble musikFabrik an der Fräßmaschine
sorgt für Präzisionsschliff – eindeutig das Rückgrat
dieser Inszenierung. Die andere Stütze ist das Gesangsensemble:
Drei Damen, drei Herren, wobei es vor allem dem Sopran-Trio gelingt,
den Spannungszustand zwischen dem Diesseits und dem Jenseits der
Schattenwelt spürbar zu machen. Dass der extrem geführte,
exzellente Vortrag von Eva Resch, Julia Rutigliano und Sibylle Hummel
weitgehend textunverständlich blieb, war kompositorisch gewollt.
Tarnopolski zerhackt erst die Worte, dann dehnt er sie – wie
auf der Streckbank. In blütenweiße, etwas neckische Ballettkostümchen
gekleidet, mimt das Trio die schönen Künste, tritt aus
drei antiken Säulen hervor, um sich als Bündnispartner
der schwarz gewandeten Gefangenen zu empfehlen. Gemeinsam absolviert
man, in der Szene agierend und singend, eine von Robert Wechsler
entwickelte Choreographie: neues Musiktheater mit neuen Anforderungen
an die Akteure.
Als Teil einer raffinierten Echtzeitanimation des Nürnberger
Computerspezialisten Frieder Weiß werden die Tänzer (Senem
Gökce Ogultekin, Frey Faust), beobachtet von Videokameras und
dank Sensoren am Körper, zu bildgebenden Medien. Es entsteht
ein Mix aus Tanz und Tanzbildern, projiziert auf eine wespennestartige
Höhlenwand. Allerdings wirkt dies auf die Dauer dann etwas
selbstverliebt, wenn Frey Faust in der Manier eines Fingerschattentheater
spielenden Kindes allerlei Lustiges, Verdoppeltes, Verzerrtes daherzaubert.
Ein Versäumnis der Regie, hier nicht korrigierend eingegriffen
zu haben.
Insgesamt machte diese unter fatalem Zeitdruck entstandene Inszenierung
den Eindruck des noch Unausgereiften, ablesbar vor allem an der
Ratlosigkeit, wie dieses multimediale Höhlenexperiment sinnvoll
zu Ende gehen kann. Die kunstautonome Botschaft – „nur
tanzend bin ich Licht“ – musste am Ende als bloß
projizierter Schriftzug von der Wand entziffert werden. Dies wäre
dann zu korrigieren, wenn Tarnopolskis Multimedia-Oper, wie zu hören
ist, in der Moskauer Helicon-Oper, mit Bonner Unterstützung
2008 ihre Neuinszenierung erfahren sollte. – Zweite Chance.
Bonn chance!