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nmz-archiv
nmz 2006/11 | Seite 44
55. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Auf der Suche nach der Luft von anderen Planeten
Zur Ausstellung „Harmonie und Dissonanz. Gerstl –
Schönberg – Kandinsky. Malerei und Musik im Aufbruch“
Am Anfang steht ein Dreiklang, bestehend aus zwei Gemälden
und einer Musikkomposition: dem Gruppenbildnis mit Schönberg
des Wiener Malers Richard Gerstl, Arnold Schönbergs im Autograph
gezeigtem Zweiten Streichquartett op. 10 sowie Wassily Kandinskys
Impression 3 (Konzert). Drei Werke zwischen Expressionismus und
Abstraktion, Tonalität und Zwölftonmusik. Gerstls Gruppenbildnis
von 1907, revolutionär in seiner Verschmelzung von Figürlichkeit
und Konturauflösung, und Schönbergs Streichquartett von
1908 – ein Schlüsselwerk des Wiener Komponisten auf dem
Weg zur Zwölftonmusik, das wiederum den Russen Kandinsky 1911
zu seiner epochalen Impression 3 und zur Weiterführung seiner
abstrakten Malerei inspiriert hatte.
Damit fokussiert gleich der erste Ausstellungsraum im Kunsthaus
Zug Kern und Essenz des ambitionierten Ausstellungsprojekts, das
dem vernetzten Wechselspiel von Malerei und Musik am Beginn der
Moderne am Beispiel dieser drei Künstler nachspüren will.
Und neben dichten ästhetischen Querverbindungen und Geistesverwandtschaften
offenbaren sich hier auch biographische Berührungspunkte. War
es doch der Maler Richard Gerstl (1883–1908), der zwischen
1906 und 1908 in Wien zum engen Kreis um Schönberg gehörte
und den Komponisten ermutigte, sich ebenfalls der Malerei zu widmen.
Zu einem abrupten Ende ihrer Freundschaft kam es dann im Sommer
1908, als Schönbergs Frau Mathilde und Gerstl ein Verhältnis
begannen und der Maler im folgenden Herbst Selbstmord beging. Kandinsky
seinerseits bemühte sich erstmals 1911 um Kontakt zu Schönberg,
nachdem er dessen – Mathilde Schönberg gewidmetes –
Zweites Streichquartett in München gehört hatte. Noch
sichtlich bewegt von diesem Konzerterlebnis, bei dem auch die „Drei
Klavierstücke op. 11“ erklangen, schreibt der Maler dem
Komponisten am 18. Januar 1911 nach Wien: „Sie haben in Ihren
Werken das verwirklicht, wonach ich in freilich unbestimmter Form
in der Musik so eine große Sehnsucht hatte. Das selbständige
Gehen durch eigene Schicksale, das eigene Leben der einzelnen Stimmen
in Ihren Compositionen ist gerade das, was auch ich in malerischer
Form zu finden versuche.“ In ihrer Suche nach neuen künstlerischen
Wegen, nach „Luft von anderen Planeten“, wie es im vierten
Satz „Entrückung“ in Schönbergs Zweitem Streichquartett
nach Stefan George heißt, begegneten sich beide Künstler,
und Kandinsky schuf hierauf nicht nur seine Impression 3 (Konzert),
sondern trat in einen intensiven, anregenden (Brief-)Austausch mit
Schönberg.
Erstmals sind nun im Kunsthaus Zug die Gemälde aller drei
Künstler vereint, zur Verfügung gestellt von Museen und
Privatsammlungen aus Europa und den USA, etwa eine Serie berühmter
Schönberg-Selbstporträts aus dem „Arnold Schönberg
Center“ in Wien. Mit der Sammlung Kamm verfügt das Kunsthaus
Zug zudem über eine bedeutende Werkgruppe aus dem schmalen
Œuvre Richard Gerstls, der bis heute ein großer Unbekannter
der Wiener Moderne geblieben ist und dessen Atelierarbeiten nach
seinem Selbstmord 1908 über zwanzig Jahre bei einer Speditionsfirma
eingelagert waren.
Neben Gemälden, Manuskripten, Bühnenbildentwürfen
und bibliophilen Büchern sind auch zahlreiche Musikautographe
Schönbergs von der Jahrhundertwende bis zu seiner Emigration
1933 zu sehen – unter anderem die „Sechs kleinen Klavierstücke
op. 19“, „Die Jakobsleiter“ oder Notate zum „Pierrot
lunaire“ in seinen Konzertkalender. Außerdem bietet
die Ausstellung Einblicke in die Bastelwerkstatt des leidenschaftlichen
Erfinders Schönberg: Gezeigt werden zum Beispiel ein Zwölftonschieber
oder eine Drehscheibe, mit deren Hilfe musikalische Strukturen räumlich
veranschaulicht werden können. Insgesamt rund 150 Exponate
künden vom „Aufbruch in die Moderne“, darunter
auch Arbeiten Kandinskys zum Thema Punkt und Fläche aus dem
Centre Pompidou, die durch Vermittlung von Pierre Boulez erstmals
in der Schweiz zu sehen sind.
Doch damit nicht genug – der Klang der Bilder manifestiert
sich auch in einem musikalisch-praktischen Teil, der die reiche
Ausstellung begleitet: Im Kunsthaus Zug wurde eigens ein Musikraum
mit Musikmanuskripten eingerichtet, der von Studierenden der Lucerne
Festival Academy und der Luzerner Musikhochschule regelmäßig
bespielt wird, sogar Pierre Boulez hat ein Werkstattkonzert geleitet.
Auch im November und Dezember bieten noch Museumskonzerte mit Werken
Schönbergs synästhetischen Kunstgenuss. Und im Hof des
Kunsthauses Zug erwartet den Unersättlichen schließlich
eine Music Lounge im Kunsthaus Zug mobil mit CD-Einspielungen von
Musik Schönbergs samt Partitur.