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nmz-archiv
nmz 2006/11 | Seite 56
55. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Still Alive – ein Reise mit Pearl Jam
Die Grunge-Oldtimer Pearl Jam live in Berlin (23.9.06) &
Wien (25.9.06)
Die Vergangenheit meinte es nicht gut mit den europäischen
Pearl-Jam-Fans. Manches Land musste sechs Jahre warten, bis Eddie
Vedder, Stone Gossard, Mike McCready, Jeff Ament und Matt Cameron
insbesondere wieder deutschsprachigen Boden betraten. Sicher. Etwas
kauzig ist Pearl Jam geworden. Oder war es immer. Während Nirvana
schnell im Kommerz versanken, ackerten Pearl Jam weiter an ihrer
Attitüde: Interviews gibt es selten. Ein US- Konzertveranstalter
wurde wegen zu hoher Eintrittspreise verklagt. Die Band verweigert
seit ihrem Erfolgsvideo „Jeremy“ hartnäckig die
Zusammenarbeit mit MTV. Zudem setzt man sich leise für diverse
Hilfsorganisationen ein. Sogar die verbrauchten Energiekosten der
letzten Tournee (Strom, Benzin, Wasser usw.) spendete die Band per
Geldbetrag einer Umweltorganisation. Doch das durfte man nun für
ein paar Stunden mal vergessen.
Berlin 23. September 2006 – Um 20.10 Uhr waren Pearl Jam endlich
in Deutschland angekommen. Bestes Wetter Ende September, eine wunderbare
Atmosphäre im Amphitheater des Open-Air-Geländes „Wuhlheide“.
Die Vorband „ The Black Keys“ erwiesen sich als sympathische
Zweimann- Combo: Gesang, Gitarre, Schlagzeug. Mehr Stress musste
nicht sein. Als um zehn Minuten nach acht die Introtöne zum
Pearl-Jam-Auftritt erklingen, entlädt sich die jahrelange Wartezeit
in einem Urschrei. Unbeeindruckt betreten Pearl Jam lässig
die Bühne. Winken schüchtern ins Publikum. Eddie Vedder
stellt zufrieden seine obligatorische Weinflasche an den vorderen
Bühnenrand. Matt Cameron zählt lakonische vier Drumstickschläge
eine und „Go“, „Save You“, „Animal“,
„Do The Evolution“ sowie „Rearviewmirror“
eröffnen schnell, hart und fast unbarmherzig ein Konzert, das
viele Höhepunkte finden wird: Dazu gehören sicher Eddie
Vedders Ansagen in Deutsch, die er zwar vom Zettel liest, die jedoch
nicht ehrlicher hätten sein können. Oder der Song „Come
Back“, der dem verstorbenen Joey Ramone gewidmet wird, einem
guten Freund der Band. Dazu gehört die wohl eindringlichste
Version von „Present Tense“, die man bisher hören
durfte: Mike McCready begleitet zwei Drittel des Songs Eddie Vedder
nur mit Gitarre; ein Gänsehauterlebnis. Dazu gehört das
selten gespielte „Footsteps“, die Pearl-Jam-Hymne „Alive“,
das hypnotische „Black“, dessen Refrain noch minutenlang
von den Fans weitergesungen wird, oder das dramatische „Crazy
Mary“, in dem Eddie Vedder getreu dem Songtext („Take
a bottle drink it down. Pass it around“) seine Flasche selbstlos
den Fans zur Verfügung stellt. All diese kleinen Höhepunkte
wirken uninszeniert. Wo andere Bands „Dramaturgen“ beschäftigen,
scheint bei Pearl Jam alles relativiert und unbehäbig zu funktionieren.
Dementsprechend unspektakulär zeigt sich die Show. Diskretes
Licht, keine Videowände, keine künstlichen Bühnenaufbauten,
keine überflüssigen Ansagen. Nach 29 Songs werden die
internationalen Berliner Besucher (Fahnen aus Schweden, Kroatien,
Neuseeland, Finnland oder Tschechien werden geschwenkt) mit „Yellow
Ledbetter“ nach Hause begleitet. Ein Open-Air-Konzert, das
durch das Ambiente in Berlin zu einem Erlebnis wurde und das eine
engagiert kämpfende Band präsentierte, die die schon über
Jahre treuen Fans schätzt und liebt, dennoch das Konzert über
weite Strecken in sicherer Distanz zu den Fans bestreitet.
Wien, 25. September 2006 – Dass die in Berlin unterstellte
Distanz zum Publikum eine grobe Fehleinschätzung war, beweisen
Pearl Jam zwei Tage später in Wien. Am 25.9.2006 eröffnen
sie um 21.00 Uhr ein fulminantes Konzert, das in keinem Vergleich
zum Berliner Auftritt steht. Entfesselt werden die ersten fünf
Songs des Konzerts ohne Pause aneinandergereiht: „Life Wasted“,
„Corduroy“, „Rearviewmirror“, „World
Wide Suicide“, „Comatose“. Ein atemberaubendes
Tempo. Eine Band, die agiert, als stünde sie in einem kleinen
Club vor 300 Menschen. Man sucht den Kontakt zum Publikum und spielt
ein komplett anderes Set als in Berlin. Schon beim Opener „Life
Wasted“ brüllt die Menge die üppige Hallen-P.A.
in Grund und Boden. Kultsongs wie „State of Love and Trust“,
„Jeremy“ oder „Off He Goes“ werden ergänzt.
Die Halle tobt, selbst auf den Tribünen stehen, springen, tanzen
und jubeln Menschen. Die ersten „Crowd- Surfer“ werden
über die Köpfe der Fans hinweg nach vorne gereicht. Immer
wieder trifft sich die Band bei Schlagzeuger Matt Cameron, um Einheit
zu demonstrieren und miteinander zu spielen. Eddie Vedder möchte
seine Gitarre gar nicht mehr loswerden. Drischt wie in Trance auf
die Saiten ein, um mit der ersten langsamen Nummer „Elderly
Woman Behind The Counter In A Small Town“ zum ersten Highlight
zu kommen. Unterstützt vom 15.000er-Chor und den markanten
Anfangszeilen „I seem to recognize your face“. Mit „Once“
vom ersten Album „Ten“, „Parachutes“ vom
neuen Album, „Spin the Black Circle“ und den kaum verzichtbaren
„Alive“, „Black“ oder „Daughter“
runden Pearl Jam ein wahnsinniges Konzert ab, das endet, wie es
enden muss: Mike McCready greift zur Gitarre und spielt die ersten
und letzten Töne von „Yellow Ledbetter“ an. Eindeutiges
Zeichen, dass ein Ende naht. Man rückt näher zusammen
in der Stadthalle, die eben noch Wohnzimmer war. Die von tanzenden
Menschen gerissenen Lücken schließen sich zur Bühne
hin. Letzte Handyfotos werden geschossen; der Hausmeister hat wie
üblich und übereifrig das Hallenlicht schon aktiviert.
Traurig verlässt man die Halle. Hofft, dass es nicht wieder
sechs Jahre dauern wird, um Pearl Jam zu erleben. Während sich
vor der Halle erste Grüppchen bilden, die schon diskutieren,
ob sie der Band nach Kroatien oder Griechenland folgen, dröhnt
aus der Kneipe gegenüber ein freudiges „Oh I, I, I’m
still alive“. Wir haben verstanden. Die Karawane zieht weiter.