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nmz-archiv
nmz 2006/11 | Seite 46
55. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Süße Versuchung Neue Musik
Klangspuren 2006 in Schwaz – Resümee einer Pilgerfahrt
ins Mekka der Moderne
„Jedes Klangspuren-Festival ist ein neues Abenteuer. Denn
wir entdecken Räume, Landschaften, musikalische Denkweisen,
die uns bislang nicht bekannt waren.“ Dieses Bekenntnis des
Teams, das alljährlich die Tiroler Veranstaltung organisiert
und konzipiert, dürften wohl auch die zahlreichen Besucher
des renommierten herbstlichen Schwazer Festivals für zeitgenössische
Musik unterschreiben. Auch nach dreizehn Jahren hat sich nichts
an der Lust am Experiment, an der großzügigen Vielfalt
des Programms – einer der Schwerpunkte in diesem Jahr galt
der Tschechischen Musik – mit jungen und etablierten Komponistinnen
und Komponisten, Nachwuchsensembles und renommierten Musikern geändert.
Vor allem aber sind die Klangspuren in ihrer Suche nach neuen Wegen
der Vermittlung zeitgenössischer Musik einzigartig und unvermindert
erfolgreich.
Pierre
Boulez in Schwaz: idealer Vermittler der Musik des 20. Jahrhunderts.
Foto: Klangspuren
Das eindrucksvollste Erlebnis auf den diesjährigen Klangspuren
war die Pilgerwanderung von Strass bis zum Stift Fiecht auf dem
Jakobsweg, der durch das Inntal führt. Zwölf Stunden in
Begleitung eines Jakobswegforschers abwechselnd Wandern und zeitgenössische
Musik hören – wie viele würden sich diese Anstrengung
zumuten? Dreißig Mitwanderer hatte man erhofft; weit über
sechzig Anmeldungen gingen ein, so dass man schließlich die
weiteren Anrufer bat, sie möchten doch bitte direkt in die
Kirchen kommen zu den Konzerten. Peter Lindenthal, renommierter
Jakobswegforscher und Buchautor, wies gleich zu Beginn darauf hin,
dass eine eintägige Massenwanderung eigentlich das Gegenteil
von Pilgerwandern darstellt und sich beim Wandern das Gefühl
des Pilgers als desjenigen, „der sich dem „Fremdsein
aussetzt“, eigentlich erst nach zwei bis drei Wochen individueller
Wanderschaft einstellt.
Wenn man jedoch den ganzen Tag als ein einziges großes Konzert
mit den Wanderungen als meditativen Pausen zwischen den einzelnen
Stationen betrachtete, ergaben sich sehr wohl neue Erfahrungen zwischen
Fremdheit und Vertrautheit zeitgenössischer Musik. Auch das
Gehen nahm man verändert wahr, wenn man in den Pausen dazwischen
nicht jausenkauend sinnierend in die Landschaft schaute, sondern
neue Kirchenräume sah, die Ohren aktivierte und neuen Klängen
nachspürte.
Dramaturgisch war der Tag sensibel komponiert, die Programme auf
die jeweiligen Kirchen abgestimmt: In der Jakobskirche Strass die
fragilen solistischen Vokalstücke „Mouthpieces“
der amerikanischen Komponistin Erin Gee, die mit ihrem Mund eine
unendliche Vielfalt leisester Hauchgeräusche, feinsten Vogelzwitscherns
oder Grillengezirpes produzierte und damit den Pilgern eine meditative
Stille mit auf den Weg gab.
In Rotholz dann die kleinere Besetzung des Lettischen Radiochores,
die mehrere dieser „Mouthpieces“ in Chorfassung wiedergab.
Fragmente aus alter Chortradition, Anklänge an tonale Akkorde
– immer wieder wurden verschiedene Epochen der Vokalmusik
schemenhaft, als ferne Echos einer vergangenen Zeit in einzelnen
Akkorden und Klängen heraufbeschworen. Dann wiederum klang
es, als würde aus einem unsichtbaren Nachbarraum fröhliches
Gewisper und Gelächter her-übertönen, eigenwillige
Kontrapunktik bestimmte das Geschehen, bevor in einem weiteren Stück
geheimnisvoll-rituelle Gesänge einer imaginären Prozession
erklangen.
In der Pfarrkirche Jenbach dann die interaktive Begegnung mit Kassian
Erharts Bewegungsklangschalen aus verschiedenen Materialien, auf
die man sich stellen und bei denen man mit der eigenen Körperbewegung
Kugeln im Innern in kreisende Bewegung versetzen konnte. So entstanden
glockenähnlich-dröhnende, obertonreiche Klänge, die
die Hörerschar zum ausgiebigen Ausprobieren verleiteten.
Auf dem Georgenberg wieder Chor, diesmal in großer Besetzung
mit vier Kompositionen, die an verschiedene Stile anknüpften.
Zunächst die archaische Ruhe von Pärts „I Am The
True Vine“, danach verstörend kitschig-bekenntnishaft
Felix Resch‘ „Horizentale Verschiebungen“. Der
junge Tscheche Miroslav Srnka zelebriert in seinem Uraufführungsstück
„Podvrhy“ die Schlichtheit formelartiger Gesänge,
während Günther Andergassens „Vokalisen“ stark
an die große englische Chormusik des 20. Jahrhunderts erinnerte.
Nach der Wanderung durch Dämmerung und Dunkelheit zur letzten
Station Stift Fiecht strahlte die Helligkeit der wunderschön
renovierten Kirche, und sich in der hervorragenden Akustik rein
und prachtvoll entfaltenden Klänge kontrastierten mit der zuvor
erlebten Wanderstille. Der Lettische Radiochor zeigte auch bei diesem
Programm, dass er zweifelsohne zu den weltweit besten Vokalensembles
für zeitgenössische Musik zählt, und bekam langanhaltende
Ovationen in der vollbesetzten Kirche. So durchsichtig und lupenrein
dürfte ein Chor das Licht in György Ligetis „Lux
aeterna“ selten leuchten lassen.
Die zarte Schönheit von Martin Smolkas „Walden, the
Distiller of Celestial Dews“ fand in diesem Raum einen ganz
anderen Nachhall als bei der Uraufführung vor sechs Jahren
in Donaueschingen. Die fein ziselierte Interpretation ließ
ahnen, dass dieses Werk später einmal zu den großen Klassikern
der Chorliteratur zählen könnte.
Auch die Uraufführung eines weiteren Werkes des tschechischen
Komponisten, eine Vertonung des Gedichts „Slone i smutne“
(„Salz und Trauer“) des polnischen Dichters Tadeusz
Rozewicz, zeugte von der Meisterschaft Smolkas, die Chorakkorde
so subtil zu setzen und die Resonanzräume der Vokale und Konsonanten
fernab jeglicher billiger Effekte so auszugestalten, dass eine poetische
Musik ohne Kitsch entsteht. Immer wieder intonieren die Frauenstimmen
klagend die Titelzeile, klingt das Summen des Chores, als würde
Wind über die Saite einer Harfe streichen. Die lettische Komponistin
Santa Ratniece lässt den Chor in „Saline“ fast
synthesizerartige Klänge intonieren, das Pfeifen des Windes,
das Raunen der Wälder in plastischer Bildlichkeit dazwischenfahren.
Ihr Landsmann Martin Vilums dagegen verleiht seiner „schimmernden
Zeit“ - „Le Temps scintille“ - durch raunende,
pulsierende Sprache und hintergründiges zartes Obertonklingen
eine drängende Intensität.
Im Eröffnungskonzert der Klangspuren zeigte auch das Tiroler
Symphonieorchester gewohnte Qualität – diesmal unter
der Leitung von Beat Furrer – und widmete sich dem provokanten
Stilgemisch in Smolkas „Remix, Redream, Reflight“ mit
gleicher Sorgfalt und dem gleichen Feingespür wie den zarten,
sirenenhaften Gesängen und dem fernen Meeresrauschen von Furrers
„Phaos“ und „canti nocturni“.
Ein großer Erfolg war die Zusammenarbeit mit dem Tiroler
Landestheater; erstmalig waren die Klangspuren im Großen Haus
zu Gast. Mit einem stringent gestalteten Programm – Schönberg,
Webern, Pintscher, Boulez und Berio – gelang es dem Altmeister
der neuen Musik, Pierre Boulez, den großen Theatersaal komplett
zu füllen und ein neugieriges, intensiv zuhörendes Publikum
zu finden.
Das Luzerne Festival Academy Orchestra und die dazugehörigen
Vocalists präsentierten das Schweizer Projekt der Nachwuchsförderung
und zeigten, wie durch die sorgfältige Auswahl der jungen Musiker
und Musikerinnen sowie der Dozenten im Bereich der zeitgenössischen
Musik hervorragende Leistungen bei der Erarbeitung von Klassikern
der Moderne wie neuerer Kompositionen erzielt werden können.
Boulez wirkt hier als der ideale Vermittler, um musikalische Entwicklungen
des 20. Jahrhunderts aufzuzeigen, wie sie von verschiedenen Komponisten
neu aufgegriffen und weitergeführt wurden.
Das Luzerne Festival Academy Orchestra brauchte zwar bei Schönbergs
2. Kammersinfonie zunächst etwas Zeit, um sich warm zu spielen.
Der Anfang klang etwas „buchstabiert“; spätestens
in der großangelegten Steigerung des zweiten Satzes zeigten
die jungen Musikerinnen und Musiker jedoch, dass sie unter Boulez
zu einem leistungsfähigen Klangkörper zusammengefunden
haben und auch feinere Abstufungen in der zwischen tonalen und nicht-mehr-tonalen
Klängen changierenden Musik ausloten können. Besonders
intensiv hatte man sich offenkundig auch der Erarbeitung der spröderen
Tonsprache von Boulez’ „Cummings ist der Dichter“
gewidmet, so dass die Rätselhaftigkeit des Werkes in vielfältigen
Klangnuancen ausgestaltet wurde.
Matthias Pintschers „Monumento V“ spannte schließlich
den Bogen zum ausgehenden 20. Jahrhundert. Die Instrumentalisten
zeigten bei den eruptiven Energieentladungen im Klang, dass ihnen
diese Tonsprache zeitlich näher steht als die „Klassiker
der Moderne“.
Begeisternd vor allem die Luzern Festival Vocalists: Hier waren
die Sängerinnen und Sänger eindeutig nicht nur nach ihren
solistischen Fähigkeiten ausgesucht worden, sondern auch daraufhin,
dass sie zu einem homogenen Klangbild zusammenpassten. Mit lupenreiner
Intonation in den extrem schwierig zu singenden Webern‘schen
Werken „Entflieht auf leichten Kähnen“ und „Das
Augenlicht“ ist die Projektgruppe gegenüber renommierten
alteingesessenen Vokalensembles auf höchstem Niveau konkurrenzfähig.
Neben den erfreulich treuen öffentlichen und privaten Unterstützern
der Klangspuren, zu denen vor allem die Kristallwelten Swarowski
zählen, hat sich heuer ein Sponsor der besonderen Art dazugesellt:
Die österreichische Schokoladenmanufaktur Zotter hat eine „Klangspuren-Schokolade“
kreiert, die mit Marc de Champagne gefüllt ist.
Mit dem Reinerlös aus dem Verkauf wird ein Kompositionsauftrag
für das nächste Festival finanziert. Zotter – mit
seinen oft innovativen, außergewöhnlichen Geschmacksrichtungen
und originellen Verpackungsmotiven eine Kultmarke für Freunde
gehobener Schokoladenkreationen – fand denn auch große
Begeisterung bei den Klangspuren-Besuchern. Bereits im ersten Konzert
war der Schokoladevorrat des Abends vor der Pause ausverkauft; und
auf dem Jakobsweg zählte der köstliche Riegel zweifelsohne
zum begehrtesten Wanderproviant. Steht nur zu hoffen, dass die so
finanzierte Komposition dasselbe Qualitätsniveau wie die Edelschokolade
erreichen wird und die für das Publikum so genussvolle Zusammenarbeit
zwischen den Klangspuren und Zotter noch viele Jahre weitergeführt
wird.