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nmz-archiv
nmz 2006/11 | Seite 56
55. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Die Kunst des Tarzanschreis
Die 6. Internationalen Stuttgarter Stimmtage
Auf den Einladungskarten zu den 6. Internationalen Stuttgarter
Stimmtagen (28. September bis 1. Oktober) prangte das Konterfei
von Johnny Weissmüller als Tarzan. Es ist das Bild, das jeder
kennt. Weißmüller alias Tarzan formt die Hände zum
Schalltrichter. Wer hörte dabei nicht schon im Geiste den berühmten
Tarzanschrei, diesen markerschütternden Ruf, der, seitdem er
das erste Mal zu hören war, der Moderne als Metapher für
den „Urlaut“ schlechthin gilt. Doch weit gefehlt. Tarzans
Schrei ist ein künstlerisch-kulturell geformtes phonetisches
Bild, von dem behauptet wird, es spiegle einen Urzustand von Stimme
und Kommunikation wider. Dass sich dahinter aber eine Menge Kultur
verbirgt, mithin das Spektrum unterschiedlicher Perspektiven auf
den Naturbegriff, darüber diskutierten Mediziner, Sprechwissenschaftler,
Logopäden, Pädagogen, Kulturwissenschaftler und Stimmkünstler
in diesem interdisziplinären Forum, welches sich das Thema
gegeben hatte: „Das Phänomen Stimme: Natur und Kunst
– Natürliche Anlage und kulturelle Formung“.
Das Fazit vorneweg: Eine „Naturstimme“ ist reine Fiktion.
Auch die berühmte Wagner-Heroine Martha Mödl, die immer
stolz war auf eben ihre „Naturstimme“, ist schlicht
einem diffusen Naturbegriff aufgesessen. Eine sängerische Ausbildung
im strengen Sinne hatte sie nicht, insofern hatte sie eine „Naturstimme“
mit allerlei Unwägbarkeiten, eine un-kultivierte Stimme besaß
die Mödl dennoch nicht.
Folgen wir deshalb besser Anja Silja. Ihre früh begonnene
und mittlerweile fast sechs Jahrzehnte dauernde Karriere ist das
Ergebnis intensiver Schulung. Festgehalten hat sie dies vor Jahren
in ihrer Autobiographie „Die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren.
Wege und Irrwege“ (1999).
Im Gespräch mit Jürgen Kesting und dem Phoniater Wolfram
Seidner (Berlin) formulierte sie nochmals ihre Regeln, die sich
Sänger hinter die Ohren schreiben sollten, so ihnen daran gelegen
ist, ihre Kunst so lange als möglich natürlich erscheinen
zu lassen. Im Alter von sechs Jahren begann Siljas Gesangsunterricht
bei ihrem Großvater. Mit ihm studierte sie immer eingedenk
der Maxime: „Der Ton und der Ausdruck entsteht durch das Wort.“
Nehmen wir die Erkenntnisse von Anja Silja mit in den Workshop „Freie
Improvisation & Extended Vocal Technics“ von Lauren Newton.
In gerade einmal 90 Minuten machte sie zwölf Kursteilnehmer
zu Grenzgängern in deren eigener Stimme.
Was bei Newton so einfach klingt, so „natürlich“
ist das Ergebnis einer präzise einstudierten Atemtechnik. Ohne
diese ließe es sich nicht so aufregend musikalisch glucksen,
girren, plärren, schreien, summen, auf Ton singen. Fazit: Die
Natur, die natürliche Anlage einer Stimme ist das Reservoir,
aus dem die Kunst schöpft.
Darüber berichtete anderntags Michael Fuchs mit Blick auf
die Entwicklungsfähigkeit der Kinderstimme. Fazit: Eine frühe
Schulung ist sinnvoll, vor allem mit Blick auf eine eventuelle Professionalisierung.
Anders formuliert – die Kunst und die Kultur müssen der
ersten Natur ein Schnippchen schlagen. Was dann klingt, ist Spiegelbild
der zweiten Natur. Wie extrem die-se geformt werden kann, stellte
Bernhard Richter in seinem Vortrag über den Kastratengesang
dar. Und wenn wir Thomas Kopfermann folgen, dann tun wir ohnehin
nichts anderes, als Paradigmen für Natur zu schaffen, Kunstfiguren
wie Tarzan, die den Regeln und Konventionen der jeweils herrschenden
Film- oder Bühnenästhetik unterliegen, deren Stimme also
keine im engeren Sinne von Natur gegebene ist, sondern historisch-soziale
Komponenten impliziert.
Zusammenfassend und mit Blick auf das Tagungsthema lässt sich
feststellen, dass das Natürliche der Stimme das Ergebnis von
Konventionen ist und somit von sozio-kulturellen Hintergründen
geprägt.