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nmz-archiv
nmz 2006/11 | Seite 43
55. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Gute künstlerische Perspektiven, Europa schläft
Warschauer Herbst und deutsch-polnische Musiktagung · Ein
Bericht von Reinhard Schulz
Das Musikfestival „Warschauer Herbst“ definiert sich
schon seit Jahren neu. Man will nicht mehr bloß Drehscheibe
zwischen Ost und West sein, sondern selbst die Diskussion mitgestalten
und befruchten. Und der Blick auf die polnischen Positionen der
letzten gut 50 Jahre gibt hierfür reichlich Rückhalt.
Wenn zum Beispiel der 1929 geborene Boguslaw Schaeffer meint, dass
er in seinen frühen Arbeiten die meisten relevanten Techniken
der Avantgarde vorweggenommen habe, so möchte man ihm angesichts
seiner jetzt wieder zu Gehör gebrachten, 1953 geschrieben Musik
für Streichorchester (mit Clustern, Glissandi oder Obertonstrukturen)
durchaus Recht geben. Und kaum ein anderes Land hat sich 30 Jahre
später so sehr in den Wohlklängen der Postmoderne gesuhlt
wie Polen – und dabei im eigenen Lande die heftigsten Reaktionen
der Altavantgarde und des elektronischen Lagers hervorgerufen.
Der 49. Warschauer Herbst präsentierte sich als Nabelschau.
Dass es keine beschränkte Eitelkeit ist, bewies zum Beispiel
ein ganzer Tag mit polnischen Streichquartetten: Werke von Bacewicz,
Lutoslawski, Penderecki, Gorecki bis hin zu Knittel, Wielecki und
vielen anderen blätterten ein Spektrum ästhetischer und
technischer Ansätze auf, das kaum weiter zu denken wäre:
Stücke, die vielleicht mit beiden Beinen im Vergangenen oder
in der Zukunft stehen, zu schwanken beginnen und dazu beitragen,
dass die Begriffe von Fortschritt und Restauration selbst in Schräglage
kommen. Und die Debatte wurde zugespitzt in einem beachtlichen Konzert,
in dem alte polnische Volksmusik mit ihren fremden Skalen und mikrotonalen
Abschweifungen konfrontiert wurde mit Elektronik oder extremen,
halbimprovisatorischen Strukturen, die auf das Volksgut mit kühnen
Wendungen reagierten. Positiv aufgefallen war auch dieses Jahr das
Konzert des vom Deutschen Musikrat initiierten deutsch-polnischen
Jugendorchesters unter Rüdiger Bohn mit Uraufführungen
des Ukrainers Alexander Shchetynsky und der Polin Joanna Wozny und
weiteren Arbeiten von Enno Poppe, Vykintas Baltakas und Bernd Alois
Zimmermann.
Ein schönes, vor allem interpretatorisch beachtliches Beispiel
von Zusammenarbeit. In diesem perspektivischen Überblick des
kompositorischen Standes durften natürlich auch musikdramatische
Ansätze nicht fehlen. Wo steht das Musiktheater oder die Oper
heute, wo gibt es Perspektiven? Dazu wurden eine Doppeloper im Science-fiction-Ambiente
und ein fast operettenhaft leichtes Stück von Zygmunt Krauze
(Jahrgang 1938) aufgeboten: gewiss auch mit Blick darauf, dass die
Oper der großen Gefühle mit heutigen Mitteln kaum mehr
zu realisieren ist und wohl ausgedient hat. Der Sidestep ins Leichtere
war durchaus als richtungweisend gedacht. Nicht dass das unbedingt
funktioniert hätte! Immerhin: „Die Zerstörung von
Moskau ist keine Lösung“, das ist schon mal ein schöner
Operntitel. Und auch der junge russische Komponist Sergej Newski
(Jahrgang 1972) hat in den letzten Jahren immer wieder mit interessanten
Kompositionen auf sich aufmerksam gemacht. Aber dieses Projekt ging
gründlich schief. Gekoppelt war es mit der Tandem-Oper „Scream
You“ der noch nicht 30-jährigen polnischen Komponistin
Aleksandra Gryka. Worum geht es? Geplant beziehungsweise zum Teil
verwirklicht ist eine u Opern-Saga in sechs Folgen (Autor: Tobias
Dusche, jede Folge ein neuer Komponist), die zu drei Staffeln zusammengefasst
werden. Es sind Folgen von Raumschiff-Abenteuern mit dem Gefährt
„La Fenice“, dem Kommander Kobayashi und weiteren vier
Hermenauten. Sie stürzen durchs All, langweilen sich, sind
verwirrt von den Anleitungen Kobayashis, der keinen vernünftigen
Satz über die Lippen bringt und damit für die Kryptik
des Geschehens der absolut Geeignete ist. In Staffel zwei rast das
Raumschiff über Moskau und Warschau und die Mann/Frauschaft
wird von den irritierenden Kraftfeldern dieser unheimlichen Orte
in Beschlag genommen. In Moskau sind es merkwürdige Veränderungswellen,
die alles bestimmen (auch die erkundenden Hermenauten) aber letztendlich
an alte Leinen gelegt werden. Und in Warschau treibt ein Zwillingspärchen
sein Unwesen, infiziert Viren, die lösende Schreie evozieren.
Alle verändern sich, doch nach dem Rausch folgt ein altvertrauter
Kater.
Während Newski mit diesem Sujet kaum etwas anfangen konnte
und nicht gewillt war, sich auf die Albernheiten des Plots einzulassen
– seine Musik klang fast wie die Verweigerung von Musik –,
fand Aleksandra Gryka mit heulenden Glissandostrukturen, exaltierten
Koloraturen und schmatzenden Virusinfektionen durchaus das passende
Klangambiente. Hier bekam man einen Eindruck, was vom geplanten
Opern-Sixpack erwarten könnte. Doch derzeit befindet man sich
hauptseitig auf ästhetischer Warteschleife.
Dass es ganz ohne solch schwitzende Wuchtungen gehen kann, bewies
hingegen Zygmunt Krauzes leichtfüßiges Stück „Yvonne,
Prinzessin von Burgund“ nach einem surreal jugendforschen
Text von Witold Gombrowicz. Krauze, vielleicht einer der auch gesellschaftlich
wendigsten Komponisten Polens, hat hier mit ganz wenigen, aber passgenau
gesetzten musikalischen Strichen die Groteske um ein auf- bzw. abgetakeltes
Königs/Adelsgeschlecht gezeichnet, dessen Dekadenz und Intriganz
sich an der wortlosen Prinzessin Yvonne spiegelt. Man sucht dieses
schlechte Gewissen, das Yvonne darstellt, umzubringen, aber Yvonne
stirbt, als letztes Abendmahl inszeniert (Marek Weiss-Grzenski),
ganz unspektakulär an einer Fischgräte. Die Musik kommt
mit wenigen Unisono-Wendungen aus, zitiert schräg aus Unterhaltungstänzen,
und erfasst dabei haarscharf die kritische Schärfe des Textes.
Hier war ein Weg angedeutet, wie Musiktheater ohne schwarzes Pathos,
ohne falsche Gewichte zu gestalten wäre. Standortbestimmungen
dieser Art suchte der Warschauer Herbst in diesem Jahr, vor dem
groß geplanten 50. Geburtstag im nächsten, aufzuzeigen.
Dass neue Musik lebt und auch gesellschaftliche Marksteine zu setzen
weiß, steht also außer Frage. Dass aber angesichts der
neuen Aufgaben, die sich der Kultur angesichts eines europäischen
Zusammenwachsens stellen, eine ähnliche Aufbruchsmentalität
herrscht, lässt sich weit weniger dingfest machen. Seit sechs
Jahren trifft sich nun der Deutsche Musikrat zur Zeit des Warschauer
Herbstes gewissermaßen vor Ort mit parallelen polnischen Organisationen,
um auf der einen Seite deutsch-polnische Akzente zu setzen, die
auf der anderen Seite auch als Beispiel oder Initial für gesamteuropäische
Aktivitäten fungieren könnten. Eines ist klar: Die Kultur
wird von den europäischen Gremien sträflich vernachlässigt.
Die Wirtschaft mit ihren vereinheitlichenden juristischen Regelwerken
dominiert hier fast alles, allenfalls flankiert von Sicherheits-
und Verteidigungsüberlegungen, die Kultur kippt demgegenüber
hinten weg und man belässt sie gerne auf nationaler oder regionaler
Ebene. Ratlos steht man Tendenzen der Europa-Verdrossenheit gegenüber,
ohne zu erkennen, dass gerade hier die Kultur als wirksamer und
perspektivenreicher Hebel fungieren könnte.
Das freilich haben die deutschen und polnischen Kultur- und Musikorganisationen
durchaus erkannt. Und die Aktivitäten des Deutschen Musikrats
zusammen mit dem Polnischen Komponistenverband und anderen polnischen
Musikorganisationen (eine direkte Verbands-Parallelität existiert
nicht) können durchaus eine gewisse Vorreiterrolle für
sich beanspruchen. Manches wurde auch in die Wege geleitet, zum
Beispiel Begegnungen auf unteren Ebenen zwischen deutschen Ländern
und polnischen Woiwodschaften (als Brücke fungieren deutsche
Landesmusikräte und auf polnischer Seite die Marschallämter).
Zu nennen wären des Weiteren die schon erwähnte, sehr
verdienstvolle Gründung eines inzwischen florierenden deutsch-polnischen
Jugendorchesters, sowie die Installation eines Internet-Portals,
die Deutsch-Polnische Musikbörse (bislang zweisprachig, die
deutsche Adresse ist www.deutsch-polnische-musikboerse.de). Diese
Plattform, die den Austausch von Informationen in Sachen musikalischer
Zusammenarbeit maßgeblich erleichtert, soll als Keimzelle
einer gesamteuropäischen Austauschbörse fungieren, Frankreich
zum Beispiel hat schon Interesse angemeldet.
Doch vieles verläuft hier zäh. Für dieses Jahr sollte
ein Europäisches Kultursignal (zur EU-Kulturförderung
2007 bis 2013) mit grundsätzlichen Forderungen erarbeitet werden,
das Angela Merkel zur beginnenden Ratspräsidentschaft im Januar
2007 überreicht werden soll. Letztlich konnte man sich nur
mit Mühe auf ein recht reduziertes und allgemein gehaltenes
Papier einigen, in dem konkrete Forderungen nur sehr pauschal (mehr
Mittel für Kultur, Transparenz, Abbau von bürokratischen
Hindernissen etc.) genannt sind. Die konkrete Formulierung wurde
weiteren Arbeitssitzungen überantwortet, es steht zu hoffen,
dass hier die Substanz noch angehoben werden kann.
Wie dringlich freilich hier greifende Maßnahmen erforderlich
sind, legte sehr anschaulich Hans Herwig Geyer von der GEMA in seinem
Vortrag „Zum Verfahren der Generaldirektion Wettbewerb gegen
GEMA, ZAiks und europäische Schwestergesellschaften“
dar. Er wies nach, wie fatal es seitens der EU ist, die Verwertungsgesellschaften
einzig als konkurrierende Anbieter zu sehen und dabei nicht zu beachten,
dass die nationalen Organisationen auch als Interessenvertreter
der Komponisten im eigenen Land fungieren. Mittels des gut funktionierenden
Systems der Gegenseitigkeitsverträge werden sowohl kulturelle
Vielfalt als auch die Interessen von Musikschaffenden in Randbereichen
oder auch in kleineren Ländern fundamental gestützt. Würden
aber die Verwertungsgesellschaften einzig als Anbieter gesehen und
kurzsichtig nach den Kriterien des günstigsten Angebots beurteilt,
dann wäre eine Einebnung der kulturellen Reichhaltigkeit und
der Schutz von gerade auf dem Gebiet der Kunst so fruchtbaren Minderheiten
aufs Äußerste gefährdet.
Dieser Vortrag legte eindringlich dar, dass ein gemeinsames europäisches
Vorgehen der Kulturschaffenden dringend auf der Tagesordnung steht,
sollen nicht Breite des Angebots und Individualität in der
Mühlen der EU-Beamten unter den hier falschen Vorzeichen des
offenen Wettbewerbs geopfert werden. An dieser bürokratischen
Front also ist noch viel zu tun, die künstlerischen Aktivitäten
schreiten demgegenüber, wie wohl immer, mit kreativen Konzepten
voran.