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nmz-archiv
nmz 2006/11 | Seite 10
55. Jahrgang | November
Cluster
Steif
Der Orchesterausschuss des Deutschen Bühnenvereins hat Angst,
dass die Konzertsäle zu Musikmuseen verkommen, und fordert,
dass mehr zeitgenössische Musik gespielt werden müsse.
Aber nicht „Pink“ oder „DJ Daddel“ sondern
eben richtige zeitgenössische Musik, so mit Orchester im Graben
oder auf der Bühne. Da aber das heutige Publikum die Sprache
der zeitgenössischen Musik nicht verstehe, anders als bei der
Alten Musik, müsse man zu Präsentationsformen finden,
„jenseits von Frack und steifem Ambiente“, wie es in
der Pressemeldung heißt. Bei der alten Musik ist das ja offensichtlich
nicht nötig, denn da gehört Frack und steifes Ambiente
zum guten Ton. Wissen wir doch alle. Aber der Vorschlag sitzt und
hat ein eifriges Echo bekommen – sogar vorauseilend.
Der Deutsche Musikrat zeigt sich auch unsteif und hat ein Blog
für seine Mitgliederversammlung einrichten lassen. Ein paar
Mitglieder von den acht Millionen kann man dann auch auf einem Foto
dort sehen. So wurde unsteif präsentiert, was in Wirklichkeit
an Steife kaum zu übertreffen gewesen wäre: ein frackloses
Gespräch mit Politikern und die Übergabe einer unsteifen
Resolution zum Laienmusizieren. Ein One-Day-Stand, dieses Blog,
denn den zweiten unsteifen Tag der Mitgliederversammlung hat man
erst gar nicht gebloggt (http://musikrat.nmz.de/).
Unsteif und sehr geschmeidig zeigte sich auch die Intendantin der
Deutschen Oper Berlin, als sie verkündete, man werde auf Grund
irgendwelcher potentieller Drohungen von weiteren Aufführungen
der Oper „Idomeneo“ absehen. Gutmeinende vermuteten,
es handle sich um einen der modernsten Marketing-Gags der Opernnachkriegsgeschichte.
Das nennt man dann fracklos-unsteife Präsentationsformen. Plötzlich
redete man wieder von der Deutschen Oper Berlin, sogar in der Tagesschau
und bei Jauchs Stern TV. Raffiniert: So kann der Fokus auf eine
Inszenierung der Intendantin selbst fallen, das Stück „Germania“
– die andernfalls kaum jemand bemerkt hätte. Trick 17
aus der Klamottenkiste der PR.
Übrigens: Einer der größten Sprengmeister von Opernhäusern
darf immer noch ohne Leibesvisitation ans Pult treten: Pierre Boulez,
im Anzug und völlig steif sogar – Einreise- und Berufsverbot
wären nur konsequent, meint