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nmz-archiv
nmz 2006/11 | Seite 15
55. Jahrgang | November
Gegengift
Kulturkämpfe, Staatsaktionen
Die Fronten verkehren sich – und in den Köpfen geht
es drunter und drüber. In Berlin wird eine „Idomeneo“-Inszenierung
abgesetzt: aufgrund einer Ferndiagnose vom Hörensagen des LKA.
Und prompt setzen sich die konservativen Kulturverteidiger und Werktreue-Freaks
in Szene, die jahrzehntelang jedes barbusige Gretchen mit empörtem
Gezeter begleiteten, und werfen sich für einen Alt-Heroen des
Regie-Theaters wie Hans Neuenfels in die Bresche, wenn der als schöne
Schluss-Coda mal eben den gründlich geköpften Propheten
Mohammed vorführt. Die Freiheit der Kunst, die eben noch durch
Regie-Berserker à la Neuenfels bedroht schien, muss jetzt
um jeden Preis verteidigt werden. Die Frontlinie des neuesten Kulturkampfs
verläuft auf der Opernbühne, komisch, deutsch oder wie
auch immer. Und Polizeihundertschaften stören in diesen Zeiten
den Kunstgenuss keineswegs; man fühlt sich beschützt und
doch heroisch.
Gute Zeiten also für Kultur? Macht die kalte Frontluft die
Hirne rein und klar, verschwinden vor den größeren Horizonten
Zensurwünsche aller Art? Das nun auch wieder nicht. In Regensburg
wurde beim Papstbesuch ein Mann, der sich nicht umstandslos in die
Masse der Jubler einreihen wollte, sondern dem Ehrenbürger
der Stadt, Joseph Ratzinger, lieber den Effenberg‘schen „Stinkefinger“
zeigte, prompt und brachial von Polizisten abgeführt. Gefahr
in Verzug? Notwendige öffentliche Hygiene? Karl Valentin plädierte
einst in derlei Fällen für Aufregungs-Abrüstung.
Sein Vorschlag: So etwas ignorieren wir nicht einmal. Aber mittlerweile
scheint Hysterie Bürgerpflicht und die Bibel wird auf den Kopf
gestellt: Warum sich mit dem Balken im eigenen Auge beschäftigen,
wenn man sich über den Splitter im Auge des anderen so wunderbar
erregen kann? Sind Splitter denn nicht gefährlicher als Balken?
Und ist es nicht endlich an der Zeit zu sagen, wie es ist: dass
man selbst im Recht ist und die andere Seite, a priori und per definitionem,
im Unrecht?!
Die westliche Wertegemeinschaft hat in diesen harten Zeiten längst
die Fähigkeit zur Selbstironie und Äquidistanz verloren,
mehr jedenfalls als der viel geschmähte persische Gottseibeiuns
Ahmadineschad. Der wollte uns seine Empfindlichkeiten verständlich
machen, indem er die dänischen Mohammed-Karikaturen mit seiner
Einladung zu einem Holocaust-Karikaturen-Wettstreit konterte. Der
Adressat aber verstand die Botschaft nicht – „seht her,
auch für euch gibt es Dinge, über die ihr nicht lachen
könnt“ – und reagierte mit gesteigerter Empörung.
Ahmadineschads Regietheater-Einfall verletzte offenbar den neusten
Kunstfreiheits-Sinn. Nur gut, dass es Kunst- und Kulturereignisse
gibt, auf die sich alle einigen können. Die Entscheidung für
den türkischen Autor Orhan Pamuk beim diesjährigen Literaturnobelpreisträger-Contest
fand ungeteilte Zustimmung; jedenfalls in den deutschen Feuilletons.
Warum? Weil Orhan Pamuk das schon ist, was alle Orientalen erst
noch werden sollen: ein „Westler“. Einer, der unsere
Kultur besser versteht (und folglich auch besser findet) als die
eigene. Der „Brückenschlag“, für den er gerühmt
wird, fängt irgendwo an, aber er endet in unseren Hirnen und
Herzen und bei unseren Normen und Werten. Die sind, was wir schon
länger wissen und was die anderen endlich einsehen sollen,
die besseren. Nicht die besseren für uns, sondern überhaupt
die besseren. 656.000 tote Iraker sind bis jetzt die Folge des amerikanischen
Befreiungsfeldzugs gegen das böse Saddam-Regime, konnte man
kürzlich in der „Süddeutschen“ lesen. So viele
konnte Saddam beim bösesten Willen nicht foltern und töten.
Vor allem, da man auf den hinteren Seiten der Gazetten lesen kann,
dass selbst die Foltertechniken im neuen Irak verglichen mit denen
Saddams Fortschritte gemacht haben: So gut, soll heißen: so
böse wie jetzt wurde noch nie gefoltert. Aber solche Einwände
klingen beckmesserisch, ja vor und nach allen Tatsachen unakzeptabel.
So unakzeptabel wie die freien Wahlen in Palästina, die dummerweise
ohne alle Fälschungen die Hamas an die Regierung brachten.
Und so unakzeptabel wie der Richter im Saddam-Prozess, der in einem
schwachen Moment behauptet hatte, Saddam sei kein Diktator gewesen
– und prompt ausgewechselt wurde, wegen der Unabhängigkeit
des Gerichts, die durch so etwas bedroht ist. Beim derzeitigen Kulturkampf
und dem globalisierten Staatstheater braucht es viel Fingerspitzengefühl.
Nicht jeder Einfall ist ein guter Einfall. Und selbst die universellste
Moral sollte hinreichend parteiisch sein. Wer wen, brachte Lenin
einst die Fairness-Regeln im Klassenkampf auf den Begriff.