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nmz-archiv
nmz 2006/11 | Seite 3
55. Jahrgang | November
Magazin
Bei schwierigen Kindern in die Lehre gehen
Gespräch mit dem Komponisten Hans-Joachim Hespos über
seine Oper „iOpal“ und die Arbeit an der Schule
Die Oper „iOpal“ des Komponisten Hans-Joachim Hespos
wurde von der Zeitschrift „Opernwelt“ zur Opern-Uraufführung
des Jahres ernannt. Neben seiner Komponistentätigkeit hat Hespos
20 Jahre als „universal dilettantischer Pauker“ an Hauptschulen
in Norddeutschland unterrichtet und darüber hinaus in einigen
Projekten mit Schülern und Laien musikszenische Aufführungen
initiiert. In einem Restaurant im Hauptbahnhof Bremen führte
Tobias Daniel Reiser mit ihm ein entspanntes Gespräch über
Musikunterricht, Musikpädagogik, Musikdidaktik und zeitgenössische
Musik an Schulen.
Hans-Joachim
Hespos: keine Angst vor zeitgenössischer Musik in der
Schule. Foto: Andreas Nistler
neue musikzeitung: Was bedeutet Musikpädagogik
oder Musikdidaktik für Sie? Hans-Joachim Hespos: Ganz einfach: Es geht darum,
Kinder, Jugendliche, Erwachsene, je nachdem, wen man vor sich hat,
zu verlebendigen, zu schocken, zu kitzeln, zu kneifen, neugierig
zu machen, damit die Erfindungskanäle wieder gangbar gemacht
werden. Es geht darum, Leute zu verlebendigen, damit sie Ideen bekommen.
So lange muss man sie triezen, auf die unterschiedlichste freundliche
oder weniger freundliche Art.
nmz: Würden Sie das auch als Lernziel beschreiben? Hespos: Das ist das oberste Lernziel! Ob es nun
an Wagner festgemacht wird, an den Beatles, den Rolling Stones oder
an irgendeiner Salsageschichte, das ist völlig schnurz.
nmz: Es geht also ums Verlebendigen, darum, dass
die Schüler wachwerden? Hespos: Und darum, dass sie Ideen bekommen. Auf
einmal sieht die Welt bunt aus, und dann kann ich mich mit ihr auseinandersetzen,
dann akzeptiere ich auf einmal, was in Mexiko los ist, in Afrika,
bei den Aborigines in Australien oder was im Mittelalter los war.
nmz: Wie sehen Sie das Verhältnis von allgemeinen
und musikbezogenen Erziehungszielen? Hespos: Es ist dasselbe, absolut dasselbe! Noch
viel wichtiger als Musik an allen Schulen ist Theater, damit die
Leute ihre Probleme spielen. Damit sie endlich wissen, was ihnen
quersteckt, und damit sie das in den Griff bekommen und ausleben.
nmz: Welche Formen von Theater würden Sie
bevorzugen? Hespos: Das kann man allgemein nicht sagen. Das
ist ja der große Unsinn von Didaktikern und Methodikern, dass
die alle wissen, wie es geht. Ich kann es nur wissen, wenn ich vor
der Klasse stehe und weiß, was für Typen ich da habe,
welche Schniefies, welche Probleme. Dann kann ich festlegen, ob
ich eine Woche lang Erdkunde mache, Heimatkunde, eine Woche lang
Sport betreibe. Das heißt, für mich sind diese Disziplinen,
die Fächer, immer nur das Medium, um an Maria und Axel heranzukommen,
ihnen die Chance zu geben, sich selbst zu erkennen – und ihnen
über dieses Medium die Möglichkeit zu geben, das zu gestalten.
nmz: Sie haben lange Jahre unterrichtet, aber
bewusst nie Musik. Warum? Hespos: Das hat private Gründe. Ich bin Musiker,
ich bin Komponist. Und wenn ich morgens um 8 Uhr schon anfange,
Musik zu unterrichten, dann wird da mittags, wenn ich am eigenen
Notenblatt sitze, nichts mehr daraus, dann bin ich nämlich
müde. Für die eigene schöpferische Arbeit muss man
sehr frisch sein. Wenn ich mich aber schon vorher in dem Ressort
müde gelaufen habe, dann geht das nicht.
nmz: Welche Erwartungen und Wünsche haben
Sie an Musiklehrer an allgemeinbildenden Schulen? Hespos: Ganz prosaisch gesagt: Sie mögen bitte
bei den schwierigsten Kindern in die Lehre gehen (lacht).
nmz: Wie sehen Sie das Verhältnis von Musiktheorie
und praktischen Bereichen des Musikunterrichtes? Hespos: Auch das kann man nicht allgemein sagen.
Ich hatte zum Beispiel in meinem Projekt „SCALA“ (eine
musikszenische Arbeit mit einer gymnasialen Oberstufenklasse Musik
Leistungskurs; Anm. d. Verf.) eine ganz widerborstige Schülerin,
die aus sehr schwierigen Verhältnissen kam, die aber hervorragend
Saxophon spielte, wunderbar improvisierte und kaum Noten lesen konnte.
Sie wollte Saxophonistin werden und hat sich in dem gesamten Arbeitsprozess
querulant und unintegrativ, aber mit großem Reiz und großem
Charme verhalten. Sie war eine ganz wichtige Person im gesam-ten
Team, weil sie außerhalb stand.
Daran sehen Sie: Man kann nicht ins Blaue hinein planen, man muss
die Gegebenheiten nehmen und sich daraufhin etwas einfallen lassen.
Mit dieser Person bin ich das ein und andere Mal ins sehr intensive
Gespräch gegangen. Da kann man deutlich machen, dass ein gewisses
Grundhandwerk zu erlernen ist. Außerdem gehören neue
Blastechniken dazu, die Art und Weise, wie man sich auf der Bühne
bewegt. Und man muss Noten lesen können. Ich will ja schließlich
auch sehen, was andere Leute gemacht haben. Ich habe meinen Studenten
immer empfohlen: Trainiere dich, trimm dich, mach dich. Aber bitte
vergiss alles, was du kannst, wenn du anfängst, Musik zu schreiben.
Ich habe ganz bewusst gesagt: „Vergiss‘, was du kannst,
und mach‘ nicht, was du kannst. Denn das ist langweilig, das
kannst du ja schon.“ (lacht) Man muss seinen Beethoven, seinen
Schumann und seinen Bartók und so weiter natürlich kennen.
Aber nicht im Sinne einer komplexen Wissenschaftlichkeit, einer
Vollständigkeit oder einer Zitierbarkeit in Form eines herumtragbaren
Wissens, sondern eher als diese lückenhafte Unruhe.
nmz: Sehen Sie Musik auch als soziale Kunst, sozialen
Lernbereich an oder welche Rolle spielt Soziales in der Musik? Hespos: Das Soziale ist etwas ganz Entscheidendes
in der Musik. Wir kennen es aus dem Jazz. Darum schreibe ich stets
komplexe Partituren, die jeder Musiker bekommt. Alle müssen
am Gesamtprozess beteiligt sein und zwar arbeitsgemeinschaftlich.
Dazu brauchen sie die gesamte Information in Form der Spielpartituren.
Wir müssen uns, auch wenn wir nicht musizieren, weiter kennenlernen,
weil wir als Team eine besondere Kraft entwickeln wollen, die für
die Aufführung sehr wichtig ist. Das ist die soziale Komponente
mit der Zielsetzung, dass etwas Interessantes daraus wird.
nmz: Dann geht es nicht darum, eine glückliche
Gemeinschaft zu sein, sondern alle Reibungen gehören mit dazu? Hespos: Absolut. Der ganze Schweinkram und die
ganze Sauerei, die wir als Menschen herumtransportieren, die kommt
mit auf den Tisch und damit muss man umgehen können. Das ist
für mich natürlich ein gewisser Vorteil, weil ich diesen
Krempel aus der Hauptschule kenne. Als Komponist müsste man
vielleicht noch Organist sein, um mit den akustischen Phänomenen
wirklich direkt in Kontakt zu kommen, und man muss als Komponist
Hauptschullehrer sein, in den Tiefen des menschlichen Drecks herumgewühlt
haben. Dann fängt das Leben erst richtig an, Spaß zu
machen (lacht).
nmz: Spielt Didaktik für Sie eine wichtige
Rolle in der Vermittlung von Musik? Hespos: Nein, weil die Didaktik von theoretischen
Überlegungen und von Absichten her kommt. Das ist zu wenig,
man muss es auch immer wieder selbst machen. Man muss nicht Didaktik,
sondern Werkstatt reinbringen, Menschenwerkstatt, Arbeitswerkstatt
und Themenwerkstatt. Die Leute müssen selbst etwas tun. Wer
als Lehrer selber arbeitet, tut mir leid. Die Schüler müssen
arbeiten (lacht).
nmz: Wieviel selbstbestimmtes Lernen würden
Sie einräumen? Hespos: 99,9 Prozent (lacht).
nmz: Und die restlichen 0,1 Prozent? Hespos: Das sind Anregungen, Schwierigkeiten und
so weiter. Man muss Korrekturen geben, Nein sagen, aufmerksam machen,
stoppen, berichten: „Warum hast du den in der Klasse angespuckt?“
und all so ein Kram. Auch Gewalt in der Schule und Asozialitäten
sind Dinge, die wichtiger sind als drei mal sieben oder Konjugation
oder irgendwelcher anderer Schwachsinn.
nmz: Das bedeutet, dass der Lehrer vor allem
im sozialen Bereich eingreifen sollte? Hespos: Ja, er muss sozusagen das Leben in die
Schule mit hineinbringen und das Leben, so wie es erscheint, sehr
wichtig und ernst nehmen und zum Unterrichtsgegenstand machen. Das
kann ich ja jederzeit mit allen Schulfächern verbinden.
Wenn aber ein Lehrer mit seinen persönlichen Dingen nicht fertig
ist, dann kann er auch den Schülern nicht helfen.
nmz: Würden Sie zeitgenössische Musik
in der Schule einsetzen? Hespos: Das ist natürlich überhaupt kein
Thema. Es gab eine schlimme Komposition von mir, das war das Flaggstück
meiner ersten Schallplatte „Palimpsest“. „Viehisch
gebrüllt, brutal gesteigert“, heißt es in der Partitur.
Das war der Schrei der 70er-Jahre mit Joan Carroll (Gesang) und
Siegfried Fink (Schlagzeug). Mit diesem Ding bin ich im ersten Schuljahr
aufgetreten. Das habe ich den Leuten von der Platte untergejubelt
und ihnen gesagt – weil Aufmerksamkeit über so lange
Zeit ein Problem ist –, sie dürfen während des Hörens
etwas malen, damit sie ruhig sind. Sie haben das wunderbar gemacht.
Ich liebe es ja unvorbereitet und dann deftig heftig. Wenn ich also
viel erkläre und mich entschuldige, dass ich da bin, dann habe
ich Pech gehabt. Aus! Dann bin ich ein Fall für den Psychiater,
aber wir sind ja das Gegenteil. Wir schreiben ja Partituren. Insofern
hat der Psychiater keine Chance. Der ganze Mist kommt ja in die
Partitur. Und das kriegen die Zeitgenossen frisch, rechts und links
um die Ohren (lacht). Es kommt darauf an, wie man all das präsentiert.
Möglichst unvorbereitet und baff, aber hochkonzentriert. Hinterher
muss man natürlich in der Lage sein, in Gesprächen die
Tränen, die Unfälle, die Exkremente und so weiter aufzufangen.
Das gehört ja mit zu diesem Planeten. Es ist Wirklichkeit auf
dieser Erde, es ist also da. Jetzt muss ich mich nur vernünftig
darüber unterhalten. Und nicht wie der Zoobesucher bei Tucholsky,
der eines Tages ein Dromedar sieht, so ein Ding mit zwei Höckern,
staunt und sagt: „Das ist nicht wahr.“ (lacht)
nmz: Wie unterscheidet sich die Arbeit mit einem
Opernensemble von der mit einer Klasse? Hespos: Ein Opernensemble ist ungleich und hoffnungsloser
versaut: von Vorurteilen, von „kann ich, weiß ich, haben
wir alles schon gemacht und ist überhaupt nichts Neues“
bis hin zur nicht mehr zu überbietenden Trägheit, Faulheit
und ähnlichen Geschichten.
nmz: Sehen Sie einen Unterschied in der Art und Weise des Herangehens?
Hespos: Nein. Die Erwachsenen in dieser Formation sind, wie ich
es vorhin schon beschrieben habe, nur das 36. oder 37. Schuljahr.
Sie sind auch nur hilflose Menschen, die ein bisschen größer
geworden sind. Die meisten werden ja nicht erwachsen, die meisten
werden ja nur groß, oder älter (lacht).
nmz: Heißt das, dass die Erfahrungen, die
Sie als Lehrer gesammelt haben, Ihnen bei der Arbeit mit professionellen
Ensembles von Nutzen waren? Hespos: Absolut, absolut. Man kann mich nicht beleidigen,
man kann auf mich zukommen, man kann machen, was man will. Ich habe
allerdings das Ziel im Auge und da wollen wir hin, und da kommen
wir auch hin. Früher oder später (lacht).
nmz: Würden Sie ihre neue Oper „iOpal“
mit Schülern machen? Hespos: Ich würde gar nicht mal mit „iOpal“
anfangen, sondern eher einen Jahrmarkt besuchen. Irgendetwas, wo
auf engem Raum die unterschiedlichsten Dinge stattfinden: Vorne,
hinten, unten, oben, schnell, langsam, laut und leise. Und dann
kann man den Schritt in diesen Kunstjahrmarkt machen. „iOpal“
ist auch ein Jahrmarkt. Man weiß nie, was passiert. Und es
passieren in dieser Inszenierung mit Johannes Harneit und Anna Viebrock
allerlei Dinge, die man normalerweise im Opernhaus nicht erwartet.