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nmz-archiv
nmz 2006/11 | Seite 16
55. Jahrgang | November
Musikwirtschaft
Synthetische Stradivari: die Tiefen tragen die Höhen
Klangarchitekten aus dem Erzgebirge präsentieren ihre Artesono-Geige
in den USA
Jährlich am 3. Oktober lädt die Deutsche Botschaft in
Washington zwei- bis dreitausend Gäste – vorwiegend amerikanische
Geschäftsleute – in ihre Residenz auf den Hügeln
am Rande der amerikanischen Hauptstadt, um mit ihnen gemeinsam den
„Day of German Unity“ zu feiern. Und jedes Jahr kommt
einem anderen Bundesland die Aufgabe zu, dieses opulente Fest auszurichten.
Unter dem Motto „Baroque Meets High Tech“ war in diesem
Jahr der Freistaat Sachsen an der Reihe.
Andreas
Winkler spielt J.S. Bachs „Allemande“ aus der
2. Suite für Violine solo auf der Artesono Geige. Foto:
Barbara Lieberwirth
Neben der Präsentation sächsischen traditionellen Handwerks,
von der Stollenbäckerei bis zur Erzgebirgsschnitzerei, sollten
High-Tech-Unternehmen und innovative sächsische Erfindungen
das Interesse der amerikanischen Besucher wecken, nicht zuletzt
mit dem Zweck, Investoren in das ostdeutsche Bundesland zu locken.
Sächsische Musiker, die Stücke von der Bach-Suite bis
zur Neuen Musik darboten, bildeten den kulturellen Rahmen des Abends
in der Residenz. Ganz bewusst wollten die Organisatoren, die Sächsische
Staatskanzlei, zeigen, dass der mitteldeutsche Raum nicht nur auf
Barock zu reduzieren ist. Deshalb waren neben der Mezzosopranistin
Stephanie Atanasov, dem Bariton Christoph Pohl (beide Mitglieder
des Semperopernensembles), dem Bläserquintett der Staatskapelle
Dresden und einem Jazzquartett auch das Avantgarde-Ensemble Voix
Visuelle unter der Leitung von Eckart Bormann auf der Open-Air-Bühne
zu erleben.
Steve Reichs dritter Teil aus „Different Trains“ stand
da neben der Uraufführung von Hartmut Dorschners „Ohne
Gnade“ und Misato Mochizukis „Chimera“. Für
die Musiker der beiden Ensembles war ein solcher Event eine eher
unbefriedigende Herausforderung. Hatten sie doch ein Publikum vor
sich, das den Abend hauptsächlich mit Konversation verbringen
und sächsische Kulinarik genießen wollte.
Die Attraktion des Abends war eine Verbindung aus Tradition und
Innovation: die Präsentation der High-Tech-Geige von Artesono
Meisterstücke. In Washington sollte die Artesono erstmals in
der Öffentlichkeit ihre Bewährungsprobe erleben. Die Geige,
deren Boden aus Karbonfaser besteht, hatte an diesem Abend dem Vergleich
mit der Guarneri del Gesu von 1733 zu bestehen, die Fritz Kreisler
einstmals der Library of Congress hinterließ. Der Transport
der deklariert wertvollsten amerikanischen Geige von der Library
bis zur deutschen Botschaft verlief unter ähnlich scharfen
Sicherheitsvorkehrungen wie das Geleit der Ehrengäste Georg
Bush senior, Helmut Kohl und Georg Milbradt. Zuerst auf der Guarneri
und dann auf der Artesono spielte Andreas Winkler, Geiger der Philharmonie
Chemnitz, J.S. Bachs „Allemande“ aus der 2. Suite für
Violine solo.
Freilich war das Klangbild beider Instrumente unter Open-Air-Bedingungen
schwer zu beurteilen. Ein Kammermusiksaal wäre da angebrachter
gewesen. Die Artesono mit ihrem Klangvolumen hatte unter den vorliegenden
Bedingungen augenscheinlich weniger zu kämpfen als die selten
gespielte Guarneri mit ihrer kräftigen dunklen Klangfarbe.
Dem „Wohlklang“ auf den Grund zu gehen, explizit dem
Geheimnis der strahlenden Höhen und der tragfähigen Tiefen
einer Stradivari, hat sich der sächsische Psychoakustiker und
Sounddesigner Friedrich E. Blutner seit über zwanzig Jahren
verschrieben. Als gelernter Instrumentenbauer begann er in den 70er-Jahren
des vergangenen Jahrhunderts seine Arbeit im damaligen Akustiklabor
des „Kombinats Musikinstrumente und Kulturwaren“.
Schon hier befasste er sich mit den Zusammenhängen von Schallsignal
und Hörempfindung. Heute führt der Soundforscher, dessen
Leidenschaft die Geige ist, fernab des Großstadtlärms
im erzgebirgischen Geyer die Geschäfte der Synotec Psychoinformatik
GmbH. Blutner weiß, dass der Geigenbau, der seine Vollkommenheit
im italienischen Cremona des 17. und 18. Jahrhunderts durch Antonio
Stradivari (1644–1737) und Giuseppe Antonio Guarneri (1698–1744)
erlangte, Entwicklungsschüben ausgesetzt und eng mit der Musikgeschichte
verbunden ist. Ihr Klang entwickelt sich parallel zu den jeweiligen
Kompositionsstilen und den entsprechenden Höransprüchen
des Publikums. Bestes Beispiel für die Entwicklung des Orchesterklangs,
der maßgeblich vom Klang der Geige bestimmt wird, ist die
Veränderung der Stimmung vom barocken Orchester (Kammerton
a mit 415 Hz) zum heutigen modernen Sinfonieorchester (440–443
Hz).
Stradivari baute in seiner Cremoneser Werkstatt etwa 1.100 Streichinstrumente
sowie Gitarren. Heute gibt es davon weltweit noch etwa 650 Instrumente,
die meisten von ihnen fristen ihr Dasein als Wertanlage in den Tresoren
ihrer Besitzer, nur noch wenige werden von virtuosen Solistinnen
und Solisten gespielt. Der Wunsch eines jeden Geigers ist es, ein
Instrument zu besitzen, das dem Klangideal entspricht. Deshalb versuchten
im Laufe der Geschichte unzählige Geigenbauer, das Geheimnis
der Stradivari zu lüften und die Königin der Streichinstrumente
nachzubauen. Besonders im 19. Jahrhundert wurde der Markt von Kopien
überschwemmt. Doch erst heute, im Zeitalter von Informatik
und modernster Messtechnik, konnte es gelingen, Instrumente zu entwickeln,
die sich den brillanten Höhen und tragenden Tiefen der Stradivari
annähern.
Allein in Deutschland sind zwei Geigenbauer dafür bekannt,
das akustische Verhalten der Stradivari zu erforschen und mit ihren
Instrumenten nachzuempfinden. Der Münchner Geigenbauer und
Physiker Martin Schleske hat Computerprogramme zur Schwingungsanalyse
entwickelt und fand damit heraus, dass asymmetrische Abweichungen
in der Materialstärke der Stradivari ihren unübertroffenen
Klang ausmachen.
In Bonn hingegen fanden der Geigenbauer Peter Greiner und der Physiker
Heinrich Dünnwald durch Klanganalyse die Verbindung der „alten
Italiener“ zur menschlichen Stimme heraus. Dünnwald weiß,
dass allein das Anbringen einer geringfügigen Masse an einen
bestimmten Platz der Violine deren Klang in Richtung Stradivari
verändern kann.
Andere Ansätze, den Wohlklang zu finden, sucht Friedrich
E. Blutner. Mit Hilfe psychoakustischer Tests führte er Hörversuche
mit Musikexperten und Laien durch. So zum Beispiel in Wien, Paris,
Stuttgart, in der Dresdner Semperoper oder mit Studenten der Internationalen
Hochschule für Geigenbau in Cremona. Ziel dieser Feldversuche
war es, akustische Wahrnehmungen seiner Probanden, die subjektive
Geschmacksurteile abgaben, und objektive physikalische Schallereignisse
zusammenzubringen und auszuwerten. In einem der unzähligen
Versuche wurde 304 Probanden der Anfang des ersten Satzes von Tschaikowskys
Violinkonzert Nr. 1 über elektrostatische Kopfhörer zugespielt.
Zum einen auf der Stradivari Wilhelmi von 1725 und zum anderen auf
der Artesono von 2005. Spielerin war die Violinvirtuosin Baiba Skride.
Die Probanden hatten auf einer Skala von 0 bis 10 dunkle bis helle
Klänge mit den Kriterien schlecht bis gut zu beurteilen.
Die Ergebnisse wurden direkt in einen Rechner eingespeist und dem
Zahlengewirr wurden Farbenspektren zugeordnet: von blau für
schlecht bis rot für gut. In einem Diagramm, dem multisensuellen
Mapping, ergibt sich so eine übersichtliche Struktur mit einzelnen
Farbinseln, den so genannten synoptischen Feldern. Sie geben Aufschluss
über das Urteil der Probanden. Erstaunlich an diesem Versuch
ist, dass das synoptische Feld der Artesono-Geige viel geschlossener
als das der Stradivari erscheint. Das bestätigt die jahrelange
Forschung der Sounddesigner, mit der Artesono-Geige konnte ein Instrument
gebaut werden, das sowohl der Tradition des alten italienischen
Geigenbaus als auch den heutigen Ansprüchen eines modernen
Instrumentes entspricht. Die Artesono wurde auf der Grundlage langjähriger
Forschung entworfen und parallel dazu wurde Arconit, ein Verbundstoff
aus Glas- und Kohlefaser mit hervorragenden akustischen Eigenschaften,
entwickelt. Im Verbund mit ausgesuchten italienischen Klanghölzern
ergibt sich so ein Klang, den seine Väter den „Wohlklang“
nennen.
Finanziert wurde das Forschungsprojekt von der GK Software AG im
vogtländischen Schöneck, die eigentlich mit der Entwicklung
von Software für Großhandelsketten ihr Geld verdient.
Deren Vorstandsvorsitzender Rainer Gläß, der am Anfang
seiner Karriere selbst zum Forschungsteam Blutners gehörte
und die gleiche Leidenschaft für die Geige mitbringt, unterstützte
die Forschung seines Freundes und ehemaligen Lehrers nach eigenen
Angaben mit mehreren Millionen Euro. Die von Gläß gegründete
Firma Artesono Meisterstücke verfolgt nicht das Ziel, Massenware
herzustellen wie etwa japanische oder amerikanische Karbon-Geigenwerkstätten.
Seine Artesono-Geige soll ein Instrument für Solisten sein,
die nicht die Chance haben, mit einer Stradivari oder Guarneri gesponsert
zu werden. Einen Preis von etwa 30.000 Euro für sein Instrument
hält Gläß durchaus für angemessen.
Die neue Zukunft des Geigenbaus ist angebrochen. Im sächsischen
Musikwinkel soll mit Hilfe eines durch die TU Chemnitz entwickelten
Vermarktungssystems ein Verbundnetz kleiner und mittelständischer
Unternehmen der Musikinstrumentenbranche, das „Musicon Valley“,
entstehen. Wie ein solcher Verbund funktionieren kann, haben Friedrich
Blutner und Rainer Gläß vorgegeben. Dass die Klangforscher
von Synotec und der Unternehmer von GK Software den Unmut der traditionellen
Geigenbauer besonders im Musikwinkel hervorrufen, ist vorprogrammiert.
Für sie bedeutet die Artesono Geige nicht nur Konkurrenz,
sondern auch kulturellen Umbruch. Ein gewisses Verständnis
für den Fortschritt müsste hier noch entwickelt werden.
Die Artesono- Geige bedeutet nicht das Ende des gediegenen Geigenbaus,
aber unter den Bedingungen des heutigen Konzertlebens wird sie eine
Alternative sein.