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nmz-archiv
nmz 2006/11 | Seite 12
55. Jahrgang | November
Nachschlag
Kopf oder Zahl
Eines haben wir mit Musik Beschäftigte der übrigen Menschheit
voraus. Wir wissen, dass es in der Sowjetunion der 30er-Jahre nur
zwei Menschen gab: Schostakowitsch, genannt Dmitri und Stalin, genannt
Joseph.
Die beiden lebten zusammen in einem herrlichen Garten und hatten
ein merkwürdiges Verhältnis aus Hass und Zuneigung. Joseph
war stark und mächtig und hatte sich zum Diktator hochgearbeitet
(und zwar so, wie man das unter Politikeraspiranten macht). Dmitri
war klein und schmächtig und war Musiker geblieben, denn sonst
war kein Job mehr übrig. Er war so klein, dass er keine Gefahr
war für den großen Joseph und deshalb hatte die Macht
auch eine gewisse Sympathie für die Musik. Denn dass Dmitri
musikalisch war, das wusste Joseph. Der Kleine konnte sogar Beethovens
Große Fuge auswendig auf dem Klavier spielen, wobei Joseph
angesichts des eigenen bescheidenen Vermögens bei sich dachte:
Wie gut, dass mir Dmitri nicht in die Karten gucken kann! Aber die
große Fuge war ihm ohnehin zu formalistisch. Schade, dass
Beethoven schon tot war, sonst hätte man da ein Exempel statuieren
können. Formalistisch, das war so etwas wie das Lieblingswort
von Joseph. Das war der Apfel vom Baum der Versuchung, und wehe,
wenn Dmitri davon naschen wollte!
Manchmal freilich rutsche der kleine Dmitri auch aus und schlitterte
hin zum Baum mit dem formalistischen Apfel. Da wurde Joseph streng
und ermahnte Dmitri, indem er auf die sibirischen Weiten außerhalb
des herrlichen Joseph-Gartens verwies. Oder gar auf seinen Kopf.
Da wurde Dmitri auch wieder ganz lieb und schrieb Lieder von Wäldern
ganz unformalistisch und zum Gefallen des Großen. Dmitri aber
war auch listig und so schmuggelte er immer wieder formalistische
Äpfelchen in seine Musik, so leise und so versteckt, dass die
dem weiten Blick des Großen verborgen blieben. So hatte jeder
das seine und beide waren glücklich oder unglücklich und
lebten darin bis ans Ende ihrer Tage. Schön, ein Märchen
vom großen Joseph und vom kleinen Dmitri. Aber da fehlt doch
was?! Ja richtig, die Moral. Die aber ist ganz einfach: Der Joseph
war schuld! Es gab keine hinterhältigen Intrigen, nicht das
Machtgeschubse der Kleingeister, nicht die Trägheit der Menge,
keinen Neid im Gerangel um Positionen. Nicht das ganze gärende
Umfeld, das eine Gesellschaft wie giftige Hefe durchzieht und eine
Dynamik der Dummheit erzeugt (konnte ja gar nicht sein, denn die
beiden waren ja allein). Der Große war böse und Schluss!
Sonst hat niemand Schuld und man muss auch gar nicht weiter fragen.
So wird alles ganz einfach.
Und wenn manche heute zu sehen meinen, dass unsere Massenkultur
gar nicht so viel anders tickt als dies im Garten beim großen
und bösen Joseph der Fall war, dann irren sie eben. Der Baum
mit dem formalistischen Apfel ist ein für alle Male gefällt
– und überhaupt zählt nur noch, was gefällt.
Das aber ist gerecht, weil abzählbar, also demokratisch. Da
brauchen keine falschen Äpfelchen mehr untergejubelt zu werden,
denn alles ist frei und darf sich tummeln. Unsere Schere, die da
einiges gerade stutzt (das muss eben sein, denn sonst: Anarchie!),
gehorcht einzig dem objektiven Diktat der Zahl. Wer will da von
einer Macht des Großen über den Kleinen sprechen? Solches
ist längst ins Reich des Märchens verbannt. Na, dann ist
ja alles gut und wir können in Ruhe und ohne Grimm weiterschlafen.
Wie beruhigend so schöne Geschichten doch sein können!