Die neue musikzeitung im Gespräch mit Henning Scherf, Präsident
des Deutschen Chorverbandes
Seit Mai 2005 sind der Deutsche Sängerbund und der Arbeitersängerbund
zum Deutschen Chorverband (DCV) zusammengeschlossen. Im Mai wurde
Henning Scherf zum Präsidenten des neuen Verbandes gewählt.
Damit hat der DCV einen prominenten Politiker an der Spitze, der
allerdings bisher keinen Namen in der bundesdeutschen Chorszene
hatte. Susanne Fließ führte für die neue musikzeitung
ein ausführliches Gespräch mit Henning Scherf über
den DCV und seine Arbeit.
Henning
Scherf. Foto: Michael Brose
neue musikzeitung: Herr Scherf, welche Beweggründe
haben Sie veranlasst, dieses Amt anzunehmen? Henning Scherf: Es war ein langer Anlauf, bis sich
die bürgerliche Sängerbewegung und der Allgemeine Deutsche
Sängerbund nach langer Spaltung im letzten Jahr verbündet
und gemeinsam den Deutschen Chorverband gegründet haben. Ausgerechnet
ich, der ich bisher in diesem Verband nie irgendeine Rolle hatte,
sollte nun derjenige sein, der diese beiden Verbände zusammenbringt.
Dieses Vertrauen hat mich sehr gerührt. Seit ich mich dafür
engagiere, entdecke ich diesen großen Verband jeden Tag neu,
wie übrigens auch die alten Abgrenzungsargumente und Vorurteile.
nmz: Welchen persönlichen Zugang haben Sie
zu diesem Amt? Scherf: Ich bin in eine sehr kirchliche Familie
hineingeboren. Deshalb sollte ich auch Pastor werden. Mein Vater
hatte den Standpunkt, dass ein Pastor Orgel spielen und singen können
müsse. Daher habe ich von Kindesbeinen an gesungen, zunächst
als Sopran im Knabenchor in Bremen, später in vielen anderen
Chören. Meine Frau ist Schulmusikerin mit Hauptfach Gesang
und Klavier. Dann fingen unsere Kinder an, im Chor zu singen, meine
Älteste, die Medizinerin ist, hat sogar eine Gesangsausbildung
gemacht. Und nun singen die Enkelkinder, ich bin umgeben von einer
singenden Familie.
nmz: Welche Erfahrungen haben Sie in der Laienmusikszene
in Sachen Verbandsarbeit? Scherf: Ehrlich gesagt, habe ich da null Erfahrungen.
Ich bin wirklich von außen hinein gekommen. Natürlich
bringe ich durch meine lebenslangen Verbands- und Politikerfahrungen
Vorkenntnisse mit, wie man mit all den vielen unterschiedlichen
Menschen so umgeht, dass sie nicht auseinanderlaufen, sondern zusammenbleiben
und sich auf Neues konzentrieren. Im Chorverband bin ich aber ein
echter „Newcomer“.
nmz: Sie engagieren sich seit vielen Jahren in
Nicaragua für das Projekt „Pan y Arte“. Sehen Sie
Möglichkeiten, die Erfahrungen dort für die Arbeit im
DCV fruchtbar zu machen? Scherf: Das Projekt kümmert sich um Kinder
aus ärmsten Verhältnissen. Entwickelt hat es meine Frau.
Die Kinder in Nicaragua erlangen über das Musizieren und Singen
im Chor eine Persönlichkeitsstärke, die die ganze Familie
verändert. Plötzlich wollen die Kinder zur Schule gehen,
einzelne Jugendliche beginnen sogar ein Musikstudium. Ich habe dort
die Erfahrung gemacht, dass Musik wirklich wie ein Lebensmittel
ist, von dem man lebt, von dem man stark wird, wodurch man Identitätskraft
entfaltet, das einem über die größten Nöte
hinweg helfen kann. Diese Erfahrungen dort versuchen wir für
die Arbeit hier nutzbar zu machen: Ein wichtiges Thema für
Deutschland ist beispielsweise, die Musik in den Schulen zu halten
und zu erweitern, gerade jetzt, wo die Ganztagsschule kommt. In
Bremen, Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg gibt es inzwischen
eine Reihe von Ganztagsschulen, in denen die örtlichen Chöre
die Probenarbeit des Schulchores übernommen haben. Zum Nutzen
beider, denn wir kommen auf diese Weise wieder an junge Leute heran.
nmz: Welche Projekte liegen Ihnen als Präsident
des DCV am Herzen? Scherf: Unser Star-Projekt ist der „Felix“.
Wir haben dafür gerade den „Inventio“-Preis des
Deutschen Musikrates und der „Stiftung Yamaha“ erhalten.
Die Idee von „Felix“ ist, wie man Kindergartenkinder
zum Singen, sogar zum mehrstimmigen Singen motiviert. Dazu erarbeitete
Reinhard Stollreiter, der Vizepräsident im DCV, Material. Das
Projekt hat sich zu ei-nem echten Renner entwickelt und ist schon
2.000 Mal vergeben worden. Ausgezeichnete Kindergärten erhalten
eine Plakette mit der Aufschrift „Wir sind Felix-Kindergarten“.
Anschließend überprüfen wir alle drei Jahre, ob
der ausgezeichnete Kindergarten den Standard gehalten hat und die
Plakette weiterhin tragen darf. Dieses Projekt hat eine enorme Breitenwirkung
und es ist ein Beleg dafür, dass das Singen alles andere als
totalitär ist, was für die APO und die 68er damals die
Begründung war, Singen von den Stundenplänen zu nehmen.
Mit dem Singen können wir das „cultural lack“,
das uns die „Revolutionäre“ verpasst haben, endlich
wieder schließen.
Was mir außerdem am Herzen liegt, ist das Qualifizierungsprogramm
für Jugendliche, das die Deutsche Chorjugend entwickelt hat:
Im Forum „fit for top“ wird ein Weiterbildungsangebot
zur Verfügung gestellt, um Jugendliche in den schwierigen Jahren
der Pubertät im Chor zu halten.
Und schließlich möchten wir uns um die älteren Chormitglieder
kümmern. Denn wir beobachten, dass die über 60-Jährigen
die stärkste Sängergruppe in der Gesellschaft sind. Wir
wollen das Vorurteil abbauen, dass man im Alter nicht mehr singen
kann, und möchten Singen als ein lebenserhaltendes, lebenslanges
kulturelles Erlebnis propagieren. Dazu erarbeiten wir im Moment
spezielle Literaturangebote und schulen spezifisch ausgebildete
Chorleiter.
2008 ist ein großes Chorfest in Bremen geplant, das das Chorleben
in seiner ganzen Breite ansprechen soll. Im Verband besteht Einigkeit
darüber, regelmäßige Chorleiter-Workshops zu veranstalten
und die 36 Landesverbände mit Regionalkonferenzen zu integrieren.
Auch unsere Zeitung „Neue Chorzeit“ ist inzwischen überarbeitet
worden und hat nun ein lebendiges Erscheinungsbild.
nmz: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit
anderen Verbänden unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft Deutscher
Chorverbände? Scherf: Speziell mit dem Verband evangelischer
Kirchenchöre Deutschlands sind wir sehr eng befreundet. Nach
meinem Eindruck scheint die Abgrenzung der Chorverbände untereinander
nicht mehr so stark. Schon die Literatur wird gleichermaßen
in weltlichen und kirchlichen Chören gesungen. Im ADC hat der
DCV im Moment die Geschäftsführung. Die sechs Chorverbände
sind weniger feindliche Lager als vielmehr ein Zusammenschluss vor
dem Hintergrund ähnlicher Interessenslagen: Denn wir alle wollen
wachsen.
nmz: Wofür steht also der DCV? Scherf: Der DCV ist der größte Chorverband
in Deutschland. Wir haben ungefähr 2,1 Millionen Mitglieder
und rund 28.000 Chöre. Um die Chorbewegung und das Singen populär
zu machen, brauchen wir populäre und prominente Botschafter.
Beim „Felix“ ist das beispielsweise Thomas Quasthoff.
Mit ihm und mit dem „Felix“ führt der DCV gewissermaßen
eine gemeinsame Werbeveranstaltung durch, um den Menschen deutlich
zu machen, welchen kulturellen Reichtum das gemeinsame Singen bedeutet.
Allerdings gibt es bei uns eine Debatte, wie man sich von den Profichören
abgrenzt, womit ich gar nicht einverstanden bin. Denn ich denke,
wir gehören zusammen und sollten an einem Strang ziehen, wir
sollten uns Profis zu Hilfe nehmen, um unsere Ziele durchzusetzen.
nmz: Sind das die neuen Netzwerke, von denen
Sie in der Dankesrede anlässlich Ihrer Wahl zum Präsidenten
sprachen? Scherf: Ich sehe, wie viele Profisänger einen
Chor leiten, wie sie mittendrin sind im Chorleben und alles andere
als außen vor. Anstatt sie aufeinander zu hetzen, muss man
Profis und Laien ganz eng miteinander vernetzen.
nmz: Die Diskussion über die Verdrängung
der Laien- durch Profichöre und professionell singende Chöre
flammt immer mal wieder auf, zuletzt anlässlich des Deutschen
Chorwettbewerbs. Wie steht der DCV dazu? Scherf: Der DCV ist dringend darauf angewiesen,
dass seine Arbeit in der Breite wahrgenommen und öffentlich
vermittelt wird. Dazu sind beispielsweise Shanty-Chöre ein
wichtiges Vehikel. Es ist schon eine eigene Kulturleistung, Männer
überhaupt zum Singen zu motivieren. Die Aufgabe des Profis
besteht dann darin, Mehrstimmigkeit zu üben, Literatur anzubieten,
damit ein Chor sich entwickelt. Ich halte es für wesentlich,
das Singen unter das Volk zu bringen. Deshalb müssen wir zusammenarbeiten.
nmz: Welche Position bezieht der Verband gegen
die Pläne des Bundes, das Gemeinnützigkeitsrecht einzuschränken? Scherf: Wir sind strikt gegen diese Pläne
und haben in der „Timmendorfer Resolution“ Mitte Oktober
eine mehr als deutliche Kritik formuliert. Wir können uns nicht
vorstellen, dass es Politiker in der Bundesregierung gibt, die am
Sonntag das Ehrenamt mit „Fundament der Zivilgesellschaft“
beschreiben und am Montag solche monströsen Diskreditierungsgesetze
erlassen.
nmz: Vor welchen Aufgaben steht der DCV in Zukunft? Scherf: Wir sind die klassische Lobbygruppe unserer
Gesellschaft für Musik-
unterricht in Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Wir sind
die klassische Lobbygruppe dafür, dass Orte und Anregungen
geschaffen werden, an denen das aktive Beteiligen möglich ist
und nicht nur das Bestaunen und Klatschen.
Mit unseren Singangeboten sind wir kulturell, sozial- und gesundheitspolitisch
bei denen, die sagen: Wenn ihr aktiv lebt und etwas für euch
und andere tut, dann geht es uns allen besser.