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nmz-archiv
nmz 2006/11 | Seite 34
55. Jahrgang | November
ver.die
Fachgruppe Musik
Gefahr erkannt. Gefahr gebannt?
„Musikschule im Wandel“: Eine wichtige Broschüre
der ver.di-Musiker
Ein Gespenst geht um. Es ist nicht das von Karl Marx beschriebene,
sondern eins, das die Musikschul- oder Instrumentallehrer so charakterisierten:
„Stell dir vor, du bist Musikschullehrer, und es kommt kein
Schüler mehr in die Musikschule ...“ Die Angst der Kolleginnen
und Kollegen gilt bei dieser Vorstellung gar nicht mal einem Wertewandel
in der Gesellschaft, obwohl der sie tatsächlich auch alarmieren
müsste. Ihre Besorgnis gilt dem Wandel ihres Berufs, dem sie
– bedeutungs- und brotlos gemacht – hinterher hinken
könnten.
Ausgangspunkte dafür sind zum einen das Modell der Ganztagsschule,
zum anderen die Neustrukturierung des regulären Unterrichtsangebots
allgemeinbildender Schulen, die in NRW in einem neuen Schulgesetz
Ausdruck gefunden hat. Hier wie auch in anderen Bundesländern
ist es beschlossene Sache beziehungsweise geplant, die Schulzeit
bis zum Abitur zu verkürzen, wodurch Unterrichtsstunden auf
andere Schuljahre verteilt werden. Dadurch sind auch Nachmittage
in die Stundenpläne einbezogen, die Zeit für außerschulische
Angebote und Ausbildungen reduziert sich, wovon eben auch die Musikschulen
betroffen sind. Zusätzlich stört die gewohnte Einteilung
zwischen obligatorischem und fakultativem Lernen die Möglichkeit
früherer Einschulung, so dass wie in NRW auch die musikalische
Früherziehung organisatorisch, didaktisch und methodisch überprüft
und modifiziert werden muss.
Ein weites Feld also mit vielen Problemen, Stolpersteinen und Unwägbarkeiten.
Deshalb hat die Fachgruppe Musik in ver.di jetzt eine Broschüre
veröffentlicht, die auf ein Seminar und ein Referat von Michael
Frangen im Frühjahr 2006 zurückgeht – und natürlich
auf Erfahrungen mit Pilotprojekten. „Der Text versteht sich
als Einstieg in die Materie. Er fasst Erfahrungen zusammen, erklärt
Strukturen und vermittelt die notwendigen Schritte hin zu einem
Wandel in der musikalischen Ausbildung“, erklärt Ulrich
Steiner im Vorwort zum 62 Seiten starken Heft „Musikschule
im Wandel“. Dessen Wert wäre noch größer,
hätte Michael Frangen sich nicht nur exemplarisch auf die Änderungen
bezogen, die durch das neue Schulgesetz in Nordrhein-Westfalen für
die Musikschulen zu erwarten sind. Bildung unterliegt bekanntlich
der Länderhoheit, betroffen ist in Varianten jedoch ein gesamter
Berufszweig, ja, eine komplexer kultur- und bildungspolitischer
Umbruch zwischen Rhein und Oder sowie Ostsee und Alpen hat begonnen.
Zurück dennoch an den Rhein: Neben den neuen temporären
Faktoren erkennt Frangen erst einmal folgende organisatorische Schwerpunkte:
die Frage, ob eine Vollzeitauslastung für einzel- oder gruppenunterrichtende
Instrumentallehrer künftig noch möglich sein wird; Raumprobleme
für Musiklehrer, die nachmittags Gebäude öffentlicher
Schulen mitnutzen, die ja irgendwann verschlossen werden –
und voraussichtlich ein Schwinden von Motivation bei Kindern und
Jugendlichen, neben dem gewachsenen Unterrichtspensum noch die musikalische
Ausbildung durchzustehen.
Wo also müssen die Musikschulen aktiv werden, um nicht ins
Abseits zu geraten? Was kennzeichnet den Wandel? (Siehe dazu auch
unseren Textauszug.) Der Autor sieht vorrangig Chancen der Einmischung
in die Unterrichtsorganisation. Das neue Schulgesetz in NRW lässt
eine inhaltliche Profilierung durch die jeweilige Schulleitung zu,
was nicht ohne Kooperationspartner möglich ist. Hier müssen
Musikschulen Konzepte entwickeln, um sich als bedürfnisorientierte
Kooperationspartner anzubieten. Hilfreich, wenn nicht gar unerlässlich
sei es, so Frangen, dabei Schulpflegschaften, Schul- und Lehrerkonferenzen
sowie Fördervereine für die Musikausbildung zu gewinnen.
So ließen sich am ehesten gemeinsame und stabile Projekte
entwickeln. Frangen dazu: „Kooperationen von allgemeinbildenden
Schulen und Musikschulen bereichern beidseitig den Horizont und
ermöglichen Projekte, die ohne diese Kooperation kaum möglich
wären. Musikschulen werden zukünftig mit den Schulen der
Kommune oder Region kooperieren und haben so die Chance, auch die
Zusammenarbeit mehrerer Schulen miteinander koordinieren zu können.
So werden Projekte realisierbar, die weder einzelne Schulen noch
Musikschulen alleine hätten bewerkstelligen können.“
Basis solcher Kooperationen sind bestehende Rahmenvereinbarungen,
die die Broschüre ebenso enthält wie einen Kooperationsvertrag
mit der AWO in NRW, Überlegungen zu neuen Unterrichtsformen
in der Primar- und Sekundarstufe sowie die Auswertung eines Modellversuchs.
Michael Frangen, Dozent für Trompete und Kammermusik in Köln,
hat mit der Broschüre den Verdienst um eine praxisbezogene
Zukunftsprognose erworben. Dass daraus eine Debatte mit Folgen entsteht,
ist nicht nur zu wünschen, sondern für die musikalische
Bildung zwingend erforderlich. Zu bestellen ist „Musikschule
im Wandel“ bei der Fachgruppe Musik der ver.di, Fachbereich
8, Bundesverwaltung, Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin. Oder: musik@verdi.de
zum Preis von 6 Euro, ver.di-Mitglieder zahlen 2 Euro.
Burkhard Baltzer
Musikschule im Wandel
Auszug aus Michael Frangens Überlegungen
»Nichts bleibt, wie es ist« lautet die Prognose für
alle, die bisher Musikschule so erlebt haben, dass ab Mittag die
Schülerinnen und Schüler zum Einzelunterricht in die
Musikschule kamen. An vielen Orten ist es schon lange Realität,
dass der Instrumentalunterricht im Klassenraum als Nachmittagsnutzung
in der allgemeinbildenden Schule erteilt wird. Die Schüler
haben folgende Möglichkeiten für den Musikschulunterricht
in der Schule:
• im Nachmittagsbereich bis 16 Uhr in Freistunden,
• nach der Schulzeit ab 16 Uhr solange die Schule geöffnet
ist,
• bei verkleinerten Zeitfenstern als Gruppenunterricht.
Die Raumsituation ist häufig nicht optimal, es entstehen
sicher bis 16 Uhr Konkurrenzsituationen, Ruhe- und Hausmeisterproblematiken.
Auch die Sporthalle ist für manche Bewegungsunterrichte im
Bereich »Musik in der Schule« (Rhythmik, Tanz, rhythmische
Bewegungsgestaltung etc.) ein guter, aber von den Sportlehrern
der allgemeinbildenden Schule sowie den Sportvereinen gleichermaßen
eingeforderter Unterrichtsort, an dem sie zu gleicher Zeit um
die Gunst der Schüler werben.
Für die Lehrenden kann das heißen, dass ein Wechsel
der Unterrichtsräume, vielleicht sogar ein Wechsel der Schule
notwendig wird. Dabei stellen sich weitere Fragen:
• Ist die Motorisierung Voraussetzung für einen vollen
Unterrichtstag?
• Muss ich alle meine Unterrichtsmaterialien immer mit mir
mitführen?
• Werden große Gruppen zur Regel?
• Brauchen wir den Hausmeister als Partner?
• Wird das Wochenende zur »neuen« Unterrichtszeit?
• Sind laute Instrumente nicht mehr so erwünscht?
• In welchen Klassenräumen steht ein Klavier oder Schlagzeug?
Das neue Bild der Musikschule
Das Bild der Musikschule wandelt sich, das Berufsbild des Musikschullehrers
ändert sich. Die Möglichkeiten sind vielfältig,
sind jedoch mit vielen Innovationen, Flexibilisierungen und Unwägbarkeiten
verbunden. Der Markt »Musik« bietet neue Herausforderungen
für die Musikschule. Die neue Situation erfordert Lehrkräfte,
die den neuen Anforderungen gewachsen sind, die für die neuen
Angebote ausgebildet sind, die ihre Musikschule mit Motivation
für das »Neue« füllen. Sie benötigt
Organisatoren, die neue Strukturen schaffen und organisieren.
Sie braucht neues Denken für eine geänderte Musikschul-Landschaft,
in der es viel zu tun gibt, wenn man sich der Herausforderung
stellt. Zu Beginn dieses Prozesses werden die 162 Musikschulen
in NRW, die von Städten, Kreisen, Gemeinden, Zweckverbänden
und Vereinen als nichtkommerzielle öffentliche Kultur- und
Bildungseinrichtungen unterhalten werden und die dem Landesverband
der Musikschulen in NRW angehören, zeigen und beweisen müssen,
dass sie sich die große Verantwortung für die frühzeitige
Entwicklung musikalischer Anlagen der Kinder mit den Grundschulen
teilen können. Sie werden zeigen müssen, dass sie die
Chancen, die die offenen Ganztagsschulen bieten, gemeinsam entwickeln,
gestalten und nutzen können. Sie werden weiter zeigen müssen,
ob sie flexibel auf die sich verändernden Prozesse in den
weiterführenden Schulen reagieren können, ob sie in
der Lage sind, auf die Schulen zuzugehen, in die Schulen zu gehen,
den Schülern entgegen zu gehen, die Schülerströme
zu sehen und in ihre Zukunftsplanungen zu integrieren. Insgesamt
werden sie organisatorisch und inhaltlich beweisen müssen,
als ein neues Bindeglied und aktiver Partner für kulturelle
Bildung in und auch zwischen Schulen in der Kommune fungieren
zu können.
Fachliche Leitung und Organisation von neuen Bereichen
Die Musikschule braucht einen oder mehrere Organisatoren für
den Bereich »Musik und allgemeinbildende Schule«,
der die Musikschule in die Schulen bringt, die Voraussetzungen
für Kooperationen schafft und den Kollegen den Weg dorthin
ebnet. Die Fachleitungen der verschiedenen Fachbereiche sind gefragt,
Konzepte mit dem Kollegium zu entwickeln, um sich der neuen Situation
annähern zu können. Diese sollten sowohl beinhalten,
sich intern fachlich der Herausforderung zu stellen, als auch
externe Fortbildungswege zu finden, um sich auf neue Unterrichtsformen
vorzubereiten.
Organisation von Unterricht
Die Musikschule braucht eine neue Form von Unterrichtsorganisation
und Unterrichtsangeboten, um den veränderten Strukturen begegnen
zu können.
Die Schülerströme ändern sich. Der Unterricht
wird einer neuen Organisation bedürfen. Die Frage der Fünf-Tage-Woche
stellt sich genauso, wie die der flexiblen Tageszeiten für
Unterrichte. Das Thema Unterrichtsortswechsel am Nachmittag von
allgemeinbildender Schule zurück in die Musikschule, von
Klassenraum in Turnhalle oder in Räume der Übermittagsbetreuung
und die Erschließung neuer Räume in Kooperation mit
Schulen ist aktueller denn je.
Das neue Bild des Musikschullehrers
Um diesen genannten Strukturveränderungen zu begegnen,
wird sich das Bild des Musikschullehrers reformieren. Neue Inhalte,
neue Wege, neue Strukturen, eine neue Klientel, neue Kommunikationswege,
neue Ziele, veränderte pädagogische Überlegungen,
neue didaktische Modelle für Klassenunterrichte, all dies
kommt auf die Musikschulpädagogen zu. Die Musikpädagogen
werden darüber hinaus zu Schulmusikern im Nachmittagsbereich
der allgemeinbildenden Schule. Die Aufgabenpalette jedes einzelnen
Musikpädagogen wird sich erweitern. Nur so lassen sich künftig
Arbeitsplätze an der Musikschule erhalten.
Die Musikschule braucht deshalb dringend Angebote für Aus-
und Fortbildung ihrer Pädagogen, um sich auf die neue Situation
einstellen zu können. Die Hochschulen werden noch viele Jahre
brauchen, bis neue Studiengänge geschaffen werden, die den
»Neuen« Musikschullehrer auf den Beruf vorbereiten.
Deshalb müssen sich die Akademien und Verbände darauf
einstellen, Instrumentalpädagogen für die neuen Unterrichte
mit großen Gruppen, Klassen und einer neuen Klientel didaktisch
und pädagogisch auszubilden. Dazu wird es notwendig sein,
dass die Instrumentalpädagogen bereit sind, den neuen Herausforderungen
zu begegnen und diese Angebote anzunehmen. ?