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nmz-archiv
nmz 2006/11 | Seite 48
55. Jahrgang | November
Wortlaut
Wortlaut
5 Bemerkungen
Aus der Rede des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert zur
25-Jahr-Feier des Deutschen Kulturrats am 20. September 2006
Erstens: Die öffentliche Debatte über die normativen
Grundlagen unserer Gesellschaftsordnung, unseres demokratischen
Staates und seiner Verfassungsordnung ist über viele Jahre
hinweg in Deutschland auffällig mutlos, jedenfalls geradezu
demonstrativ lustlos geführt worden. Soweit sie überhaupt
geführt wurde, war sie gekennzeichnet durch die sorgfältige
Vermeidung von Festlegungen. Die großzügige Attitüde,
möglichst alles für offen zu erklären, war –
wenn überhaupt – die heimliche Leitmelodie einer nicht
ernsthaft geführten Debatte. Sie korrespondierte mit dem ausdrücklichen
Bekenntnis zu Multikulturalität, Dialogbereitschaft und Toleranz,
was immer das auch im Einzelnen bedeuten mag. Dabei wurde nicht
immer erkennbar, dass ein Dialog, wenn man ihn ernsthaft führen
will, zwei Mindestvoraussetzungen hat: zum einen die Bereitschaft
zur Toleranz gegenüber anderen Standpunkten und zum anderen
die Bereitschaft, einen eigenen Standpunkt nicht nur zu haben, sondern
auch zu vertreten.
Norbert
Lammert. Foto: Deutscher Bundestag
Zweite Bemerkung: Ohne ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit erträgt
eine Gesellschaft keine Vielfalt. Die Gemeinsamkeit der Sprache
ist im Übrigen eine notwendige, keineswegs eine hinreichende
Voraussetzung für gelebte Multikulturalität, die Verständigung
ermöglicht und damit friedliches Zusammenleben fördert.
Ich glaube, dass die öffentliche Empörung, jedenfalls
die öffentliche Debatte prototypisch war, die nach Bekanntwerden
der viel früher getroffenen Entscheidung der Herbert-Hoover-Realschule
in Berlin in Zukunft die Verwendung der deutschen Sprache nicht
nur im Unterricht, sondern auch außerhalb des Unterrichts
obligatorisch zu machen, reflexartig entstand: Eine unglaubliche
Zumutung!
Und wie eigentlich eine scheinbar wild gewordene Schulbehörde
auf einen solchen autoritären Einfall kommen könne! –
Bis eine verblüffte Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen
musste, dass hier die Schulbehörde gar nicht initiativ geworden
war, sondern eine Schulkonferenz, angeführt von einem pakistanischen
Elternsprecher und einem türkischen Schülersprecher, einvernehmlich
zu der Einschätzung gekommen war, dass die Mindestvoraussetzung
für Verständigung, die Mindestvoraussetzung für gelebte
Multikulturalität und schon gar die Mindestvoraussetzung für
die Eröffnung eigener Zukunftschancen die sprachliche Verständigungsbasis
ist.
Dritte Bemerkung: Die Voraussetzung jeder Verfassung ist Kultur.
Was eigentlich sonst? Verfassungen setzen in Rechtsansprüche,
in Normen um, was in einer Gesellschaft an historischen Erfahrungen
gemacht worden ist, was in einer Gesellschaft an Überzeugungen,
an Orientierungen, an religiösen und sonstigen Traditionen
und Orientierungen besteht. Bestand und Wirkungsmacht können
Rechte, auch Verfassungsrechte, folglich nur haben, wenn ihre kulturellen
Grundlagen nicht erodieren.
Und damit bin ich bei meiner vierten Bemerkung, dem Verhältnis
zum eigenen Land. Natürlich hat – mit oder ohne diesen
Begriff – Leitkultur auch etwas zu tun mit dem Verhältnis
zum eigenen Land. Damit tun sich die Deutschen aus bekannten Gründen
nach wie vor schwerer als alle ihre Nachbarn.
Der Versuch, die Identifikation mit dem Verfassungsstaat und seinen
demokratischen Institutionen an die Stelle der Identifikation mit
dem eigenen Land und seiner schwierigen Geschichte zu setzen, ist
bestimmt gut gemeint, aber sicher nicht erfolgversprechend. Identitäten
brauchen Symbole, das gilt für Gemeinschaften nicht anders
als für Personen. Nationale Symbole sind im Grundsatz der sympathische
Ausdruck für das Selbstverständnis eines Landes, aber
sie dürfen eben nicht Ersatz sein für die Verständigung
über die eigene Überzeugung. Wenn sie Zeichen für
etwas sind, was als Substanz dahintersteht, dann sind sie richtig
und wichtig. Aber wenn sie an die Stelle einer nicht vorhandenen
Substanz treten sollen, dann werden sie hohl und in vielen Fällen
nur noch peinlich. Auch Patriotismus setzt Kultur voraus. Das Eine
ist ohne das Andere nicht zu haben, oder schwer erträglich.
Fünftens schließlich: Ein entscheidendes Merkmal europäischer
Kultur, vielleicht ihr Gütesiegel, ist der Zweifel. Seit der
Aufklärung steht in diesem Kontinent hinter dem Anspruch auf
absolute Wahrheit nicht der Punkt, sondern das Fragezeigen. Die
Verbindung von Vernunft und Glauben, von Ratio und Religio als korrespondierende
Prinzipien verantwortlichen Handelns, ist ein unaufgebbarer, aber
keineswegs gesicherter Fortschritt unserer Zivilisation. Dieses
Leitbild offensiv zu vertreten, ist sicher nicht nur erlaubt, sondern
geboten, als Leitkultur für Deutschland allemal.