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nmz-archiv
nmz 2006/12 | Seite 5
55. Jahrgang | Dez./Jan.
www.beckmesser.de
DVD und Kulturkritik
Es wird wieder einmal aufgerüstet: Die DVD ist tot, es lebe
Blue-Ray- beziehungsweise High-Definition-DVD. Nun haben wir uns
gerade an den neuen Tonbildträger gewöhnt und neben der
üblichen Dutzendware viele hervorragende Opernfilme, Künstlerporträts
und Werkdokumentationen kennengelernt, und da kommt schon das nächste
Format: Fünfmal mehr Speicherplatz und damit verbunden eine
bisher unerreichte Bildauflösung, Tonqualität und Werkdauer.
Und nebenbei muss man sich ein neues Abspielgerät und einen
hochauflösenden Bildschirm kaufen, will man des Fortschritts
teilhaftig werden.
Die Erschließung des Markts wird sich sicher verzögern,
weil zunächst der Ausgang des Hahnenkampfs zwischen Blue-Ray
und HD-DVD abgewartet werden muss – die beiden Formate konkurrenzieren
sich nämlich. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich
auch dieser technische Fortschritt durchgesetzt hat. Der Marktbereich
des sogenannten Home Entertainments, also der Konsum von Filmen,
Musik und Videospielen mit dem ganzen technischen Drum und Dran,
wird zunehmend zum Schauplatz der Auseinandersetzung mit Kultur
in allen ihren Schattierungen.
Das spüren nicht nur die Multiplex-Kinos, denen die Kunden
davonlaufen, sondern auch Radio und Fernsehen. Der selbstbewusste
Konsument richtet sich nicht mehr nach Wochenspielplänen und
Sendezeiten. Er kauft den Bildtonträger seiner Wahl im Laden
oder schnappt ihn sich im Internet und schaut ihn zu Hause an, wann,
wie und mit wem es ihm passt. Der Kulturkonsum wird radikal individualisiert,
jeder Kunde ist sein eigener König. Kein Sitznachbar stört
ihn mit Geschnaufe oder blöden Kommentaren, Ton und Bild sind
brillanter als im Kino. Popcorn kann er sich bei Aldi besorgen.
Kultur, aktiv oder passiv erfahren, war in allen Gesellschaften
bisher wesentlich an ein Gemeinschaftserlebnis gebunden. Wenn sich
nun auf Grund des technischen Fortschritts die Rezeptionsgewohnheiten
wieder einmal verändern, bietet sich eine neue Strophe des
kulturkritischen Lamentos vom Niedergang des Subjekts an. Die Leitmelodie
sang 1968 einst Adorno vor: Musik im Fernsehen, bestätigte
er in einem „Spiegel“-Interview, sei Brimborium, die
Massen kämen gar nicht mehr in Berührung mit der Sache
selbst, sondern nur mit einem klischeehaften Produkt der Kulturindustrie.
Im Klartext: Der Konsument wird verschaukelt, und er merkt es nicht
einmal.
Es scheint, dass sich da einer aufrichtig Sorge um das Bewusstsein
der irregeleiteten Massen gemacht habe. Doch aus seinem Hohn über
den Kleinbürger, der sich seinen Figaro im Fernsehen anschaue,
wie er sich seine Raffael-Madonna ins Schlafzimmer hänge, lässt
sich auch ein weniger altruistischer Zug herauslesen: Die Angst
des großbürgerlichen Intellektuellen vor dem Verlust
seiner Deutungshoheit. Wo kämen wir denn hin, wenn plötzlich
jeder Fernseh-Figaro-Gucker im Diskurs der Kenner mitreden wollte!
Demokratie hat leider auch ihre unangenehmen Seiten.
Was der beredte Kulturkritiker damals nicht ahnen konnte: Die
technischen und ästhetischen Standards der kulturellen Dokumentation
auf DVD sind inzwischen so hoch, dass aus der Auseinandersetzung
mit dem Kunstwerk ein Produkt entstehen kann, das mit eindimensionaler
Abbildung und Versimpelung des Gehalts nichts mehr zu tun hat. Auch
ist der Konsument solcher Erzeugnisse ein anderer, als es sich professionelle
Kulturpessimisten vorstellen. Es ist nicht die tumbe Masse, die
sich „Les Paladins“ von Rameau in der Inszenierung von
José Montalvo, Händels „Rinaldo“ von David
Alden oder den „Figaro“ von Christoph Marthaler auf
DVD anschaut. Es sind zum Teil die gleichen Leute, die unter Umständen
einen weiten Weg auf sich nehmen, um solche Dinge auch im Opernhaus
zu sehen. Opernhaus und technisches Medium konkurrenzieren sich
nicht, sondern ergänzen sich. Der Kulturkonsum ist vielschichtiger
und anspruchsvoller geworden.
Um solche und andere Einsichten ging es in einer Diskussionsrunde
zwischen Musikkritikern und Filmproduzenten, die im November in
Berlin im Zusammenhang mit der Verleihung der Jahrespreise der deutschen
Schallplattenkritik stattfand. Offenbar besteht bei der Musikkritik
noch eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber der DVD. Denn anders
lässt sich kaum erklären, dass im Publikum zwar Spezialisten
für Alte Musik und Bühnenregisseure, aber erstaunlich
wenige Fachkollegen saßen. Für manche von ihnen ist wohl
die DVD ein sekundäres Unterhaltungsmedium, das die Auseinandersetzung
nicht lohnt. Oder die neuartige Synthese von Kunst, Technik und
Markt bei der Digital Versatile Disc, der vielseitig verwendbaren
Scheibe, ist ihnen noch nicht ganz geheuer.
Doch der technische Fortschritt geht weiter, und mit ihm erweitern
sich auch die Möglichkeiten anspruchsvoller Kulturdokumentation.
Der produktiven Auseinandersetzung mit dem Medium DVD wird die Kritik
auf Dauer nicht ausweichen können, will sie den Anschluss an
die Wirklichkeit nicht verlieren.