„Utopie jetzt!“ in Mülheim an der Ruhr –
ein neues Festival im Kirchenraum
Auch die Festivallandkarte zur Neuen Musik wird fortgeschrieben.
Im Umkreis von Mekka und Medina, Donaueschingen und Witten sind
neue Unterzentren entstanden. Fast unbemerkt hat sich in den letzten
zehn Jahren auch in einer Stadt wie Mülheim an der Ruhr, überregional
bisher vor allem für ihre Theatertage bekannt, ein kleines,
aber feines Musikfestival etabliert. Angefangen hat es damit, dass
sich ein Kirchenmusiker nach zehnjähriger Berufstätigkeit
fragte: Soll das alles gewesen sein? Solches Unbehagen an der Kultur,
am kulturellen Status quo, hat ein Festival im Kirchenraum entstehen
lassen, das jenseits von Gospel und Musical den Anschluss sucht
an die Tradition der Moderne: „Utopie jetzt!“
Ein Festivalname wie ein Schuss. Angeblich soll die Namensgebung
auf dem Kölner Hauptbahnhof vollzogen worden sein. Täufer
wie beteiligte Taufpaten: Kirchenmusiker Gijs Burger, mit dessen
„Seminar Neue Orgelmusik“ 1995 die Utopiesuche ihren
Anfang nahm, Andreas Fröhling, Organist und „Utopie jetzt!“-Aktivist
der ersten Stunde sowie Komponist Hans-Joachim Hespos. Letzterer,
der Kurator des Jahres 1999, brachte die kritische Bewusstseinsmasse
schließlich auf den Punkt. Was braucht die Menschheit? Utopie
natürlich, hielt Hespos dafür. Und zwar jetzt! Also, bitteschön,
mit Ausrufungszeichen. – Allgemeine Zustimmung. Habemus nomen.
So weit, so lustig. Doch wie klingt die Utopie – jetzt und
hier in Mülheim an der Ruhr? Gewiss, das Rad wird auch im Revier
nicht neu erfunden. Und doch bringt der konzertante Schauplatz,
ein zentral auf dem alten Kirchenhügel der Stadt gelegener
spätgotischer Sakralbau, seine ganz eigene Aura ins Spiel.
Dass die Erbauer der Petrikirche an keiner Einschüchterungsarchitektur
interessiert waren, dass sie statt eines Doms eine intime Dorfkirche
bevorzugten, kommt den Veranstaltern des 3. Milleniums entschieden
zugute. Eine glückliche Akustik bringt den Klang ohne hallige
Umwege ans Ohr – nahezu ideale Aufführungsbedingungen
für Orgel-, Vokal- und Orchestermusik. Ein Umstand, der beide
Festival-Ensembleleiter überzeugt hat, Rupert Huber für
den WDR-Rundfunkchor wie Manfred Schreier, Professor für Dirigieren
an der Musikhochschule Trossingen.
Letzterer beschickt das Mülheimer Musikfest jetzt schon zum
zweiten Mal mit Chor und Orchester seiner Hochschulstudenten. So
problematisch die Verfassung studentischer Klangkörper für
gewöhnlich ist – in beiden Fällen konnte Schreier
weit übers übliche Repertoire hinausgehen, ohne ein Straucheln
zu befürchten. Performance-Unebenheiten wurden weitgehend kompensiert
durch höchste Motivation, ein anderes Wort für Hingabe.
Selten hörte man die Chöre des Mozart-Requiems so leidenschaftlich,
so herzzerfetzend, obwohl in Mülheim lediglich Bestandteil
einer anderen Komposition, der „Sieben Klangräume zu
den unvollendeten Fragmenten des Requiems“ von Georg Friedrich
Haas. Die Süßmayr-Fassung hineingestellt in eigentümlich
respondierende Klanggebilde mit starken Geräuschanteilen. Was
klingt uns da? Kirchenmusik? Orchestermusik in der Kirche? Oder
eine Tonkunst, die spürt, dass sich Alte und Neue Musik, Requiem
und Klangräume zum Requiem aus derselben Triebkraft speisen?
In diesem Sinn scheint in Mülheim ein Bewusstsein dafür
entstanden zu sein, dass Musik im Kirchenraum den Anschluss an die
Tradition der Moderne wiederfinden muss, mit der sie einmal identisch
war.
Risiken und Nebenwirkungen? – Wer wie Kirchenmusiker Gijs
Burger den Gospel- und Musical-Ruf ebenso als trügerische Verheißungen
begreift wie er die Pepping- und Distler-Ästhetik als kunsthandwerklichen
Sonderweg ablehnt, bewirkt mit solcher Aufkündigung liebgewordener
Genres fraglos Unsicherheit, Verunsicherung. Diese auszuhalten,
gehört zu den Sekundärtugenden der Utopie-Bereiten. Schließlich
weiß ja niemand zu sagen, worauf es letztlich hinauswill mit
Mozart-Klangräumen à la Haas oder einer Raummusik von
Sven-Ingo Koch, die als festivaleigener Kompositionsauftrag risikobereit
mit der Konzert-Idee kokettierte.
Dass das Mülheimer Presbyterium, so Burger auf Nachfrage,
bei solch fröhlichem Experimentieren mitzieht, mag auch mit
der Mischung zu tun haben. Immerhin erklang hier auch eine camouflierte
Traditionsmusik wie „O Liebe! – Süßer Tod
...!“, Dieter Schnebels Bearbeitung der Bach’schen Schemelli-Lieder
für Singstimme, gemischten Chor und Orchester, von den Trossingern
hinreißend musiziert. Von allen Aufführungen sei dies,
bekannte der Komponist hinterher, die schönste gewesen, was
auch so ausgedrückt werden darf, dass der Einstieg von Manfred
Schreier ins Mülheimer Utopisten-Fest ein Glücksfall war
und ist, Dirigier-Werkstatt, petrikircheneigene Jugendkantorei und
NRW-LandesJugendChor inbegriffen.
Am Grunde der Moldau wandern die Steine und im Altarraum der Mülheimer
Petrikirche waren es die WDR-Choristen, die sich, ausgerüstet
mit Perkussionshölzern, um eine Holzkiste scharten, die in
diesem Kontext an den kultischen Versammlungs- und Opfertisch wie
an einen Sarkophag erinnerte. Huber ließ einen „Rundgesang“
anstimmen – ein geläufiges Improvisationsmodell, umfunktioniert
zu einem Stück Neuland. „Rundgesang – Modem für
eine Gemeinschaft von Sängerinnen und Sängern und große
Trommel“ von Rupert Huber als Kompositionsauftrag des Westdeutschen
Rundfunks zur Uraufführung gebracht, bescherte der 7. Mülheimer
Neuen-Musik-Biennale ihr geheimes Klangsymbol. Das Verschüttete,
Verborgene, Vergrabene hervorrufen, wachklopfen. Utopie jetzt!