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nmz-archiv
nmz 2006/12 | Seite 18
55. Jahrgang | Dez./Jan.
Forum Musikpädagogik
Drumset ohne Sticks und Drums
Ein Erfahrungsbericht aus der Arbeit mit ehemaligen Straßenjungen
in Uganda · Von Birgit Ibelshäuser
Mitten in Kampala, der Hauptstadt von Uganda, befindet sich das
Armenviertel. Ein Ballungsgebiet von Menschen, das wie kein anderer
Stadtteil von Armut, Krankheit und Kriminalität geprägt
ist. Drogenkonsum, Vergewaltigung und Prostitution sind an der Tagsordnung.
Hier finden auch zahlreiche Kinder und Jugendliche, die keine Eltern
mehr haben oder verstoßen wurden, Unterschlupf. Sie finden
sich in Kinder- und Jugendbanden zusammen, denn ein Überleben
ist nur in der Gruppe möglich.
Hoffnung für die Straßenjungen im Slum bietet eine christlich
organisierte Sozialarbeit, die neben der Betreuung direkt vor Ort
auch einigen Straßenjungen die Möglichkeit gibt, in einem
Wohnprojekt außerhalb des Gettos zu leben und dort eine Schul-
beziehungsweise Berufsausbildung zu absolvieren. Im Rahmen meiner
Aufenthalte in Uganda hatte ich die Möglichkeit, mit diesen
Jugendlichen, die zuvor jahrelang in dem oben beschriebenen Umfeld
gelebt hatten, musikalisch zu arbeiten.
Nach einer ersten Phase der gegenseitigen Annäherung und des
Austauschens über unsere bisherigen Trommelerfahrungen, geprägt
von gegenseitigem Vor- und Nachspielen sowie Ausprobier- und Experimentierphasen,
stellte sich schnell heraus, dass das Drumset eine ganz besondere
Faszination auf die Jungen ausübte. Sie wollten gerne Drumset
lernen. Da wir keinerlei Instrumentarium zur Verfügung hatten,
stellte dies zunächst eine spannende Herausforderung dar.
Die beschriebenen Rahmenbedingungen und der Wunsch der Jungen,
Drumset zu erlernen, legten eine Herangehensweise nahe, die sich
an den Prinzipien der Elementaren Musikpädagogik (EMP) orientiert.
Besonders die im Folgenden benannten Prinzipien erwiesen sich aufgrund
des gegebenen Bedingungsfeldes für meine Arbeit mit den Jugendlichen
als relevant (vgl. dazu: Dartsch, Michael: Elementare Musikpädagogik
im anthropologischen Bedingungsfeld. In: Ribke, Juliane; Dartsch,
Michael (Hrsg.): Facetten Elementarer Musikpädagogik. Erfahrungen
· Verbindungen · Hintergründe. Regensburg: ConBrio,
2002, S. 311–327).
Die EMP verbindet musikalische Ziele mit persönlichkeitsbildenden
Zielen. Sie ist nicht fixiert auf die ausschließliche Arbeit
an einem Instrument, sondern arbeitet intermedial (verbindet also
verschiedene Ausdrucksmedien wie Stimme, Bewegung, Instrument) und
körperorientiert. Sie versucht, in einer Atmosphäre gegenseitiger
Akzeptanz, spielerisch ihre Ziele zu vermitteln und dabei Raum für
Kreativität und Experiment zu lassen.
Aufgrund der äußeren Gegebenheiten waren wir gewissermaßen
gezwungen, kreativ, intermedial und körperorientiert zu arbeiten.
Außerdem ermöglichte mir die Orientierung an den Arbeitsprinzipien
der EMP, den zum Teil unterschiedlichen Zielsetzungen gerecht zu
werden: Hatten die Jungen den Wunsch, alleine ihre musikalischen
Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verbessern, so war es mir gleichermaßen
ein Anliegen, neben ihrer musikalischen Entwicklung auch eine persönliche
Entwicklung anzustoßen.
Demzufolge begannen wir den Unterricht zunächst mit einer
gemeinsamen Experimentierphase, in der es darum ging herauszufinden,
was uns am besten als Instrumentarium dienen könnte. Wir entschieden
uns für eine Kombination aus Bodypercussion und Stimme. Mit
der Zeit ergänzten wir noch das ein oder andere Tomtom oder
Crashbecken in der Luft. Schläge in die Luft auf ein imaginäres
Tomtom oder Crashbecken begleiteten wir mit entsprechenden Stimmlauten.
Dabei war für mich die Selbstverständlichkeit, mit der
diese Jugendlichen mit Körper und Stimme agierten, sehr beeindruckend.
Geht doch bei gleichaltrigen deutschen Jungen eine gewisse Natürlichkeit
im (spontanen) Umgang mit Körper und Stimme ab einem gewissen
Alter häufig verloren und muss erst wieder mit sehr viel Fingerspitzengefühl
geweckt werden. Wir begannen also mit Hilfe von Bodypercussion und
Stimme, einige Drumset-Grooves zu erarbeiten. Die Jungen waren hoch
motiviert, einige besaßen aber zunächst auch eine äußerst
niedrige Frustrationsgrenze. Sie neigten dazu, Aufgaben, die sie
nicht direkt umsetzen konnten, sofort abzubrechen. Am meisten Freude
hatten die Jungen an Lerninhalten, die ich in spielerischer Form
vermittelte. Immer wieder verlangten sie nach neuen Spielformen.
Auch an dieser Stelle war ich im Vergleich zu dem mir bekannten
Verhalten vieler jugendlicher Jungen in Deutschland erstaunt über
ihre Lust am und ihr Bedürfnis nach Spiel. Im Spiel war es
ihnen möglich, ganz in die Musik einzutauchen, frei von Druck
und Erwartungshaltung zu agieren – und sicherlich auch, für
einen Moment ihre persönliche Situation zu vergessen. Das im
Spiel Gelernte hatten die Jugendlichen schließlich am Ende
unserer ersten Stunde als persönlichen Erfolg erlebt.
Aufgrund der Rahmenbedingungen war unklar, ob es möglich sein
würde, in dieser Form noch einmal mit den gleichen Jungen zu
arbeiten. So war für mich diese Phase zunächst abgeschlossen.
Umso mehr war ich erfreut, als die Jugendlichen das nächste
Mal, als ich sie sah, auf mich zugerannt kamen und mir alle unsere
Grooves und Patterns perfekt vorspielten. Sie hatten geübt,
ohne von mir in irgendeiner Weise aufgefordert worden zu sein –
und das ganz ohne Instrument oder mit selbst gebauten Instrumenten.
Für die Jungen schien es ganz normal zu sein, mit diesen Mitteln
und unter diesen Bedingungen zu üben. Häufig schränken
deutsche Jugendliche ihr Vorankommen an dieser Stelle durch ihre
von Konsum geprägten Bedürfnisse und ihre Erwartungshaltung
selber ein.
Unsere zweite Stunde, in der wir weitere Grooves und Hi-Hat-Figuren
erarbeiteten, sollte für dieses Jahr tatsächlich die letzte
sein. Erst über ein Jahr später begegnete ich den Jugendlichen
wieder. Sie erkannten mich sofort und spielten mir unaufgefordert
sämtliche Rhythmen, die wir gemeinsam erarbeitet hatten, vor.
Aber nicht nur das, einige hatten sich auch noch weiterentwickelt
und einer spielt inzwischen sogar in einer Band. Natürlich
folgten noch weitere gemeinsame Unterrichtsstunden, erweitert durch
zwei Gitarristen, einige Sänger und ein paar Trommelstöcke!
Sowohl für die Jugendlichen als auch für mich war das
gemeinsame Arbeiten eine persönliche Bereicherung. Besonders
beeindruckt haben mich ihr starker Wissensdurst, ihre Kreativität
und Experimentierfreude, ihr spontaner Umgang mit Körper, Stimme
und Bewegung und nicht zuletzt ihre Freude am Lernen. Bemerkenswert
war für mich ebenfalls die schnelle musikalische Entwicklung
der afrikanischen Jugendlichen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich für mich die Frage, warum
bei vielen Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft, die
unter wesentlich besseren Lernvoraussetzungen und Bedingungen lernen,
häufig eine vergleichbare Lernbereitschaft und ein entsprechend
großer Lernerfolg ausbleiben. Des Weiteren liegt die Frage
nahe, ob Eltern und Pädagogen nicht mehr Verantwortung dafür
übernehmen sollten, dass Kindern und Jugendlichen im Laufe
des Erwachsenwerdens der Zugang zu Körper und Stimme sowie
die Freude am Spiel und an Bewegung erhalten bleiben. Dafür
benötigen Kinder und Jugendliche Pädagogen, die Raum geben
für Kreativität und Spiel, und erwachsene Modelle, die
vorleben, dass Erwachsensein nicht zwangsläufig mit dem Verlust
von Phantasie und schöpferischer Tätigkeit einhergeht.
Das würde sicherlich nicht nur der Entwicklung unserer Kinder
dienen, sondern auch für die Lebensqualität der Erwachsenen
in unserer Gesellschaft eine Bereicherung darstellen.