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nmz-archiv
nmz 2006/12 | Seite 15
55. Jahrgang | Dez./Jan.
Kulturpolitik
Streichinstrumente – Rückgrat der klassischen Musik
Diskussionsrunde auf der Jahrestagung der European String Teachers
Association (ESTA) über die Krise der Streicher
Im Rahmen der Jahrestagung der deutschen Sektion der „European
String Teachers Association“(ESTA) fand in Bad Brückenau
eine Diskus-sion über die Zukunft der Streicher-ausbildung
in Deutschland statt.
Der
Streicherlehrer von heute muss im Besitz der neuesten methodischen
und technischen Kenntnisse sein.
Foto: Martin Hufner
Anschließend an ein Referat von Theo Geißler, in dem
er auf satirische Weise das „Sparpotenzial“ im Streicherberuf
aufzeigte, diskutierten Hartmut Karmeier (DOV), Theo Geißler,
Prof. Michael Dartsch (Hochschule Saarbrücken), Prof. Ulf Klausenitzer
und Agnes Stein von Kamienski (beide ESTA) unter lebhafter Beteiligung
des Plenums, ob angesichts einer jährlich wachsenden Zahl von
Teilnehmern am Wettbewerb „Jugend musiziert“ und zumindest
stagnierender Zuschauerzahlen in Sinfoniekonzert und Oper tatsächlich
von einer Krise gesprochen werden kann. Dabei scheint die Welt in
ländlich beziehungsweise kleinstädtisch strukturierten
Räumen Süddeutschlands vielleicht eher in Ordnung als
in den Großstädten, die aufgrund der wegziehenden „bürgerlichen
Mitte“ an kultureller Auszehrung leiden. Generell kann gesagt
werden, dass trotz allseits zunehmender medialer Verfügbarkeit
von Musik, bei Kindern und Jugendlichen die sogenannte klassische
Musik an Einfluss verliert. Kaum ein 14-Jähriger wird seinen
i-Pod mit Verdi-Opern bestücken, während auch die entsprechende
Elterngeneration eher der Wellness-Musik in Sauna und Konsumtempel
ausgesetzt ist, als sich nach Feierabend eine Schubertsinfonie anzuhören.
Insbesondere die Debatte um die Initiative „Das ganze Werk“
zeigt, wie wenig in unserer Gesellschaft die Bereitschaft verankert
ist, sich über mehr als zehn Minuten in komplexe musikalische
Werke einzuhören.
Liegt die Zukunft der Streicher also in Asien, von wo sich schon
seit langem Tausende junger Musiker aufmachen, um unsere Konzertpodien
zu erobern? Hat Deutschland seine ehemals reiche Musikkultur, angefangen
beim häuslichen Musizieren bis zur Einrichtung von Drei-Spartenhäusern,
selbst in Kleinstädten wissentlich und willentlich aufgelöst
zugunsten einer „Entertainmentkultur“ aus der Konserve?
Noch ist es Zeit, diese Entwicklung zu stoppen, wenn es gelingt,
eine breite Basis von Kindern und Jugendlichen zu schaffen, die
sich aktiv musizierend dem Trend zum leichten „Musikkonsum“
entgegenstellt. Venezuela hat es uns vorgemacht. Es genügt
nicht, das Restpotenzial an bürgerlicher Kultur auszuschöpfen,
sondern Musik muss wieder zum kulturellen „Grundnahrungsmittel“
der deutschen Gesellschaft werden, wie es Volker Biesenbender formulierte,
der während der Tagung einen kontrovers diskutierten Vortrag
hielt. Die Musik muss in die Kindergärten und Schulen gebracht
werden, zum Beispiel durch enge Vernetzung von Orchester und Schule,
wie sie Hartmut Karmeier erläuterte: Kommentierte Konzerte,
Klassenpatenschaften, Proben zum Anfassen schaffen bei Kindern ein
großes Verständnis für das Funktionieren von Orchester
und Oper und die Lust auf Selbertun. Die Vernetzung von EMP und
Kindergarten zeigte Michael Dartsch als gute Möglichkeit auf,
bereits kleine Kinder für die Klangwelt klassischer Musik zu
begeistern. Tobias Großhauser stellte neue Technologien und
ihre Anwendungsmöglichkeiten für technikbegeisterte Lehrer
und Schüler vor. Das Angebot reicht von Carbongeigen über
Fernunterricht mit Webcam bis hin zu sensor- und lasergestützen
Techniken, welche die Klangmöglichkeiten der Streichinstrumente
erweitern, beziehungsweise didaktische Hilfen bei Arrangement und
Unterricht bieten. Die Welt der Musik ist derart weit gefächert,
dass es sogar möglich sein sollte, Jugendliche über einen
ganz anderen Zugang für klassische Musik zu begeistern, haben
nicht sogar Rapper wie Nas als Basis eines Stückes zum Beispiel
„Für Elise“ verwendet. Die verlässliche Halbtagsgrundschule
und Ganztagsschule bietet neue Zeitfenster für die Zusammenarbeit
mit der Musikschule oder privaten Musikerziehern, wir müssen
sie nutzen. Würde ein Teil des Kindergeldes als „Bildungsgutschein“
ausgezahlt, müsste er für musische oder sportliche Angebote
eingesetzt werden.
Die ESTA stellt sich jedes Jahr der Frage, wie die als „schwer“
verrufenen Streichinstrumente, die das Rückgrat der klassischen
Musik bilden, Kindern und Jugendlichen vermittelt werden können.
Der Verband versucht, die Gratwanderung zwischen methodischem Spezialwissen,
wie im Vortrag von Prof. Thomas Brandis zum Thema „Warum Aufstrich?“,
und zu Musikern wie Volker Biesenbender, der von der „Wiederentdeckung
des Einfachen“ sprach, zu leisten. Die Musik, und dazu gehört
eben auch unsere musikalische Tradition, braucht kundiges Publikum,
um nicht unterzugehen. Die Bildung eines solchen Publikums kann
nur durch lebendige, engagierte Musiker geschehen, die bereit sind,
sich auf den Weg der Musikvermittlung zu begeben. Musik muss ein
fester Bestandteil der Stundentafel bleiben, auch und gerade in
Haupt- und Realschulen. Hat ein großer Teil der Gesellschaft
keinen Bezug mehr zur klassischen Musik, wird es keine Berechtigung
geben für die Existenz öffentlich geförderter Orchester
und Opernhäuser. Es liegt in unser aller Interesse, diesen
Zugang offenzuhalten, unserem Berufsstand zuliebe und nicht zuletzt
der Gesellschaft. Denn was wäre eine Welt ohne Musik und was
wäre Musik ohne unsere musikalische Tradition?