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nmz-archiv
nmz 2006/12 | Seite 39
55. Jahrgang | Dez./Jan.
Landesmusikräte
Von „kritzeligen Hieroglyphen“ zu Partituren
Kompositionsworkshop für Mädchen und junge Frauen in
Münster
Wie lang fühlt sich eine Minute an, was sind ein paar Sekunden
und wieso verrinnt die Zeit plötzlich viel schneller als gedacht
oder bleibt sogar stehen? Zwei Wochenenden lang Musik, Klänge
und Rhythmus erlebten wir, die neun Teilnehmerinnen des „Kompositionsworkshops
für Mädchen und junge Frauen“ zum Thema „Musikalische
Zeit gestalten“, gefördert vom Ministerpräsidenten
des Landes NRW und veranstaltet vom Landesmusikrat in der „Westfälischen
Schule für Musik“ in Münster. Hier waren wir nicht
nur Konsumentinnen, sondern in erster Linie Produzentinnen, besser
gesagt Komponistinnen, und jede von uns hatte ein paar musikalische
Gedanken im Kopf herumschwirren.
Zuerst aber stellten sich unsere Dozentinnen des ersten Wochenendes
vor: Karin Haußmann und Elena Mendoza López. Die erfahrenen
Komponistinnen wiesen uns ein wenig in die Welt ihrer kompositorischen
Gedanken ein, erweiterten Horizonte, zeigten Fremdes, aber auch
Bekanntes aus dem Bereich der Moderne. Das Ganze wurde aufgelockert
durch kleine spielerische Notationsübungen. Wir „spürten“
Zeit, diskutierten und lernten das Wundern neu kennen. Statt ermüdender
Interpretationen fassten wir unsere Höreindrücke zusammen
und fanden so für uns heraus, wie vielfältig Zeit musikalisch
zu gestalten ist.
So manche hatte noch das eine oder andere Notationsproblem, denn
die Hürde, seine musikalischen Ideen in Schrift zu fassen,
ist größer, als man denkt. Die Dozentinnen standen uns
mit Rat und Tat zur Seite und halfen mit Engelsgeduld, aus kritzeligen
Hieroglyphen spielbare Partituren zu machen. Schließlich kamen
die Musiker hinzu. Ein Violinist, eine Cellistin, ein Schlagzeuger
und ein Klarinettist, Profis und begnadete Studenten, stellten ihre
Instrumente vor. Doch war mit dem einfachen Auf- und Abstrich, dem
Trommelwirbel oder dem Glissando nicht Schluss. Wir erlernten, Klangvorstellungen
umsetzbar zu machen, lernten Fachbegriffe, probierten aus und konnten
sofort mitschreiben, wie das Spielen mit dem Bogenholz am Steg,
und zwar nur gehaucht, zu notieren sei, was dagegen das Streichen
über Klangstäbe ausmachen kann und welche Gefühle
Vierteltontriller hervorrufen können. Im Keller der Musikschule
ging es nun an die Arbeit. Wir versuchten, schrieben auf, verwarfen
und überarbeiteten unsere Ideen, hatten stets Einzelunterricht
bei den Dozentinnen und arbeiteten, bis die Köpfe rauchten,
Radiergummis aufgebraucht und Bleistifte zu Stummeln geworden waren.
Zwei Wochenenden später traf man sich wieder. An Stelle von
Elena Mendoza López war nun David Graham unser zweiter Dozent.
Stücke mussten beendet und in Reinschrift gebracht werden.
Kopierer liefen auf Hochtouren, Korrekturen wurden angebracht, Notenpapier
zerschnibbelt und zusammengeklebt. Der erste Eindruck: Durch die
Glasscheiben des Konzertsaales konnte man leuchtende Komponistinnenaugen
sehen und angestrengte Interpretenblicke. Das hektische Gebrabbel
und Noteninferno wich einem aufgeregten Raunen, einem Tief-Durchatmen
und begeistertem Zittern. Zur Abschlusspräsentation waren Verwandte
und Freunde angereist. Jede von uns stand auf, sagte ein paar Worte,
lauschte andächtig, schüttelte Hände und verbeugte
sich. Interpreten und Dozenten bewiesen enormen Einsatz und großartige
Leistung, und der Applaus bezeugte dies. Als Dankeschön folgte
noch eine Performance aller Workshop-Teilnehmerinnen, rhythmisch
verpackt und tänzerisch inszeniert, mit abschließendem
Freudengeheul, warum wir all das erfahren konnten: „Weil ich
ein Määäääädchen bin!“