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nmz-archiv
nmz 2006/12 | Seite 6, 8
55. Jahrgang | Dez./Jan.
Magazin
Die alten Sänger sagen noch immer die Wahrheit
Nie waren sie so wertvoll wie heute: Bob Dylan, Johnny Cash,
Leonard Cohen, Neil Young und Co. · Von Helmut Hein
„Moderne Zeiten“: Nach 30 Jahren erobert die lebende
Legende Bob Dylan mit seinem 2006er-Album „Modern Times“
wieder Platz eins der Billboard-Charts. Und das ist beileibe kein
Einzelfall: Johnny Cashs Ruhm wächst auch postum, seine „American
Recordings“ –das fünfte Album dieser Serie ist
eben erschienen – gelten als Meisterwerke der Pop-Geschichte.
Und Neil Young war nicht nur in den späten 80er- und frühen
90er-Jahren der „Grandfather of Grunge“, der Pate der
neuen Wilden eines rüden Gitarren-Rocks, sondern erobert gerade
mit dem Jonathan-Demme-Film „Heart of Gold“ die Programmkinos.
Und was tut sich sonst noch in der Generation 60 plus? Sehr viel!
Leonard Cohen ist längst eine Kulturbetriebs-Ikone und ein
„must“ für den anspruchsvollen Soundtrack-Bastler.
Der Townes-van-Zandt-Kult wird durch das Ableben des gebrochenen
Folk-Bohemien nicht getrübt und hat mittlerweile die Kinos
erreicht. Und ein Country-Outlaw wie Kris Kristofferson, gerade
70 geworden, ist so vital wie eh und je und macht sich böse
Gedanken über Amerika und den Zustand der Welt. Was ist das
Erfolgsgeheimnis der Senioren-Songwriter?
Johnny
and June (Foto: J.T. Philips/Sony).
Forever young – hieß es einst. Das war aber keine Werbebotschaft
für rasch wechselnde Boy Groups, sondern ein existentielles
Mantra und ein politisches Versprechen. Nie so werden wie die über
30, von denen die Parole sagt, dass man ihnen nicht trauen darf.
Selbst wenn man selbst schon ein angegrauter Spät-Twen ist.
Inzwischen sind ein paar Jahrzehnte ins Land gegangen und der Slogan
hat sich verkehrt: Trau keinem unter 45 oder vielleicht doch besser
50. „The Times They Are A-Changin‘“? Mit Sicherheit!
Und nicht mehr die Jugend ist der beste Rohstoff der Revolte, sondern
das gut abgehangene, erfahrungsgesättigte und weltweise gewordene
Alter. Aber war Bob Dylan nicht immer schon alt? Oder zumindest
altklug? „Don’t lie to the young“, lügt,
bitteschön, die jungen Leute nicht an, war einer seiner zündendsten,
weil zutreffendsten Slogans schon zu einer Zeit, als er selbst noch
sehr jung war. Dylan, der vertrackte Pädagoge, der nicht an
Flausen im Kopf glaubt, sondern an eine Realitätserkundung
mit den Mitteln (und der Macht!) der Poesie. Schon Mitte der 1970er-Jahre
gingen Politik-Profs mit der Botschaft hausieren, man müsse
nicht immer nur Machiavelli oder Thomas Hobbes lesen. Bob Dylan
sei auch sehr lehrreich. Und kurz danach hieß es dann: Vielleicht
bekommt er den Nobelpreis. Dylan, der Lyriker? Oder eher der Exponent
einer Generation, die spätestens bei Rimbaud beginnt, permanent
den Surrealismus in den eigenen Visionen überbietet und vielleicht
irgendwann einmal die Hochkultur revitalisiert und rettet. Aber
Dylan war stets einer, auf den man, mit Brechts Worten, nicht bauen
konnte. Er erfüllte keine Erwartungen, er brach sie lustvoll.
Wer heute, im Film, dem jungen Dylan, satanisch und engelhaft zugleich,
begegnet, dem fällt vor allem eins auf: seine Spottlust, seine
unverblümte Sprach- und Haltungskritik. Die vor den eigenen
Fans nicht haltmachte. Irgendwann elektrifizierte er, zum allgemeinen
Entsetzen, die Folkgitarre. Dann fraternisierte er in der Johnny-Cash-Show
mit dem „Man in Black“ und überhaupt mit Country,
war als Soundtrack-Guru und hintergründiger Nebendarsteller-Artist
Teil von Peckinpahs „Pat Garret jagt Billy the Kid“-Spiel
und wurde spätestens in den End-70ern das, was fast alle seine
Altersgenossen auch wurden: erst Christ, dann Nationalist, der sein
Herz weit öffnete für die Sorgen der „Redneck“-Farmer.
Johnny Cash solo (Foto: Don Hunstein/Sony).
Einen Dylan-Tiefpunkt konnte man 1981 im Stade de Colombe, dem
alten Pariser Olympiastadion vor den Toren der Stadt, erleben. Draußen
herrschte fast Bürgerkrieg, die Elite-Polizei CRS verschoss
Tränengas und prügelte, scheinbar wahllos, auf junge Leute
ein. Drinnen fand ein im Vor-Video-Zeitalter fingerhutgroßer
Dylan nicht in seine eigenen Songs, raunzte sich eine Stunde lang
lieblos durchs Programm und verschwand. Das Ende einer Ikone? Von
wegen. Bob Dylan kehrte zurück. Seit („gefühlten“)
Jahrzehnten ist er auf seiner Never-Ending-Tour rund um den Erdball
unterwegs, zwar auch risikofreudig, jeder Abend ein Ereignis und
ein Unikat, aber nie mehr so schlecht wie in Paris.
Und in den letzten zehn Jahren produzierte er zumindest zwei Alben,
die es in späteren Jahrhunderten ohne weiteres neben Mozart
und Mahler aushalten werden: „Time Out of Mind“ (1997)
und „Modern Times“ (2006). Dylan, der Revolutionär,
ist längst ein widerständiger Konservativer, der, als
habe er sich einst nicht nach dem walisischen Dichter Dylan Thomas,
sondern nach Gottfried Benn benannt, mit den Beständen rechnet.
Sie konserviert. Aber eben auch weiterdenkt, -schreibt, -singt.
Dylans Spätwerk ist Resümee. Dessen, was war und verloren
zu gehen droht. Aber, paradoxerweise, auch all dessen, was vielleicht
nie entsteht, weil Kultur unter dem Namen Entertainment in eine
andere Richtung abdriftet. Dylans Rolle: Sagen, was keiner sagt.
Und vor allem: es so sagen (und singen!), wie es keiner sagt. Und
wo und wofür steht Dylan?
Das eben kann man nicht sagen. Jedenfalls nicht ohne weiteres.
Nur eins ist sicher: er ist eigen, widerständig, für Überraschungen
gut. Er ist eine Instanz. Das Herz schlägt im Gleichtakt mit
dem Herzen des Volkes. Er schaut allen aufs Maul. Aber er sagt nur
das, was ihm passt.
Leonard Cohen (Foto: Universal).
Das Alter ist eine merkwürdige Sache. Man kann nicht sagen,
dass Dylan (oder einer der anderen, von denen hier die Rede ist)
alt ist. Alt waren die Rolling Stones in ihren Performances Anfang
der 1970er-Jahre. Damals war Mick Jagger noch keine 30. Alt fühlte
sich Leonard Cohen Mitte der 1970er-Jahre. Da war er 40! Er, dessen
Erfindung und Spezialität für immer (scheinbar!) der reduzierte
Song war, das Pathos des Kargen, die Rhetorik der Leere, tat sich
plötzlich mit Phil Spector zusammen, dem Schöpfer des
„wall of sound“, des Höchstgeschwindigkeits- und
Brachial-Sounds. Und der Titel der Platte klang so, als wolle er
ein letztes Mal sein Image zu Geld machen: „Death of a Ladies‘
Man“ (1977). Manche meinten, das sei Cohens Ende. Aber er
kam zurück. Die Platten der 80er- und 90er-Jahre sind für
den ewigen „Tower of Song“ bestimmt. Ein zurecht mythischer
Song, der Hank Williams, dem Urvater, die verdienten „credits“
gibt. „Various Positions“ (1984) „I’m Your
Man“ (1988) und „The Future“ (1992), das ist eine
fast unüberbietbare Trilogie. Wovon handelt sie? Von Sex, Liebe,
Begehren nach dem Ende des „Ladies‘ Man“, aber
auch von harter Politik (kaum einer war damals, nach dem Mauerfall,
so illusionslos wie Cohen). Und von einer existenziellen Bestandsaufnahme,
die exemplarisch und beispiellos ist. Wer verstehen will, was es
mit Mann und Frau auf sich hat, der muss Cohen hören. Hollywood
tat es. Seit Mitte der 1980er-Jahre brach das große Cohen-Fieber
aus. Er sang, wovon viele Filme handeln wollten (ohne es letztlich
zu schaffen). Wer die Ära nach Georges Bataille auf den Begriff
bringen möchte, der sollte vielleicht ein Buch schreiben über
das Wort „naked“ in Cohen-Songs.
Neil Young, den man eben in Jonathan Demmes großartigem
Film sehen konnte, gezeichnet vom Alter, ein Monster der Vergänglichkeit,
aber voller Vitalität des Erinnerns, begabt mit einer Dankbarkeit
für alles, was war, Neil Young ist vielleicht auch oder sogar
mehr noch als Dylan groß geworden wegen seiner Irrtümer,
die eine Kehrseite sind seiner proteischen Lust am permanenten Experimentieren,
an der Verwandlung „Tag für Tag“. Aber auch einer
Empathie, die ihn politisch auf Abwege führen kann. Anfang
der 1980er-Jahre sympathisierte er mit Rea-
gan. Wie – ein wenig, fast maskiert –Dylan. Oder ganz
drastisch der wilde, scheinbar ungebärdige Iggy Pop. Um 1989
packte ihn der Stolz auf die freie, westliche Welt. Viele seiner
neuesten Pop-Songs sind eine Verarbeitung des „Nine-Eleven“-Traumas.
Neil Young macht da nicht immer „bella figura“. Er ist
das, was viele große Poeten und Sänger sind: sehr, sehr
durchlässig für das, was en vogue ist. Gar nicht so sehr
in den Kassen, sondern in den Herzen der Menschen, die von ihrem
Recht auf Irrtum reichlich Gebrauch machen. Aber bei Neil Young
kann man auch begreifen, was die „alten“ Sänger
so populär und zu verqueren Avantgardisten macht: Die Kraft,
an der eigenen Erfahrung festzuhalten; an einer Erfahrung, die immer
„verseucht“ ist, „kodiert“, aber doch ein
Dokument dessen, was an der Zeit ist. Nicht gereinigt, sondern voller
Widersprüche und „Knoten“. Townes van Zandt wäre
da ein weiteres gutes Beispielt: Ein Outlaw, obwohl er aus „guter“
Familie stammt. Ein Hobo und Herumtreiber. Mit einer Seele begabt,
die immer schon fast am brechen ist. Ein großer Melancholiker
der Ränder der Existenz. Seine Konzerte waren fast immer ruinös,
für ihn und für seine Zuhörer. Und doch gab es große,
charismatische Augenblicke, nah am „Sein“. Aber dieser
zarteste aller Sänger war auch ein Waffennarr, gemeingefährlich,
ein verbohrter Dickschädel. Einer, dem auf Erden nicht zu helfen
war. Ein Selbstzerstörer von Rang. Ein großartiger Songwriter,
dessen Ruhm nach seinem Tod eher wächst. Einer, der in der
großen Abwesenheit präsenter denn je ist.
Zu den großen Alten muss man natürlich auch die „Country-Outlaws“
zählen. Von den Überlebenden vor allem Willie Nelson,
den Neil Young eben vor laufenden Kameras um seine Gitarre beneidete,
„die beste von allen“. Und Kris Kristofferson, der dieses
Jahr 70 wurde. Der Sheriff in „Heaven’s Gate“.
Vielleicht die beeindruckendste seiner vielen großen Kinorollen.
Der lakonische Zeitgenosse, der in diesem Jahr eine seiner besten
Platten herausbrachte. Der unverblümt redet. Von dem was ist.
Was falsch gelaufen ist. Im eigenen Leben. Aber auch in der amerikanischen
Politik gerade der letzten Jahre.
Die alten Sänger sind eine Instanz geworden. Man könnte
sie die Unbestechlichen nennen. Die viel zu erzählen haben
und es auch tun. Anders als die großen Medien. Die auch wissen,
„was der Fall ist“, aber es vorziehen zu schweigen.
Weil Information und Meinung für sie längst vor allem
ein Geschäft sind. Und ein Mittel für die eigene Macht.
Die Macht der alten Sänger ist eine andere. Sie beruht vielleicht
vor allem darauf, dass das Leben schon fast vorbei ist. Dass sie
niemandem mehr etwas vormachen müssen.