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nmz 2006/12 | Seite 9
55. Jahrgang | Dez./Jan.
Magazin
Das Radebrechen als musikalische Verkehrsform
Zum Problem der Textverständlichkeit im Operngesang ·
Von Jürgen Kesting
„Was die Schönheit und den Wert, die wirkliche raison
d’être des Singens ausmacht, ist die Verbindung, ist
die unauflösliche Einheit von Klang und Gedanken. Es ist
nicht von Belang, wie schön ein Klang ist – wenn er
nichts ausdrückt.“ Reynaldo Hahn, „Du Chant“
Ein Blick auf die Programmzettel jedes deutschen Theaters, erst
recht auf die internationaler Festivals zeigt, dass in den Ensembles
Sänger aus aller Herren Länder zusammengewürfelt
sind. Das Radebrechen wird zur sprachlichen Verkehrsform –
ganz abgesehen davon, dass es schwer ist, den Klang von Sängern
aus verschiedenen Ländern werkgerecht zu homogenisieren. Das
Timbre jeder Stimme ist zunächst klanglich und artikulatorisch
geprägt von der Muttersprache des Sängers, und es bedarf
einer hohen Begabung, sich in einer neuen Sprache nicht nur verständlich,
sondern eloquent und expressiv mitzuteilen.
Ein negatives Beispiel von den Salzburger Festspielen 2006: die
Aufführung der „Zauberflöte“ unter Riccardo
Muti. Die Rollen der drei Damen waren mit Sängerinnen aus Lettland,
Frank-reich und Russland besetzt, die ihre Texte nicht richtig,
geschweige denn eloquent auszusprechen vermochten. Sind die Besetzungsnöte
schon so groß, dass drei mittlere Partien nicht nach idiomatischen
Kriterien besetzt werden können? Oder sollte es Gleichgültigkeit
gegenüber der Sprache – dem Sinnträger des Werks
– sein?
In Bayreuth dürfte es seit Jahrzehnten keine Aufführung
des „Holländer“ oder des „Lohengrin“,
von „Der Ring des Nibelungen“ oder von „Tristan
und Isolde“ gegeben haben, die ausschließlich mit deutschen
Sängern – oder mit der deutschen Sprache mächtigen
Sängern – besetzt gewesen wäre. In der gleichen
Zeit konnte keine einzige Oper von Verdi im Plattenstudio ausschließlich
mit italienischen Sängern aufgenommen werden. Frank-reich hat
eine essentielle Qualität des französischen Gesangs –
die plastische Diktion – nach dem Zweiten Weltkrieg preisgegeben,
weil an den großen Bühnen wie im Studio internationale
Star-Besetzungen für wichtiger angesehen wurden als die idiomatische
Qualität. Zwar gab und gibt es unter ihnen polyglotte Künstler,
die durch Akkulturation zu deutschen oder italienischen oder französischen
Sängern wurden, aber sie sind nicht in der Mehrzahl. Die wenigsten
aber sind in der Lage, die vier Nasalverbindungen, die fünfzehn
Vokalklänge, die Liaisons oder Endsilben so zu singen, wie
es von Pierre Bernac in seinem Buch „Die Interpretation des
französischen Lieds“ dargelegt worden ist. Für die
Sänger unserer Zeit sollte die Kenntnis dieser Bücher
verpflichtend sein. Dass dieser Prozess der Akkulturation möglich
ist, hat die amerikanische Mezzo-Sopranistin Susan Graham mit ihren
Berlioz-Aufnahmen ebenso bewiesen wie durch ihre Salzburger Aufführung
von „Iphigénie en Tauride“.
Singen als Sinnvermittlung
„Ohne eine gute Aussprache beraubt der Sänger die
Hörer um einen großen Teil des Zaubers, den die Vokalmusik
mit den Mitteln des Wortes entfaltet.“
Pier Francesco Tosi, „Opinioni de’ cantori antichi
e moderni o sieno Osservazioni sopra il canto figurato“
Seit der Frühgeschichte der Oper besteht Einigkeit darüber,
dass – so der Hofbeamte Carlo Magno in Mantua nach der Aufführung
von Claudio Monteverdis „Orfeo“ – „alle
Mitwirkenden musikalisch sprechen“. Anders gesagt: dass die
Musik im Dienst der Sinnvermittlung zu stehen hat. So heißt
es in einem Traktat von Ottavio Durante aus dem Jahre 1608: „Die
Sänger müssen danach streben, den Sinn dessen zu erfassen,
was sie zu singen haben, besonders wenn sie solo singen, damit sie
dadurch, dass sie dies selbst verstehen und sich zu eigen machen,
es ihren Zuhörern zum Verständnis bringen können.“
Diese Musiksprachlichkeit geriet ein Jahrhundert später durch
sängerische Eitelkeit in Gefahr und provozierte den berühmten
Traktat von Pier Francesco Tosi: „Opinioni de’ cantori
antichi e moderni“. Diese Eitelkeit manifestierte sich im
Übermaß „willkürlicher“ Verzierungen,
die das Wort überwucherten und damit dessen Sinn zerstörten.
Gleichwohl sind Triller, Mordenten, Gruppetti und Appoggiaturen
(zur Wortakzentuierungen wie zur melodischen Hervorhebung) unverzichtbare
Verzierungen der Melodie, und zugleich dienen sie der Intensivierung
des Wortes. Studiert man Vivica Genauxs Aufnahmen einiger für
Farinelli geschriebener Arien, zeigt sich deutlich, dass lange melismatische
Figuren für expressive Wortmalerei gebraucht werden. Auch Cecilia
Bartoli und der peruanische Tenor Juan Diego Flórez verstehen
sich im verzierten Gesang auf eine eloquente und nuancierte Wortbehandlung.
Die Basis der Gesangssprache von Händel, Scarlatti und Vivaldi
bis hin zu Mozart, Rossini, Bellini und Donizetti – gemeinhin
unter den Begriff „Belcanto“ subsumiert – war
zum einen die italienische Sprache, zum anderen eine gemeinsame
vokale Grammatik. Alle Sänger Mozarts waren – abgesehen
von denen der „Zauberflöte“ – entweder Italiener
oder, wie zum Beispiel Valentin Adamberger, italienisch geschult.
Adamberger, der erste Sänger des Belmonte, war in Italien als
Adamonti bekannt. Ludwig Fischer, der erste Osmin, hatte bei Anton
Raaff, dem ersten Sänger des Idomeneo, studiert, und dieser
war aus der Schule des Kastraten Antonio Bernacchi hervorgegangen,
dem Großmeister der Bologneser Gesangsschule, die für
jene mächtigen Sprungfiguren bekannt war, die Mozart in die
Partie des Osmin einschrieb. Er folgte der Maxime, dass er es liebe,
„einem Sänger die Aria anzupassen wie ein gut gemacht’s
Kleid“. Aber auch der verzierte Gesang stand im Dienst des
Ausdrucks. Als Mozart die 1777 für Josepha Duschek geschriebene
Andromeda-Arie „Ah, lo previdi … Deh, non varcar“
KV 272 zusammen mit Aloisa Weber einstudierte, mahnte er die Wahrheit
des dramatischen Ausdrucks an: „… ich empfehle Ihnen
so viel als möglich Ausdruck – bedenken Sie wohl den
Sinn und die Gewalt der Worte – versetzen Sie sich ernstlich
in den Zustand und die Lage Andromedas!“
Der oft zitierte Brief, in dem Vincenzo Bellini sein Ringen um
dramatische Wahrheit beschreibt – „... in mein Zimmer
eingeschlossen, beginne ich, die Partie des Charakters im Drama
mit allem Feuer der Leidenschaft zu deklamieren und beobachte unterdessen
die Flexionen meiner Stimme, die Hast oder Ermattung der Aussprache
unter diesen Umständen … und dabei entdecke ich die musikalischen
Motive und die richtigen Tempi“ –, dieser Brief also
mag eine Erfindung seines biographischen Witwers Florimo sein, aber
es ist eine erfundene Wahrheit. Gleichwohl war Bellini kein Musikdramatiker
wie Wagner, der seine Texte – gerade auch die oft verlachten
Lautgebilde – nach den Kriterien ihrer Musikalität oder
besser: ihrer Sanglichkeit – abfasste.
Glaubwürdig ist allerdings der Bericht des Grafen Barbò,
der Bellini und Rubini bei einer Probe zu „Il Pirata“
erlebte. Das unbeteiligt singende Tenor-Idol mahnte der Komponist:
„Überlegen Sie, ob Sie Rubini sind, oder denken Sie daran,
ob Sie Gualtiero sind? … Geben Sie zu, dass Ihnen meine Musik
gleichgültig ist, weil sie Ihnen nicht die gewohnten Möglichkeiten
gibt. Wenn ich mir aber nun in den Kopf gesetzt habe, ein neues
Genre zu schaffen und zu diesem Zwecke einen musikalischen Stil,
der strikt die Worte ausdrückt und das Singen und das Drama
zur Einheit verschmilzt, – soll ich das etwa nur deshalb aufgeben,
weil Sie mich nicht unterstützen wollen? Alles, was Sie müssen,
ist, dass Sie nicht an sich denken und sich mit aller Kraft in den
Charakter versetzen, den Sie verkörpern.“
Vom innersten Wesen der musikalischen Gebärde
„Die höchste Reinheit des Tons, die höchste
Präzision und Rundung, die höchste Glätte der Passagen
… wie die höchste Reinheit der Aussprache bilden das
Fundament für den Gesangsvortrag. … Was kann der Affekt
hervorbringen, wenn er die organischen Möglichkeiten überschreitet?“
Richard Wagner
Im 19. Jahrhundert ging mit der Entwicklung der Nationalopern jene
auch sprachlich fundierte Basis einer gemeinsamen Gesangssprache
verloren. Bewahrt werden konnte allein die Technik des Singens;
die Formeln der belcantischen Gesangssprache aber ließen sich
nicht erhalten. Die Eigenarten der deutschen Sprache waren es, die
Wagner als Hemmnis für die Entwicklung einer deutschen Gesangskunst
ansah. Können in der italienischen Sprache, so schreibt er,
die „äußerst dehnbaren Vokale durch die anmutige
Energie ihrer Konsonanten zu wirksamen Klangkörpern“
gebildet werden, so enträt das Deutsche des Wohlklangs. „Eine
Sprache mit meist kurzen und stummen, nur auf Kosten der Sinnverständlichkeit
dehnbaren Vokalen, eingeengt von zwar höchst ausdrucksvollen,
aber gegen allen Wohlklang durchaus rücksichtslos gehäuften
Konsonanten, muss sich zum Gesange notwendig ganz anders verhalten
als jene vorerwähnten Sprachen.“ Für die Entwicklung
des deutschen Gesangs sei es entscheidend, das richtige Verhältnis
zwischen Vokalen und Konsonanten zu finden.
Wagner erkannte deutlich, dass die traditionelle Gesangsausbildung
gerade in dieser Hinsicht an ihre Grenzen stoßen musste. „Das
Modell des italienischen Gesanges, des einzig als klassisch stilistisch
uns vorschwebenden, ist auf die deutsche Sprache nicht anwendbar;
hier verdirbt sich die Sprache und der Gesang wird entstellt: Und
das Ergebnis ist die Unfähigkeit des heutigen deutschen Operngesanges.
Die richtige Entwicklung des Gesanges auf der Grundlage der deutschen
Sprache ist daher die gewiss außerordentlich schwierige Aufgabe,
deren Lösung zunächst glücken muss.“ Dass die
damaligen deutschen Sänger für den dramatischen Vortrag
in seinem Sinne ungeeignet waren, führte Wagner auf die „Bildung
nach dem fremden Gesangstypus“ und, als Folge, auf die Vernachlässigung
und Entstellung der eigenen Sprache zurück.
Wenn Wagner vom „Modell des italienischen Gesanges“
sprach, war also in erster Linie die musikalische Manier gemeint,
nicht aber die Methode der Stimmbildung selber. Liege der Charakter
des italienischen Gesangs im „langgedehnten Vokalismus“,
so müsse der deutsche Gesang geprägt sein vom „energisch
sprechenden Akzent“. Damit war freilich nicht jener Sprechgesang
gemeint, für den George Bernard Shaw die heute noch aktuelle
Formel vom „Bayreuth bark“ fand. Nein, mit ebenso energischem
Akzent betonte er, „dass hierbei eine eigentliche Verkümmerung
des Gesangswohllautes nicht aufkommen dürfe“. Folglich
soll es auch keinen Unterschied geben zwischen deklamierten und
gesungenen Phrasen: „Meine Deklamation ist zugleich Gesang
und mein Gesang Deklamation.“ Die Voraussetzungen dazu hat
er geschaffen unter anderem durch den Rückgriff auf die Alliteration
und den Stabreim. Dabei lag es nicht in der Absicht des Komponisten,
dass der Sänger alle Iterationen mit heftigen Akzenten versieht.
Im Gegenteil, diese Wiederholungen sollen vielmehr ihren eigenen
rhythmischen Effekt machen und den Wohllaut der tönenden Vokale
zur Geltung bringen. Aus der Wortsprache soll eine volle, klingende
Tonsprache entbunden werden. Aus dem Versmaß ergibt sich der
Rhythmus, durch den Endreim die Melodik. Der Sprachakzent soll aber
nur da gesetzt werden, wo er sich „zufällig der Melodik
anschließt“ – auch dies ein eindeutiges Votum
gegen den Sprechgesang. Von entscheidender Bedeutung sind die in
Wagners Texten gezielt eingesetzten konsonanten Klinger. In den
Aufnahmen von Lotte Lehmann, Frida Leider, der jungen Kirsten Flagstad,
Maria Müller, von Franz Völker, Lauritz Melchior oder
Friedrich Schorr widr deutlich, wie die Liquide (l und r) und die
Nasale (m und n) oder auch die Labio-Dentale in der Wortmitte gleichsam
als Gleitmittel und auslautend das Ausschwingen einer Phrase ermöglichen.
Dass sängerische Unzulänglichkeiten durch darstellerischen
Einsatz, und dazu gehört auch das heftige verbale Agieren,
wettgemacht werden können – wie heute oft, und gerade
unter Berufung auf Wagner, behauptet wird –, lässt sich
durch die Ausführungen des Komponisten nicht rechtfertigen.
Im Gegenteil. „Lässt sich der Sänger von seinem
vorzubildenden Charakter überwältigen, steht er nicht
mit der notwendigen Beherrschung über dem ganzen Gebilde seiner
Darstellung: So ist gewöhnlich alles verloren. Man vergisst
sich, man singt nicht mehr, sondern man schreit, schluchzt. Die
Natur zieht dann nicht selten die Kunst aus, und der Hörer
steht plötzlich, unangenehm überrascht, auf dem Markt.“
Einheit von Klang und Gedanke
Die von Wagner beschriebene Einheit von Klang und Gedanke setzt
in der Aufführungspraxis voraus, dass auf „größte
Deutlichkeit, und zwar zunächst der Sprache, zu halten [ist].
Eine leidenschaftliche Phrase muss verwirrend und kann abstoßend
wirken, wenn ihr logischer Gehalt unerfasst bleibt; um diesen von
uns mühelos aufnehmen zu lassen, muss aber die kleinste Partikel
der Wortreihe sofort deutlich verstanden werden können: ein
fallengelassener Vorschlag, eine verschluckte End-, eine vernachlässig-te
Verbindungssilbe zerstört sogleich diese nötige Verständlichkeit.
Diese selbe Vernachlässigung trägt sich aber unmittelbar
auch auf die Melodie über, in welcher durch das Verschwinden
der musikalischen Partikeln nur vereinzelte Akzente übrigbleiben,
welche, je leidenschaftlicher die Phrase ist, schließlich
als bloße Stimm-Aufstöße vernehmbar werden, von
deren sonderbarer, ja lächerlicher Wirkung wir einen deutlichen
Eindruck erhalten, wenn sie aus einiger Entfernung zu uns dringen,
wo dann von den verbindenden Partikeln gar nichts mehr vernommen
wird.“ Dieser Passus ließe sich heute in so gut wie
jede Kritik einer Wagner-Aufführung einfügen.
In dem Musical „My Fair Lady“ spottet Professor Higgins
über Sänger, „die es nicht schert, was sie sagen,
wenn sie es nur richtig aussprechen“. Beispiele – als
partes pro toto – sind die Aufnahmen von Wagners „Tristan
und Isolde“ unter Antonio Pappano und von „Parsifal“
unter Christian Thielemann mit Plácido Domingo. Dass der
spanische Tenor in aller Welt umjubelt wurde, verdankt er einem
im Wagner-Gesang selten gewordenen stimmlichen Wohlklang und der
Kantabilität in lyrisch-gebundenen Phrasen. Um die Artikulation
der Texte steht es allerdings, gerade wenn es um die Bildung kurzer,
syllabischer Passagen geht, nicht so gut, dass wirklich jede kleinste
„Partikel der Wortreihe sofort deutlich verstanden werden“
könnte. Sorgt die Artikulation für die Verständlichkeit,
so sichert die Aussprache die Eloquenz und die Expressivität
des Wortes. Es liegt nicht nur an der unzureichenden Lautung von
Vokalen – insbesondere des >E< – und einiger Diphthonge,
dass es dem spanischen Tenor nicht gelingt, im Klang – Linguisten
würden von einer Lautpantomime sprechen – das „innerste
Wesen der menschlichen Gebärde“ abzubilden. Mit der korrekten
Wortsprache allein ist es nicht getan. Es ist die „Intonation“,
die Art und Weise des Sprechens, in der ein Subtext anklingt. Der
kanadische Tenor Jon Vickers, der so-eben seinen 80. Geburtstag
feierte, war vor idiomatischen Fehlern nicht gefeit, doch überzeugte
er immer durch die Einheit von Klang und Gedanke: Parsifal: „Amfortas!“
Zwei Fs und ein E. Wie gelingt es, im Klang den Erkenntnisschock
des reinen Toren auszudrücken: dass Parsifal in diesem Moment
begriffen hat, was Sünde ist? Florestan: „Gott!“
– es ist ein einziges G, das spüren lassen muss, dass
dieser Mann alles verloren hat, dass er seiner Frau entrissen worden
ist, dass er unschuldig im Gefängnis sitzt und vom Tod bedroht
ist und doch seinen Glauben an Gott nicht verloren hat. –
Die Antwort kann ein Sänger nur geben, wenn Stimme und Geist
zur Einheit werden.