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nmz-archiv
nmz 2006/12 | Seite 12
55. Jahrgang | Dez./Jan.
Nachschlag
Die totale Gesellschaft
Vor kurzem drohte ein Leserbriefschreiber im „Spiegel“,
er werde jetzt Kindergeld beantragen. Denn das stehe ihm zweifellos
zu. Zwar habe er keine Kinder, aber die „Geräte“
dafür stünden bereit. Das war, natürlich, an die
Adresse der GEZ („Schon GEZahlt?“) und der Medien-Politiker
gerichtet. Die nämlich sind unendlich einfallsreich, wenn es
darum geht, Gebühren für Leistungen einzutreiben, die
man gar nicht in Anspruch nimmt und an denen man auch nicht interessiert
ist. Die Gesellschaft ist längst so „total“ geworden
und der Bürger so sehr einem Normalisierungszwang unterworfen,
dass der Andersdenkende und -lebende in ihren Konzepten gar nicht
mehr vorkommt und sich jeder, der abweicht, bloß einem bösen
Verdacht aussetzt: Der profane Gebühreneintreiber und seine
„Zentrale“ können sich einfach nicht vorstellen,
dass es ein Leben ohne Fernsehen geben kann. „Total“
ist die Gesellschaft mittlerweile auch in anderer Hinsicht. Wer
ein schlichtes Telefon möchte, mit dem man anrufen und Anrufe
entgegen nehmen kann, der ist gezwungen, ein paar hundert Funktionen
mitzukaufen, welche die Hersteller offenbar für unverzichtbar
halten. Der „user“ wird da gar nicht gefragt. Fatal
könnte sich das für die auswirken, die einen PC haben,
um mit ihm zu arbeiten (schreiben, archivieren), jetzt aber erfahren
müssen, dass es sich in Wahrheit um einen Fernseher oder zumindest
um ein Radiogerät handelt, für das man Gebühren entrichten
muss. Denn es kommt nicht darauf an, was man tut, sondern was man
tun könnte. Der „Spiegel“-Leser hat das begriffen:
Nicht nur Kinder, die man hat, sondern auch Kinder, die man haben
könnte, begründen einen Kindergeldanspruch. Weil „die“
Wirtschaft auf die Gebührenpflichtigkeit von PCs eklig reagiert,
gehen die Medienpolitiker gleich einen ganzen gewaltigen Schritt
weiter und sehen den „Stein der Weisen“ in einer veritablen
Gebühren-Revolution: Jede Person, jeder Haushalt muss zahlen.
Diese universelle Medienabgabe befreit sich vom letzten Erdenrest
(„Vorrätighalten“ eines wie immer gearteten Geräts,
ganz gleich, ob und wie man es nutzt) und geht davon aus, dass,
„im Prinzip“, jeder ein Mediennutzer ist. Und wenn er
sich der „Nutzung“ eines Mediums verweigert, das der
normale Bürger ganz selbstverständlich nutzt, dann darf
er nicht auch noch einen „geldwerten“ Vorteil davon
haben. Warum soll der gestresste Unternehmer für seine PCs
zahlen und der Hartz IV-Empfänger nicht, bloß weil er
sich darauf versteift, ausschließlich Bücher und Zeitungen
zu lesen. Der Gedanke, der dahintersteckt, lautet in etwa: Öffentlich-rechtliche
Medien sind eine feine Sache, für die Weiterentwicklung von
Kultur, Demokratie etc unerlässlich und man muss deshalb dafür
sorgen, dass die „Finanzierungsbasis“ nicht wegbröckelt.
Der Einzelne mit seinen einsamen Entscheidungen (und merkwürdigen
Vorlieben!) kann sich da nicht einfach aus der Verantwortung stehlen.
Das gilt im übrigen auch für ein Kultur-Medium bzw.
eine Sozialisations-Instanz wie den Kindergarten, den manche am
liebsten schon vom zweiten Lebensjahr in Vorschule (fürs Leben)
umtaufen würden und dessen Besuch deshalb verpflichtend sein
sollte. In einer totalen Gesellschaft, die weiß, was für
den Einzelnen und für alle gut ist und die sich Gesetz für
Gesetz und Veraltungsakt für Verwaltungsakt in mühsamen
Schritten dem Endzustand des gemeinsamen Heils nähert, kann
und darf es nicht entscheidend sein, was „die“ Eltern
wollen (denn es geht ja um die Zukunft ihrer Kinder) und was den
Kindern am besten gefällt (denn die sind ja noch unmündig
und deren „Mündigkeit“ soll und muss erst ganztägig
von Fachleuten hergestellt werden).
Und wenn die Kinder in der fremden Welt verloren gehen, in der
bekanntlich das Böse lauert? Dann hilft das Handy an der reißfesten
Kette um den Hals, das es mithilfe von GPS und demnächst Galileo
erlaubt, den Aufenthaltsort der Kleinen Minute für Minute millimetergenau
festzustellen. Was heißt der Kleinen? Auch die dementen Großeltern,
die sich in ihrem Alzheimer-Wahn auf Abwege verirren, können
zuverlässig überwacht und, im Fall des Falles, wiedergefunden
werden. Und sogar den Ehepartner könnte man ... aber da gibt
es noch persönlichkeitsrechtliche Bedenken. Vorläufig.
Bis die erste Gattin klagt, dass sie ihre AIDS-Infektion hätte
vermeiden können, wenn nur nicht Gesetzgeber und Behörden
...
Natürlich gibt es auch in einer durchmedialisierten totalen
Gesellschaft, wo man jeden permanent „verorten“ kann,
damit er auf dem Platz bleibt, der für ihn und uns der beste
ist und nicht „verloren“ geht, Probleme. Wollte man
Schulkindern nicht eben erst ihr Handy verbieten, damit sie sich
nicht auf dem Pausenhof Pornos herunterladen? Wie kann man erreichen
und garantieren, dass man sie im Blick behält, ohne dass sie
selbst „alles“ sehen können? Nichts ist so heillos
wie die Suche nach dem Heil.