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Ausgabe 2006/12
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nmz 2006/12 | Seite 50
55. Jahrgang | Dez./Jan.
Bücher

Peter Pannke im innersten Indien

Musikethnologische Entdeckungsreisen in Schrift und Ton

Peter Pannke: Sänger müssen zweimal sterben. Eine Reise ins unerhörte Indien, Piper/Malik, München 2006, 320 S., Abb., 19,90 €, ISBN 3-89029-317-4

The Prince of love – vocal art of north india. Pandit Premkumar Mallik, produced by Peter Pannke, (mit RBB/Musik der Kulturen), Celestial Harmonies CD 13238-2 (www.harmonies.com)

GODDESS divine energy. music from india, selection and sequence: Peter Pannke und Eckart Rahn, Celestial Harmonies CD 13266-2

In praise of the goddess. devotional songs from north india, produced by Peter Pannke (mit RBB/Musik der Kulturen), Celestial Harmonies CD 13267-2

Sinnlich wie kein anderer hat Peter Pannke das Land erlebt. In seiner ungewöhnlichen Reportage spürt er den Klängen, den Stimmen und Gesängen nach und lässt uns Indien als große Sinfonie erleben. Im Juli 2002 machte er sich auf den Weg, um an den letzten Riten für den verstorbenen Sänger Vidur Mallik teilzunehmen. Seit seinen ersten Indienaufenthalten vor mehr als 30 Jahren ist Pannke der Familie Mallik eng verbunden, die über 200 Jahre dem Maharadscha von Darbhanga als Hofmusiker gedient hatte. Die Zugfahrt in den abgelegenen Norden des Bundesstaates Bihar wurde für ihn zum Ausgangspunkt einer langen, intensiven Reise in die Erinnerung: an sein Leben auf der Wanderschaft, an dreißig Jahre Indien, das Land des Dhrupad-Gesanges und der Wasserbüffel. Peter Pannke, 1946 in Korbach/Waldeck geboren, studierte Sinologie, Indologie und Vergleichende Religionswissenschaften. Mehrjährige Reisen führten ihn durch den Nahen Osten, Nordafrika, Pakistan und Indien, bevor er sich einen Namen als Rundfunkautor, Klangkünstler und Bandleader von „Troubadours United“ machte. Der Indienkenner ist Produzent, Komponist und Musiker von über achtzig CDs und LPs, Moderator einer wöchentlichen Rundfunksendung beim RBB und Autor der Bildbände „Indien, Fest der Farben“ und „Troubadoure Allahs – Sufi-Musik im Industal“. Er lebt in Berlin und kehrt so oft wie möglich nach Indien zurück.

27. September 2006
Morgens erhalte ich vom Piper Verlag das Rezensionsexemplar mit dem hier zitierten Begleittext, lese die über dreihundert Seiten über die Mallik-Sängerfamilie in einer Nacht und bin begeistert. Der Zufall will es, dass mit gleicher Post die pressfrischen, von Pannke produzierten CDs vom Berliner Büro der Celestial Harmonies eintreffen, Aufnahmen mit den jüngsten Familienmitgliedern der Malliks. Alles auch pünktlich zur Frankfurter Buchmesse mit Indienschwerpunkt. Am nächsten Morgen im ZDF-Morgenmagazin der Premierenbericht vom Bollywood-Musical „Bharati“ am Vorabend in Hamburg, ein Interview mit dem Hauptdarsteller Malik (als Siddharta) und Otto Waalkes’ Kommentar nach der Aufführung: „Geh in disch ...“. Die subtile indische Tanzkunst samt ihrer Mudras wird zu Markte getragen. Anschließend selbstbewusste Kommentare von Wirtschaftsleuten aus den Hauptstädten Mumbai und Bangalore: „Indien ist in“, einen Tag später ein Themenabend Indien auf ARTE mit dem Siddhartafilm, USA 1972.

Donaueschingen, Oktober 1971
Indien ist in – vor der Stockhausen-Uraufführung von „Mantra“ spielt Chitti Babu aus Madras die südindische Vina und auch Joachim E. Berendts Jazz-abend ist entsprechend eingefärbt. „In Donaueschingen sah ich Don Cherry auf der Bühne erscheinen“, schreibt Pannke, „die Suite ,Humus – The Life Exploring Force‘ begann mit dem Raga Bhairav. Es war der erste Raga, den er von seinem Lehrer Pandit Pran Nath gelernt hatte, einem enigmatischen Sänger, von dem Don Cherry und seine anderen Schüler Terry Riley und La Monte Young erzählten, er habe viele Jahre als nackter Sadhu in einer Höhle im Himalaya verbracht ... Es war das Jahr der Flower Power, als ich zum ersten Mal eine Platte mit indischem Gesang hörte. Ich war wie hypnotisiert. Auf magische Weise schienen die Stimmen der Sänger die Atmosphäre zu entspannen. Sie schwebten in einem schwerelosen Raum ... ,Dhrupad‘ – so hieß das, was auf der Platte zu hören war ... die Langspielplatte mit dem hellgrauen Cover, die Alain Daniélou 1964 in der Unesco-Serie veröffentlicht hatte, war die einzige Aufnahme von indischem Gesang, die damals im Westen erhältlich war (India III, Bärenreiter/Musicaphon). ,Dhrupad‘ sei eine Kunst, die schon fast verschwunden sei, las ich in seinem Plattentext, nur eine einzige Familie von Sängern übe sie noch aus.“ Pannkes Reise „ins unerhörte Indien“ ist tagebuchartig verfasst, die Rahmenhandlung beginnt im Sommer 2002 mit seiner Fahrt zu den Bestattungsritualen seines Lehrers Vidur Mallik, mit dem er fast dreißig Jahre verbunden war. Diese Reise führt ihn auf abenteuerliche Weise mit dem „Märtyrer-Express“ in den Norden des armen, überschwemmten Bundesstaates Bihar. Dort im innersten Indien war die Mallik-Familie seit Jahrhunderten angesiedelt, dort und nicht in den Megacitys hatte Peter Pannke den totgesagten Dhrupad-Stil wiederentdeckt!

München, Sommer 1973
Peter Pannke kehrt von der Rahmenhandlung seiner Zugfahrt aus immer wieder zu den wichtigsten Motivationen und Stationen seiner Indienreisen zurück und beschreibt auch ein essentielles Erlebnis bei einem Konzert des Sitarmeisters Imrat Khan, der mehrmals im Jahr deutsche Kirchen und Konzerträume mit seinen Ragas füllte – Indien war in: „Dann reißt die Erinnerung ab. In meinem Gedächtnis haftet noch der vage Schatten eines strahlenden orangefarbenen Lichts, das mit der Musik vor meinen geschlossenen Augen auftauchte. Ich schaute ins Innere der Flamme, dann weiß ich nichts mehr. Als ich wieder zu mir komme, ist der letzte Ton gerade verklungen. Ich bin verwirrt ... das Konzert muss mindestens eine Stunde gedauert haben, aber ich kann mich an nichts mehr erinnern.“ Peter Pannke war förmlich ins Unbewusste gestürzt, tags darauf besucht er den indischen Sitarkünstler: „Imrat Khan lacht. ,Mir ging es genauso. Ich verschwinde, wenn ich spiele, ich weiß nicht mehr, wo ich bin ... Du hast Glück gehabt, dass dir das geschehen ist‘, fügt er hinzu. ,Komm nach Indien. Vielleicht wirst du dort die Antwort finden.‘“

Köln, Sommer 1973
Peter Pannke beantragt ein Stipendium, um in Benares Musik zu studieren, er sucht den führenden Musiketh-nologen auf, der als eine Koryphäe auf dem Gebiet indischer Musik galt, den einzigen Lehrstuhl innehatte, den es in Deutschland dafür gab, und durch dessen Hände jeder Antrag auf ein Stipendium in Indien ging: „Wie kann jemand, der Vergleichende Musikwissenschaft studiert, auch noch selber Musik machen wollen? Dazu hat man doch gar keine Zeit!‘ Feldforschung, so meinte er, dürfe ein Student erst betreiben, wenn er vorher mindestens zwei Jahre lang das Transkribieren von Feldaufnahmen geübt habe – das hieß, Tonbandaufnahmen abzuhören und die Töne in das westliche Notensystem zu überführen.“ Obwohl Pannke für seine sinologische Magisterarbeit seitenlange Transkriptionen der chinesischen Pipa fabriziert hatte, gab er die Idee mit dem Stipendium auf und suchte sich Jobs, bis er genug Geld zusammenhatte für ein Ticket nach Indien: „Ich musste zu den Musikern selbst gehen, wenn ich etwas über die Musik erfahren wollte.“

Benares, Herbst 1973
Peter Pannkes Beschreibungen dieser unvergleichlichen Stadt Benares, die Begegnung mit dem Sänger Pandit Patekar, dem Sarangilehrer Pandit Madhu Mishra, dem Hindupriester und Pakhawaj-Trommler Pandit Amarnath Mishra und vor allem seine Bekanntschaft mit Guruji, der ihn in die Feinheiten des Hindi und den richtigen Umgang mit den Göttern einführt, zählten für mich zu den authentischsten, hautnahsten und anrührendsten Passagen des Buches. Auf seinem Tonbandgerät nimmt er nicht nur Musiker auf, sondern auch die vielfältigen Geräusche dieser Stadt und entwickelt seine eigene Art von Klangkunst. Auch wird hier von Pannke die Bedeutung von „Nada Brahman“ richtiggestellt, dieser häufig mißverstandenen spirituellen Formel: „,Nada Brahman‘ lässt sich nicht übersetzen. Die Gründe sind logischer Natur: ,Brahman‘ und ,Nada‘ sind identisch. Noch viel weniger bedeutet es ,die Welt ist Klang‘. ,Brahman‘ ist nicht die Welt, sondern die absolute Realität, die sich jeder Beschreibung entzieht.“ Peter Pannke kann direkt am Ganges bei Guruji leben, zufälligerweise in der Nähe des früheren Wohnsitzes von Alain Daniélou, der dort in den 50er-Jahren von Giacinto Scelsi besucht worden ist und den er Jahre später in Italien besuchen wird, um dort ein eindrucksvolles Gespräch mit dieser außergewöhnlichen und umstrittenen Persönlichkeit zu führen. „Von westlichen Musikethnologen war ,Dhrupad‘ schon für nahezu ausgestorben erklärt worden. Alain Daniélou glaubte, dass die Dagar-Brüder, die er aufgenommen hatte, die letzten ihrer Art seien. Doch Pandit Amarnath wusste es besser. Er hatte Kunde von Sängern und Trommlern, die diesen Stil an verborgenen Orten noch spielten, und gegen Ende seines Lebens wollte er sie um sich versammeln.“

Benares, Februar 1975
So fand zu „Maha Shivaratri“, dem Höhepunkt des an Festen reichen Jahreszyklus von Benares das erste „Dhrupad Mela“ seit Menschengedenken statt, bei dem Peter Pannke der Mallik-Sängerfamilie erstmals begegnet ist. Es mag sein, dass die Wurzeln des „Dhrupad“ auf uralte vedische Rezitationen zurückgehen, doch der historisch belegbare Ursprung ist weit jünger, wird mit Kaiser Akbar Ende des 15. Jahrhunderts in Verbindung gebracht und mit dessen Hofmusiker, dem Sänger Tansen, der durch die den Gesängen innewohnenden magischen Kräfte Wunder gewirkt haben soll. Der zauberische Ausgangspunkt, der Faktor Psi gewissermaßen, sind die „Sidhis“, parapsychologische Kräfte, mit denen Musiker in der Lage gewesen sein sollen, eine Kerze zu entzünden, Knospen zur Blüte zu bringen oder gar Wind und Regen zu evozieren.

Darbhanga, 1788
„Die Flüsse, die Kanäle, die Wasserläufe, die Bäche und Tümpel waren seit langer Zeit versiegt, auch die Brunnen gaben keinen Tropfen mehr. Die Menschen schrien nach Wasser ... ... Die Brüder Radhakrishnan und Kataram standen im Ruf, ,Sidhi‘ erlangt zu haben, die magische Kraft des Regens, die dem Raga Megh innewohnte ...“ Zweiundzwanzig Jahre hatten sie bei ihrem Guru Bhupat Khan gelernt, dessen Mutter eine Nachfahrin von Tansen war. Tatsächlich sollen sie den Regen, ein Gewitter und eine Überschwemmung herbeigesungen haben und zum Dank vom Maharadscha Madhav Singh mit mehreren Dörfern und Landgütern beschenkt worden sein, wo die Nachfahren noch heute angesiedelt sind. Ihr Name „Mallik“ bedeutet „Landbesitzer“.
Bis 1947 blieben sie die Hofmusiker des Maharadscha von Darbhanga, spalteten sich in zwei Linien oder Schulen, welche beide 1975 beim ersten „Dhrupad“-Festival seit Menschengedenken in Benares präsent waren: der alte 1992 verstorbene Ram Chatur Mallik einerseits, der die hoheitsvolle Ausstrahlung eines alten Fürsten besaß und im Kreise der Musiker wie ein König behandelt wurde, andererseits Vidur Mallik und seine Söhne Ramkumar, Premkumar und Anandkumar.

Patna, Februar 1988
„Wenn ich in Delhi oder Bombay indischen Bekannten erzählte, dass ich mich mit ,Dhrupad‘ beschäftigte, noch dazu in Bihar, zogen sie erstaunt die Augenbrauen hoch. ,Dhrupad‘? Was war das? Die meisten hatten nie davon gehört. Wer sich für die klassische Musik des Landes interessierte, hielt sich an die zeitgenössischen Stars auf der Sitar, der Sarod und der Tabla. Indien hatte Ram Chatur Mallik längst vergessen. Er gehörte einer Vergangenheit an, die nur an einigen abgelegenen Orten überlebt hatte. Außerhalb von Bihar wusste kaum jemand, dass er noch lebte, und auch in Bihar kannten nur noch wenige seinen Namen...“

Shaheed Express, Juli 2002
Auf seiner beschwerlichen Fahrt in den überschwemmten Norden Indiens erinnert sich Peter Pannke an die verstorbenen Sangesmeister und beschreibt auf unnachahmliche Weise die Begegnungen, die historischen und gesellschaftlichen Umstände und Lebensgeschichten: „Vidur Mallik war ein ,Dhrupad‘-Sänger, einer der wenigen, die noch die Kunst beherrschten, ihre Stimme in endlos scheinenden Wirbeln und majestätischen Schleifen durch eine der alten Melodien hindurchgleiten zu lassen, die Ragas genannt werden.“
Und inzwischen war auch die nächste Generation herangewachsen, die Kinder von Vidurs Sohn Premkumar führen die „Parampara“, den ununterbrochenen Strang der Familientradition fort. Eine stattliche Anzahl von Tonaufnahmen hatte Peter Pannke bereits mit den alten Malliks produziert, alles im Anhang seines Buches dokumentiert, er war ja auch der hingebungsvolle Manager einiger aufwendiger Europa-Tourneen gewesen.
Ab 2004 entstanden dann die gerade neu veröffentlichten Produktionen mit den jüngsten Malliks. Hier überrascht vor allem die 18-jährige Priyanka mit einer faszinierenden Virtuosität. Ihre in der Tiefe so raue Stimme spiegelt für mein Empfinden das Klima ihrer Heimat wieder: es erklingen rohe, leuchtende Edelsteine (CD „In praise of the goddess“).

Amta, Sonntag, 4. August 2002
Nach den dreizehntägigen Pujas für den verstorbenen Vidur Mallik, deren Ende Peter Pannke gerade noch miterleben konnte – hatten doch Transport-Streiks zusätzlich zu den riesigen Überschwemmungen seine Ankunft noch weiter verzögert – sollte eine weitere Zeremonie stattfinden, mit der das Haus gereinigt werden und das Leben wieder beginnen würde. Es war ein langes Ritual, das Stunden in Anspruch nahm. Danach gibt Premkumar den Trinkspruch aus: „Jetzt sind wir selber die Gurus geworden. Von jetzt an müssen wir selber den Weg finden, niemand ist mehr da, der ihn uns zeigt.“
Auf der CD „The Prince of Love“ zeigt Pandit Premkumar Mallik seine einmalige Vielseitigkeit: Von Dhrupad über Khyal, Thumri und Bhajan ist er in jedem Gesangsstil optimal zuhause – „die vier Gesichter der Musik, nur wer alle vier beherrscht, ist ein Sänger“. Und der letzte Satz seines Buches bereitet dem Autor selbst kein erhebendes Gefühl: „Wir waren jetzt völlig auf uns allein gestellt.“
Kein Zweifel: Dies Buch ist gerade beim derzeitigen kommerziellen Indienboom auch für jemanden mit Abstand und Skepsis äußerst lesenswert, schon weil es großartig geschrieben ist: zu lesen am besten mit den wunderbaren CDs als Klang-Hintergrund!

Peter Michael Hamel

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