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nmz-archiv
nmz 2006/12 | Seite 14
55. Jahrgang | Dez./Jan.
Semmelmann
Als ich die Revolution ausrief
Vor ein paar Tagen habe ich mir einen FM-Transmitter für
meinen iPod gekauft. Da mein Black Blitz nur ein altertümliches
CD-Autoradio ohne USB, GPS und Sexmaschine hat, konnte ich meinen
iPod im Auto bisher leider nicht nutzen. Doch für diesen Fall
gibt es jetzt solche FM-Transmitter. Das sind kleine UKW-Sender,
mit deren Hilfe man die Musik des iPod irgendwie per Strahlung zum
Autoradio übertragen kann. Tolle Sachen gibt‘s. Man sucht
sich am Autoradio eine Frequenz, auf der kein Radiosender sitzt,
stellt die gleiche Frequenz an dem kleinen FM-Dingens ein, schließt
den iPod daran an, und schon hat man köstliche Musik im Autoradio
drinnen und somit auch in der Fahrgastkabine. Und es funktioniert
sogar. Die Qualität ist nicht gerade exquisit, aber zum Mitsingen
und -schunkeln reicht es allemal.
Immerhin ist man mit dem Dingens so eine Art Lokalsender und der
ist normalerweise genehmigungspflichtig. Da die Reichweite des Geräts
aber nicht besonders hoch ist, darf man es nach irgendeiner EU-Dingsbumsnorm
sogar in Deutschland betreiben.
Der Hersteller beziffert die Reichweite mit drei bis neun Metern.
Da könnte unsereiner glatt auf kreative Gedanken kommen. Ein
Radius von neun Metern in einem Stau oder an einer roten Ampel könnte
mit Sicherheit einige Pkws erreichen. Also kann man den obigen Satz
wie folgt umformen: Man könnte an dem Sender die Frequenz des
meistgehörten Senders der Gegend einstellen, und schon könnte
man sich in das laufende Programm des betreffenden Senders einklinken.
Wie gesagt: könnte. Denn so was ist mit Sicherheit strafbar.
Aber ich sehe da ganz zauberhafte Anwendungsbereiche für den
Feierabendverkehr:
SWR3 mit den Verkehrsmeldungen:
A 80 Stuttgart-Heilbronn kkkkkchch zwischen der Anschlussstelle
... kkkkrch bizzl kkkrch ... Weinsberg ... kkkkrch bizzl rausch
...
Lauter Fanfarenstoß
ACHTUNG, ACHTUNG!
HIER SPRICHT DER REVOLUTIONSRAT DER DEUTSCHEN ARBEITERKLASSE!
SEIT GENAU 17 UHR 30 HALTEN DEUTSCHE ARBEITER DEN DEUTSCHEN BUNDESTAG
BESETZT. DIE IMPERIALISTISCHE MARIONETTENREGIERUNG DES INTERNATIONALEN
KAPITALS IST ABGESETZT UND UNTER ARREST GESTELLT. DIE BUNDESKANZLERIN
HAT SICH INS AUSLAND ABGESETZT. UM 17 UHR 48 HABEN UNS DIE STREITKRÄFTE
DES HEERES, DER MARINE UND DER LUFTWAFFE IHRE UNEINGESCHRÄNKTE
LOYALITÄT UND SOLIDARITÄT ZUGESICHERT.
UM GENAU 19 UHR WIRD DER REVOLUTIONSRAT AUF ALLEN RADIO- UND FERNSEHKANÄLEN
EINE ERKLÄRUNG AN DAS VOLK ABGEBEN.
Lauter Fanfarenstoß, anschließend der Bergmannschor
Zeche Paula, Rheinhausen:
Roter Wedding, grüßt euch, Genossen,
Haltet die Fäuste bereit!
Haltet die roten Reihen geschlossen,
Denn unser Tag ist nicht weit!
Ich schaue mich unauffällig um und sehe mehrere verdutzte
Gesichter ungläubig aus den umstehenden Autos herausglotzen.
Ich reiße die Fahrertür meines Black Blitz auf, springe
hinaus auf die Straße und brülle wie ein Ochse:
REVOLUTION!!! REVOLUTION!!! ES IS‘ REVOLUTION!!! HURRA!!!
HABT IHR ES AUCH ALLE GEHÖRT? GRÜSST EUCH GENOSSEN!!!
REVOLUTION!!! ENDLICH!!! HURRA!!!
Rechts neben dem Black Blitz steht ein LKW der Städtischen
Gärtnerei, aus dem sich eine Kleingruppe Italiener wälzt,
lauthals die Internationale brüllend. Natürlich auf Italienisch.
Die Neuigkeit von der Revolution verbreitet sich wie ein Lauffeuer
und überall steigen Leute hektisch aus ihren Autos und plappern
freudig erregt durcheinander. Direkt neben mir steht ein dicker
Daimler, dessen Fahrer das muntere Treiben wie gelähmt verfolgt.
Muss wohl einen anderen Sender gehört haben. Und schon trommeln
meine Italiener wie verrückt auf seine Motorhaube und rufen
unisono VIVA, VIVA, LA RIVOLUZIONE!!! Der Mann steht offensichtlich
unter Schock. In der Unterstadt sind bereits die ersten Polizeisirenen
zu hören und am Horizont Richtung Industriegebiet steigen dichte,
pechschwarze Rauchwolken auf. Vereinzelte Detonationen in der Ferne
lassen den Asphalt unter meinen Füßen erzittern. In meiner
Jackentasche trage ich den iPod samt FM-Transmitter, immer noch
die Revolution verkündend, und laufe die immer länger
werdende Blechkarawane ab. Auf dem Dach eines alten Renaults steht
eine junge Frau und spricht zu der immer größer werdenden
Menschenmenge: Die sozialistische Revolution ist kein einzelner
Akt, keine einzelne Schlacht an einer Front, sondern eine ganze
Epoche schärfster Klassenkonflikte, eine lange Reihe von Schlachten
an allen Fronten ...
Überall sehe ich Menschen in ihren Autos sitzen, mit glänzenden
Augen der Botschaft von der Revolution lauschend. Es ist fast wie
damals, 1954, während des Endspiels ...
Da kann man mal wieder sehen, welch positive Folgen die Technik
für die Menschheit haben könnte.