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nmz-archiv
nmz 2007/02 | Seite 40-41
56. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Aus alter Last wird neue Lust
Staatskapelle Halle: ein Orchester etabliert sich · Von
Peter Dannenberg
Schöne Bescherung: Eine deutsche Mittelstadt von knapp einer
Viertelmillion Einwohnern; zwei große sinfonische Orchester
in städtischer Trägerschaft, also ohne Bindung an den
Rundfunk oder eine andere Institution; zwei konkurrierende Konzertreihen
im gleichen Saal; 172 Orchestermusiker in städtischen Diensten – eine
kulturpolitisch zweifelhafte und aberwitzige Situation, die selbst
in wirtschaftlich besseren Zeiten nach einer Korrektur gerufen
hätte.
Wie es zu dieser Situation gekommen ist, ist nur aus der älteren
und jüngeren musikalischen Historie der Stadt zu erklären.
Traditionsalt, doch wechselhaft bis zum völligen Verstummen
gar ist die Konzert- und Operngeschichte der Stadt gewesen. Als
August Hermann Francke und die Pietisten das Regiment in der preußisch
gewordenen Stadt übernahmen, wurde für fast ein ganzes
Jahrhundert ein Theaterverbot durchgesetzt. Das weltliche Musikleben
reduzierte sich auf ein akademisches Kollegium musicum, das Konzerte
für Professoren und Studenten veranstaltete und auch mit städtischen
Chören zusammenarbeitete. Erst im 19. Jahrhundert wurde ein
neues Theater eröffnet und ein Stadtorchester von 30 Musikern
gebildet, das wöchentliche Konzerte gab und den Operndienst
versah.
Im frühen 20. Jahrhundert begann dann eine Blütezeit
des hallensischen Musiklebens. Die Musiker des Stadttheaters taten
sich mit dem Musikcorps des Magdeburgischen Füsilier-Regiments
Nr. 36 zusammen, spielten allabendlich Oper und sechs Sinfoniekonzerte
im Jahr. Die Zusammenarbeit mit den damals allgemein auf hohem
technischen Stand stehenden Militärmusikern (in vielen deutschen
Städten vor dem Ersten Weltkrieg bei der Aufführung großer
Opern und des romantischen Konzertrepertoires üblich) war
künstlerisch überaus ertragreich. Etwa 90 Musiker standen
in dem Verbund zusammen; Dirigenten wie Arthur Nikisch, Felix Mottl,
Richard Strauss, Siegfried Wagner und Felix Weingartner prägten
die sinfonischen Programme.
Tradition des hohen Anspruchs
Diese Tradition des hohen Anspruchs setzte sich in den folgenden
Jahrzehnten über alle politischen Brüche hin fort. Bruno
Vondenhoff, der spätere Leiter des Frankfurter Museums-orchesters,
wurde 1934 zum ersten Generalmusikdirektor in Halle berufen. Nach
dem Kriege verband sich der Name der Stadt bald mit dem größten
Musiker ihrer Geschichte. Die Händel-Festspiele, von Orchesterchef
Horst-Tanu Margraf ins Leben gerufen und viele Jahre geleitet,
trugen durch regelmäßige Gastspiele auch jenseits des
Eisernen Vorhangs den Namen Halles in die musikalische Welt. Die
Wiederentdeckung des Opernkomponisten Händel, von dem kaum
mehr noch als der „Xerxes“ bekannt war, in seiner ganzen
Vielfalt und Breite ist ohne die Aktivitäten Margrafs und
seiner Nachfolger kaum vorstellbar. Sie fand dann ihre Fortsetzung
mit der Hinwendung zu historischer Aufführungspraxis und zu
historischem Instrumentarium, besonders unter Christian Kluttig
und, nach der Wende, Howard Arman. Innerhalb des „Orchesters
des Opernhauses Halle“, wie es seit 1992 hieß, bildete
sich mit dem Händelfestspielorchester ein Ensemble, das sich
der Pflege der Alten Musik mit alten Instrumenten verschrieb. Es
trägt bis heute die Händelfestspiele, die in diesem Jahre
neben einer Reihe von Konzerten Aufführungen von „Admeto“ und „Rosalinda“ angekündigt
haben.
Das „zweite“ Orchester der Stadt, das über manche
Perioden hinweg das eigentlich erste wurde, war eine Nachkriegsgründung,
als Volksorchester 1946 von Arthur Bohnhardt gebildet, der mit
den SED-Kulturpolitikern bald in Konflikt geriet und nach drei
Jahren nach West-Berlin fliehen musste. Das Orchester sollte zum „Mittler
werstvollsten Kulturguts gegenüber der Werktätigen“werden.
Die Dirigenten und die Namen des stetig wachsenden Klangkörpers
wechselten, bis unmittelbar nach der Wende der aktiv-umtriebige
Heribert Beissel Chefdirigent wurde und große Orchester-Tourneen
initiierte, die in viele europäische Länder und bis nach
Japan und Südamerika führten. Das Philharmonische Staatsorchester,
so hieß es nun, fand Akzeptanz in der Stadt und wurde darüber
hinaus auch für renommierte Dirigenten interessant, für
Bernhard Klee, Wolf-Dieter Hauschild und Heribert Esser, die nacheinander
Chefs der Philharmonie waren; für Hartmut Haenchen, der schon
in jungen Jahren an der Saale gearbeitet hatte und nun eine enge
Verbindung mit Halle einging, die bis zum heutigen Tage besteht.
So präsentiert er in der laufenden Saison die ersten drei
Mahler-Sinfonien.
Keine feindliche Übernahme, sondern ein Neuanfang
Zwei große Orchester also in Halle an der Saale, eines zu
viel nach allen vernünftigen Abwägungen. Was also tun?
Schöne, nun wahrhaft schöne Bescherung im Jahre 2006:
Die verantwortlichen Politiker in Stadt und Land finden zu einer
Lösung, die in einen völligen Neuanfang mündet.
Keine Auflösung eines Orchesters, keine „feindliche Übernahme“ des
einen durch das andere, sondern Gründung eines neuen Klangkörpers,
sekundiert von der Verpflichtung eines neuen, quasi „neutralen“ Orchesterdirektors,
der mit keiner der alten Formationen etwas zu tun hatte. Gefunden
wurde er in Robert König, dem langjährigen Orchestervorstand
und Geiger des Bayreuther Festspielorchesters und der Kieler Philharmoniker,
der zuletzt in Seoul eines der Orchester in der koreanischen Hauptstadt
betreut hatte.
Auch in der künstlerischen Leitung wurde ein entschiedener
Schnitt gemacht. Zum Nachfolger von Roger Epple hier und Heribert
Esser dort wurde auf ausdrücklichen Wunsch des Orchesters
Klaus Weise berufen, der damit nach langen Jahren im Ausland wieder
fest nach Deutschland zurückgekehrt ist. Weise hat in den
vorangegangenen beiden Spielzeiten schon häufiger im Opernhaus
und im Konzert in Halle dirigiert und mit seiner energiebesessenen
Vitalität Musiker wie Publikum gefesselt. Er trägt den
Titel „Generalmusikdirektor der Stadt Halle“. Eine
korrekte Bezeichnung, denn Rechtsträger der Staatskapelle
Halle, so heißt das neugegründete Orchester jetzt, ist
die Stadt.
Das Land Sachsen-Anhalt trägt, Ergebnis fairer Verhandlungen
zwischen Stadt und Land, 49 Prozent der öffentlichen Zuwendungen – ein
Verteilerschlüssel, der Bestand haben soll auf Dauer, wobei
Sachsen-Anhalt einige Vorgaben gemacht hat; so etwa mehr Konzerte
im Lande, wo es feste Sinfonieorchester sonst nur noch in Magdeburg,
Dessau und Sondershausen gibt; weiter die Repräsentation des
Bundeslandes im gesamten Deutschland und im Ausland und schließlich
besondere Aktivitäten für die Jugend und für Kinder.
Einiges davon ist natürlich nicht neu und wird schon in
der laufenden ersten Spielzeit des neuen Orchesters intensiviert
und auch in der Programmgestaltung auf eine breitere Basis gestellt.
So wird Weise in Merseburg, Köthen und Stendal das dortige
Publikum erstmals mit Charles Ives bekannt machen. Höhepunkte
im kommenden Tourneeprogramm sind zwei Konzerte im Großen
Festspielhaus in Salzburg, in Zürich, Berlin, eine Spanien-Tournee,
drei Konzerte in Korea sowie die „Zauberflöte“ beim
kommenden Mozartfest im Rokokotheater Schwetzingen.
Bewährte Traditionen werden daneben fortgeführt, selbstverständlich
die Hinwendung zu Händel in allen möglichen Facetten,
von der Kammermusik bis zu den großen Oratorien und zur Oper,
bei den Festspielen ebenso wie im musikalischen Alltag des Jahreslaufes.
Daneben hat, nicht nur im abgelaufenen Jubiläumsjahr, Mozart
in der Händelstadt eine besondere Heimstatt gefunden, in der
Oper in der arkadischen Idylle des Goethe-Theaters Bad Lauchstädt,
wo seine sieben gro-ßen Opern im Repertoire stehen, in den
normalen Programmen natürlich und mit einem von Weise eingerichteten
Zyklus „Mozart in Halle“, in dem Peter Sodann, der
mitteldeutsche Kommissar des Tatortes, in jedem Programm aus Briefen
von Mozart gelesen hat.
Ein Problem bleibt natürlich. Die neue Staatskapelle hat zu
viele Musiker. Im Jahre 2003 zählten die beiden städtischen
Orchester 172 Mitglieder. Die neue Staatskapelle umfasst nach einigen
Abgängen noch 152 Musiker und ist damit jetzt nach dem Leipziger
Gewandhaus das zweitgrößte deutsche Orchester.
Der derzeitig gültige Haustarifvertrag, in dem die Musiker
auf einige Leistungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld verzichten
und betriebsbedingte Kündigungen bis zum Sommer 2008 nicht
möglich sind, sollte nach der zunächst sehr großzügigen
Vorgabe der Stadt bis zum Ende der Spielzeit 2010/11 auf 130 reduziert
werden. Inzwischen hat sich die Haushaltslage der Stadt so dramatisch
verschlechtert, dass sie die Zwangsverwaltung durch das Land fürchten
muss. Sie möchte so früh wie möglich die Orchesterstärke
auf 105 begrenzen. Ob und wie das erreicht werden kann, wobei es
ohnehin nicht ohne Abfindungen oder andere Angebote gehen wird,
ist noch nicht eindeutig klar; dass längerfristig das Orchester
noch um weitere Stellen reduziert werden muss, dagegen schon.
Ü
ber allen nackten Zahlenspielereien bei der Frage der Orchestergröße
darf natürlich die künstlerische Seite nicht vergessen
werden. Schon heute sind die Proportionen der Instrumentengruppen
untereinander nicht mehr ganz homogen. Die Wahrung sozialer Besitzstände
einzelner Musiker kann für die Kriterien bei der Zusammensetzung
des Orchesters nicht allein entscheidend sein. Auch die Neueinstellung
begabter junger Musiker darf natürlich nicht tabu sein, will
man den künstlerischen Standard des Orchesters halten und,
das hat man sich ja vorgenommen, weiter entscheidend steigern.
So hat man derzeit gegen den generellen Einstellungsstopp der Stadt
anzukämpfen.
Philharmoniker im Graben
Vorbehalte einzelner weniger Musiker wie der, dass es ihnen,
die aus dem Konzertorchester der Philharmonie kommen, nicht zuzumuten
sei, „im Graben zu spielen“, sind inzwischen überwunden.
Aber einige jüngere ausländische Musiker, die nie zuvor
Oper gespielt hatten, tun sich ohne Erfahrung und Repertoire-Kenntnisse
schwer damit, ohne Proben in eine laufende Aufführung hineinzuspringen,
wie es im deutschen Opernbetrieb in der Regel verlangt und ohne
Schwierigkeiten geleistet wird.
Ein höheres Ziel bleibt, der aus zwei Orchestern zusammengeschweißten
Staatskapelle ein eigenes Profil zu geben, eine unverwechselbare
Handschrift in Klang und Ausdruck. Daran wird mit zunehmendem Glück
von Konzert zu Konzert gearbeitet, und jüngst hat mit seiner
hochespressiven Innenspannung und in seinen farblichen Valeurs
der neue „Rosenkavalier“ unter Weise gezeigt, dass
man dem Ziel, nicht nur der Zahl nach noch eines der ersten Orchester
der Republik zu sein, schon recht nahe gekommen ist.