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nmz-archiv
nmz 2007/02 | Seite 52
56. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Hohnlachen Gottes auf die aus den Fugen geratene Welt
Die russische Komponistin Galina Ustwolskaja ist tot · Ein
Nachruf von Reinhard Schulz
Es gibt Todesnachrichten, die berühren einen in ganz besonderem
Maße schmerzlich. Die russische Komponistin Galina Ustwolskaja
ist am 22. Dezember 2006, zwei Tage vor Heiligabend, in St. Petersburg
gestorben. Dort, damals hieß der Ort Petrograd, ist sie 87
Jahre davor, am 17. Juni 1919 auch geboren worden und sie hat die
Mauern der Stadt im Grunde nie verlassen. Sie war gleichsam ein
Anker der Stadt, die seit der in ihr ausgelösten Oktoberrevolution
so viel an Pracht und Entsetzen erlebte und die mehrfach ihren
Namen wechselte.
Außerordentliche
Künstlerin von existenzieller Wucht. Foto: Archiv
Sikorski
Mit 87 Jahren sterben, da spricht man gemeinhin von einem erfüllten
und reichen Leben, das einen Kreis ausgeschritten hat und nun zur
Ruhe gekommen ist. Bei Galina Ustwolskaja, und das macht die Todesnachricht
so bitter, kann man das nicht sagen. Sie hat nicht gelebt, sie
hat gelitten. Woran? Das ist nicht ganz konkret zu benennen, doch
sie litt am Elend der Menschen, am Unausweichlichen, ja an der
Existenz selbst, die, wie schon der erste abendländische Philosoph
Anaximander in seinem einzig erhaltenen Satz behauptet, allein
ein Abtragen von Schuld ist („Anfang und Ursprung der seienden
Dinge ist das Apeiron – das grenzenlos-Unbestimmbare. Woraus
aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht
auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander
gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach
der Zeit Anordnung.“). Es ist gewiss nicht zu weit hergeholt,
dass diese außerordentliche Frau, die in ihrem Leben
auf geradezu tragisch lächerliche Art nur Missachtung traf
(bis man sie in den 80ern im Westen „entdeckte“, als
alles schon zu spät war), ihr Dasein als Schuld verstand und
damit Kontakt nahm zu fundamentalen Seinserfahrungen, denen sich
unsere Gesellschaft längst hermetisch verschlossen hat. Und
das real-sozialistische Umfeld, mit dem sie sich fast lebenslang
konfrontiert sah, war in seiner dummen Bodenständigkeit von
solch visionär-tragischen Einsichten ohnehin meilenweit entfernt.
Einer freilich achtete sie, verliebte sich wohl in sie. Es war
Dmitrij Schostakowitsch, bei dem sie Unterricht genommen hatte. „Nicht
Du stehst unter meinem Einfluss, sondern ich unter Deinem“,
hatte er einmal an sie geschrieben und damit bekannt, dass Ustwolskaja
Musik in schonungsloser Radikalität dachte, die für den
trotz aller bürokratischen Widerstände ersten Komponisten
der Sowjetunion zum (unerreichten) Leitbild wurde. Und immer wieder
setzte er sich für das so rätselhafte Schaffen Ustwolskajas
ein. „Ich bin überzeugt, dass die Musik von G.I. Ustwolskaja
weltweite Anerkennung finden wird bei allen, die der Wahrhaftigkeit
in der Musik entscheidende Bedeutung beimessen.“ (Das schwierige
Verhältnis von Schostakowitsch zu Ustwolskaja führte übrigens
später zu einer Entfremdung der beiden, die zumindest bei
ihre tiefe Spuren der Bitterkeit zurückließ.)
Wahrhaftige Musik! Die These, dass Musik nicht schön, sondern
wahr sein solle, hat Schönberg einst mit grandioser Geste
ins Feld geführt. Sie war Parole mit zutreffendem Kern, aber
was wirklich Wahrheit in der Musik ist, das hat wohl allein Galina
Ustwolskaja bis in die letzten existenziellen Winkel durchlebt.
Denn Wahrheit kann man nicht behaupten, zumindest nicht nur, man
muss sie leben.
Und so fühlte sich Ustwolskaja mit göttlichen Kräften
verbunden, ja sie war ihnen ausgeliefert. An den Sikorski-Verlag
schrieb sie 1990: „Ich würde für ihren Verlag gern
etwas komponieren, doch hängt dies von Gott ab, nicht von
mir.“ Und sie führte weiter aus: „Meine Arbeitsweise
unterscheidet sich in ihrem Ablauf ganz wesentlich von derjenigen
anderer Komponisten. Ich schreibe dann, wenn ich in einen Gnadenzustand
gerate. Dann ruht das Werk eine Zeitlang, und wenn seine Zeit gekommen
ist, gebe ich es frei. Wenn seine Zeit nicht kommt, vernichte ich
es. Aufträge nehme ich nicht an.“
Welch Größe steckt in diesem letzten Satz, der das ganze
Auftragswesen (das freilich vielen Komponisten das Überleben
sichert) als Unwesen entlarvt! Keine Ratio langt da hin, die immer
wieder das Ins-Geschäft-Kommen als richtigen Weg proklamiert.
Musik aber ist kein Job, in dem man dann „sein Bestes“ zu
geben hätte. Denn im Job verrät man gerade sein Bestes,
indem man bei seiner Erfüllung aufs Äußere schielt.
Verweigert man dies, dann kann man nicht leben. Ustwolskaja lebte
nicht.
So ist auch ihre Musik – zumindest die, die etwa in den 50er-Jahren
anhub und dann 1990 mit der 5. Sinfonie mit dem beschließenden
Titel „Amen“ endete – keine Musik. Zumindest
nicht in den Maßstäben unserer Verwertungskultur. Was
wir finden, sind Trümmer eines zerschlagenen musikalischen
Körpers, blutige Fetzen, Gliedmaßen, Knochen.
Sie liegen auf einem Feld, über das die apokalyptischen Reiter
hinwegbrausten (sind es die des Letzten Gerichts oder die, mit
denen wir im 20. Jahrhundert in Verdun, Stalingrad, Auschwitz,
Hiroshima, Vietnam, Afghanistan oder Irak immer wieder konfrontiert
waren?). Immer greller und immer reduzierter wurden in den letzten
Werken die klanglichen Materialien: sei es die irrsinnige Konfrontation
von Tuba und Piccolo (Composition Nr. 1 – Dona nobis pacem),
die nicht minder drastische von acht Kontrabässen und einem
mit dem Hammer malträtierten Holzkubus (Composition Nr. 2 – Dies
irae) oder seien es die in verzweifelter Permanenz niedergeschlagenen
clusterartigen Klänge in der 6. und zugleich letzten Klaviersonate
von 1988, die jegliche Vorstellung einer in sich logischen Konsistenz
der musikalischen Struktur tilgen (wie auch die Benennung Sonate
jeglicher Basis beraubt ist). Es ist nur noch das heftige Schlagen,
fast so, wie ein vom Schicksal getroffener seinen Kopf gegen die
Wand schlägt. Gleichwohl schreibt Ustwolskaja jeden Klang
aus, was sich im Notenpart fast wie eine Reihe von Blütenständen
ausnimmt, da sechs oder sieben eng nebeneinanderliegende (und aus
Platzgründen auch nebeneinandergeschriebene) Notenköpfe
mit schrägen Hälsen zu einem Hauptstrang zusammen laufen.
Sie weisen gleichzeitig darauf hin, dass klanglich genau differenziert
wurde. Denn die Cluster haben mitunter Löcher, füllen
also nicht exakt das chromatische Total und sie ändern auch
ihre Positionen. In der Wirkung freilich steigert sich dadurch
in erster Linie das Moment des fast bewusstlosen oder blinden Schlagens,
der Ohnmacht gegen das Fatum.
Es gab in der Geschichte wohl noch nie eine Musik, die auf so
direkte Art betroffen macht. Allenfalls der ganz späte Schubert in
seinen letzten Liedern oder einige Passagen von Mahler ließen
einen vergleichbar ungehemmten Einfall von Schicksalsgewalt ahnen.
Doch bei Ustwolskaja wird niederschmetternd klar: Es gibt kein
Entkommen. Musik blüht nicht mehr auf, sondern blickt einzig
auf ihre Ruinen zurück.
Trost? Es gibt höchstens den, dass jemand, der 87 Jahre auf
Erden war und dennoch, eingezwängt von Ängsten und Ahnungen,
nie richtig (aber was ist richtig?) lebte, auch nicht sterben kann.
Musikalisch geschwiegen hat Ustwolskaja schon die letzten 15 Jahre
ihres irdischen Daseins. Jetzt ist das Schweigen dieser unvergleichlichen
und in ihrer existenziellen Wucht kaum zu fassenden Künstlerin
zu einem endgültigen geworden. Ihre Werke freilich fassen
auf ewig den Schrei der Verzweiflung, der auch wie ein Hohnlachen
Gottes auf eine in ihrem Selbstlauf aus den Fugen geratene Welt
wirken mag.