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nmz-archiv
nmz 2007/02 | Seite 39-40
56. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Beethoven
als Steinbruch
Ein „Musik-der-Zeit“-Wochenende beim WDR Köln
Neben Traditionsstätten wie Donau-eschingen oder Witten, an
denen Neue Musik alljährlich einmal in konzentrierter Form
präsentiert wird, sind kontinuierlich sich über die jeweilige
Saison erstreckende Veranstaltungen mit der zeitgenössischen
Musik vielleicht noch wichtiger, weil hierbei auch ein interessiertes „Normal“-Musikpublikum
erfährt, was sich bei der Avantgarde so tut. Die Münchner
Musica Viva-Reihe des Bayerischen Rundfunks wirkt in dieser Hinsicht
vorbildhaft. Aber auch der Westdeutsche Rundfunk informiert mit
seinen „Musik-der-Zeit“-Konzerten regelmäßig über
aktuelle Tendenzen in der Neuen Musik, wobei es dem zuständigen
Redakteur Harry Vogt immer wieder gelingt, durch thematische Zielvorgaben
perspektivisch interessante Programme zu konzpieren: das letzte
trug den Titel „Rausch und Ratio“. Ein Spannungspaar,
das nicht nur passive Hörer, sondern auch das Komponieren
selbst betrifft.
Carolin
Widmann und Peter Rundel proben für das Musik-der-Zeit-Konzert
im Westdeutschen Rundfunk Luigi Nonos „Varianti“.
Foto Charlotte Oswald
Wie wirkt Musik? „Der Laie fühle bei Musik am meisten,
der gebildete Künstler am wenigsten“ – das behauptete
einmal der Musikkritiker Eduard Hanslick. Der Dirigent Christian
Thielemann aber dirigiert, vorübergehend, nicht mehr „Tristan
und Isolde“: Wagners Musikdrama nehme ihn jedesmal emotional
so sehr mit, daß längere Erschöpfungszustände
die Folge seien. Ist Thielemann vielleicht im Sinne Hanslicks nicht „gebildet“?
Kaum zu glauben. Auch „Tristan“ basiert auf festgelegten
Notierungen, auf formalen Verläufen, auf kalkulierten dramatischen
Wirkungen, ein rationales Element ist selbst dem „entfesseltsten“ Musik-Kunstwerk
gleichsam als strukturelle Grundierung eingezogen: Musik - ausgespannt
zwischen „Rausch und Ratio“. So lautete denn auch der
Titel des letzten Musik-der-Zeit-Wochenendes des Westdeutschen
Rundfunks, das sich die Aufgabe stellte, die Beziehungen zwischen
den beiden Begriffen anhand ausgewählter Werke, darunter zahlreiche
Uraufführungen, genauer zu untersuchen. Von „Tristan
und Isolde“ war dabei höchstens am Rande die Rede, dafür
um so mehr vom späten Beethoven. Dessen letzte Klaviersonaten
und Streichquartette scheinen in ihrer konstruktiven Komplexität
und expansiven Ausdrucksgewalt immer wieder eine Art Musiksteinbruch
zu sein, mit dessen Hilfe heutige Komponisten versuchen, eigene
Positionen zu bestimmen. Dass dabei das Original oft moderner erscheint
als die Adaption, liegt in der Natur der Sache: Nur wenn ein heutiger
Komponist hinreichende eigene Substanz besitzt, kann diese Aneignung
produktiv werden.
Das ist zum Beispiel bei Wolfgang Rihms 1977
geschriebener „Musik für drei Streicher“ der Fall.
Rihm greift den expressiven Gestus Beethovens auf, integriert Beethoven-Partikel
in die eigene Tonsprache, deren ungebärdig nach vorn drängende
Energie durch den Rückgriff auf klassische Formmodelle (das
Streichtrio, die Dreisätzigkeit) gebändigt wird – was
dem Werk eine unerhörte Innenspannung verleiht. Dem Trio Recherche
mit Melise Mellinger (Violine), Barbara Maurer (Viola) und Åsa Åkerberg
(Violoncello) gelang eine schlechthin überwältigende
Interpretation. Von gleicher Qualität war die Wiedergabe von
Arnold Schönbergs Streichtrio op. 45 von 1946, entstanden
nach einer schweren Krankheit: Heftige Gesten und zarteste Klänge
verbinden sich beim Trio Recherche mit einer frei geknüpften
formalen Gestaltung. Von dieser Spannung zwischen Konstruktion
und emotionaler Freiheit zeugen auch Luigi Nonos „Varianti“ (mit
der brillanten Geigerin Carolin Widmann) oder Helmut Lachenmanns
Orchesterwerk „Tableau“ (1988/89) – alles Kompositionen,
die zum Thema „Rausch und Ratio“ gewichtiges Anschauungs(-hörungs)
material bieten, auch wenn sie schon älteren Datums sind.
Die Uraufführungen gerieten unterschiedlich. Jorge E. López
zerlegt Beethovens letzte Klavier-Bagatellen op. 126 für sein
fünfteiliges Orchesterstück „Disparates“,
die heftigen klanglichen Gebärden wirken mitunter aber leicht
schematisch. Manuel Hidalgo nahm sich die Introduktion und Fuge
aus Beethovens „Hammerklavier“-Sonate op. 106 vor und übertrug
sie ambitioniert, aber im Ergebnis eindimensional für Orchester
und Akkordeon. Da überzeugte Nicolaus A. Hubers Orchesterwerk „Weiße
Radierung“ mit seinen schnellen Ausdruckswechseln und der
spielerischen Fast-Equilibristik schon mehr. Auch Emilio Pomàricos „Trio
per Archi“ findet höchst plastische individuelle Klangbilder
zwischen Konstruktion und einer fast schon verdächtigen
emotionalen Schönheit. Leicht, phantasievoll und kurzweilig
huschen York Höllers „Fluchtpunkte“ dahin: orchestrale
Bewegungen, die immer wieder abbrechen, als breche ein Fliehender
immer wieder nieder, und Isabel Mundrys Ensemblestück „Sandschleifen“ demonstriert
einmal mehr die Begabung der Komponistin, assoziativ aus textlichen
und bildlichen Vorlagen eine autonome kompositorische Struktur
zu entwickeln.
Bei den „Musik-der-Zeit“-Konzerten gibt
es stets das hohe interpretatorische Niveau zu bewundern. Carolin
Widmann wurde schon genannt, sie spielt auch noch mit dem Pianisten
Simon Lepper das vertrackte Duo-Stück „Dikhthas“ von
Iannis Xenakis: Energien, aus Konstruktion gewonnen - ein faszinierender
Vorgang. In Arnulf Herrmanns „Privatsammlung“ (2006)
präsentiert sich die Amerikanerin Heather O‘Donnell
als souveräne Pianistin, ebenso wie in Bernhard Langs „DW
12 - Cellular Automata“ von 2003. Der romantische Gefühlskosmos
wird in seine Bestandteile zerlegt, der Rausch von gestern muß sich
der Ratio von heute beugen. Gleichwohl ergibt das eine Musik, die
auch emotionale Qualitäten gewinnt. Daran ist aber auch eine
virtuose Interpretation beteiligt. In die komponierten Gespräche
zwischen Rausch und Ratio brachte sich auch noch Mathias Spahlinger
mit seinem 1995 geschriebenen Stück „gegen unendlich“ (für
Baßklarinette, Posaune, Violoncello und Klavier) ein: ein
komplex erdachtes und ausgeführtes Werk, das außerhalb
des tonalen Bezugssystems mit „komponierten und unkomponierbaren
Abweichungen“ (Spahlinger) operiert. Was man vielleicht als
zu konstruiert vermuten könnte, ergibt beim Hören gleichsam
genau das Gegenteil: das Stück gewinnt eine fast schwebende,
kühle Sinnlichkeit. Musik von einer hohen Bewußtheit.
Die Neue Musik bemüht sich immer häufiger um ein junges
Publikum, nicht nur, weil sie an den interessierten Zuhörer
von morgen denkt, sie begreift vielmehr ihre Arbeit auch als Bildungsauftrag.
Das ist umso wichtiger, weil Elternhaus und Schule heutzutage immer
weniger musikalische Bildung, eigene musische Aktivitäten
von Kindern und Jugendlichen fördern. In Köln gab es
dazu einenvielversprechenden, wenn auch noch nicht gänzlich
gelungenen Beitrag. „Interaktion“ nannten die Geigerin
Carolin Widmann und, als Moderator, Bernhard König ihr „Familienkonzert“,
an dem viele Kinder samt erwachsener Begleitung teilnahmen. Carolin
Widmann führte vor, was man auf einer Violione alles ausdrücken
kann: Lachen, Weinen, Schreien und vor allem Singen. Durch Bernhard
König wurden die jungen Gäste aktiv in das Geschehen
einbezogen. Sie konnten Geräusche erzeugen, Tempi und Lautstärken
bestimmen, mit Körperaktionen rhythmisches Empfinden trainieren.
Carolin Widman spielte danach noch ausgesuchte Stücke von
Bach, Bartók, Sciarrino und Ysaye (natürlich nicht
komplett), an denen sich emotionale Bandbreiten von Musik ablesen
ließen. Das war für die Einsicht kleinerer Kinder sicher
noch zu schwierig. Carolin Widmann und Bernhard König möchten
das Projekt weiterentwi ckeln. Dass eine schon berühmte junge
Geigerin, neben ihren weltweiten Verpflichtungen, sich die Zeit
für derartige Unternehmungen nimmt, verdient hohes Lob.