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nmz-archiv
nmz 2007/02 | Seite 16
56. Jahrgang | Februar
Gegengift
Meinungsstarke, vereinigt Euch!
Der moderne Journalismus fordert von denen, die ihn erfolgreich
betreiben wollen, vor allem eins: Meinungsstärke. Den meinungsstarken
Journalisten erkennt man daran, dass er von der Sache, über
die er so entschieden urteilt, keine Ahnung haben muss. Deshalb
können seine Sätze knapp und klar und unmissverständlich
daherkommen. Der Meinungsstarke ist nicht in Gefahr, sich in
Hypotaxen zu verheddern – wie all die, die partout das
Für und Wider erwägen und auch noch darstellen wollen.
Der Meinungsstarke, so vermuten zumindest die Medien-Manager,
ist der Freund des Lesers, dem er ähnelt; in seinen Bedürfnissen
genauso wie im Stand des Wissens. Der Meinungsstarke ist die
engagierte, mit jedem Mainstream mitschwimmende Nachfolge-Version
seines zynischen Vorgängers. Dessen Devise lautete: Nur
nicht zu genau recherchieren, sonst geht die ganze schöne
Geschichte kaputt.
Worum geht es, werden jetzt ungeduldig all die fragen, die alles
rasch auf den Punkt gebracht wissen wollen. Schon ist man in der
Bredouille. Denn man weiß gar nicht so recht, was man antworten
soll. Meinungsstärke ist längst eine Seuche, schlimmer
als Rinderwahnsinn und Vogelgrippe zusammen. Sie zerstört
den Verstand und das Immunsystem, also die Widerstandskraft gegen
Unsinn und Zumutungen aller Art. Und sie ist so allgegenwärtig
und allmächtig, dass man sie schon gar nicht mehr wahrzunehmen
scheint.
Nur ein paar der jüngeren Beispiele: Dani Levys „Hitler-Film“ „Mein
Führer“ stellt eine Herausforderung dar, der kein Meinungsstarker
widerstehen kann. Er muss Partei ergreifen und für klare Verhältnisse
sorgen – und zwar („Wehret den Anfängen!“), bevor überhaupt
etwas passiert ist. Also: Bevor er sich mit Anlass und Objekt seiner Begeisterung
oder Empörung näher beschäftigen konnte. Der meinungsstarke Journalist
betrachtet die Tatsache, dass er einen Film gar nicht gesehen hat, nicht als
Hindernis für ein definitives, also abschließendes Urteil. Längst
sind die Zeiten passé, als Provinzzeitungen Geschichten erst aufgriffen,
nachdem sie in den Metropolen-Blättern schon zu Tode diskutiert worden waren.
Nichts fürchtet der moderne Journalist so wie das Verfallsdatum seiner Worte.
Deshalb wird der Artikel gerne „vorgezogen“. Was dem Bayerischen
Rundfunk nur aus Versehen passierte, dass er nämlich den Nachruf auf Edmund
Stoiber schon sendete, als dieser den Rücktritt noch scheute wie der Teufel
das Weihwasser, ist bei „weicheren“ Themen, denen die harten Fakten
keine Grenzen zu setzen scheinen, längst gängige Praxis: Eine ganze
Seite über „Mein Führer!“, produziert von Leuten, deren
Urteil nur aus Vor-Urteilen besteht und aus einer Art von intuitiver Marktforschung,
die jedem Journalisten Hinweise gibt, mit welcher Position er sich im Kampf aller
gegen alle einen kleinen Konkurrenz-Vorteil verschaffen kann. Dazu gehört,
dass man Experten und Betroffene zu Wort kommen lässt. Bei einem umstrittenen
Christus-Film zum Beispiel Bischöfe und Gläubige, bei einem Hitler-Film
Vertreter der jüdischen Gemeinde und Holocaust-Überlebende. Dass Berufe,
Konfessionen und Passionen dieser Art wenig helfen, wenn die Befragten sich mit
Kino nicht auskennen und noch nicht einmal den Film gesehen haben, gilt bei Meinungsstarken
und Engagierten nicht als Einwand, sondern bestenfalls als frivole Bemerkung.
Ein bisschen ähnelt der moderne Journalismus der gerade akuten Lehrer-Ausbildung,
bei der Fachwissen als entbehrlich beschimpft wird, weil es ja darauf ankommt,
den Kindern „etwas“ zu vermitteln, also um Didaktik ohne weiteres
Vorwissen. Oder dem modernen Musikunterricht, bei dem das Beherrschen des Instruments
als frustrierende Barriere für kreative Erkundungen aller Art erscheint.
Der moderne Journalist ist, so gesehen, nichts anderes als die seriös-staatstragende
Variante von Orff-Instrumentarium und „Improvisation“. Ein Spezialist
im Vermitteln von Emotionen und Überzeugungen, ohne dass es weiter wichtig
wäre, was man gerade fühlt oder meint. Was zählt: Man sollte flexibel
sein und mobil, wenn man weiterkommen will. Und selbst Frechheiten sollten so
formuliert sein, dass sie zur Not auch als Bewerbungsschreiben durchgehen.
P.S.: Eben geht durch die Presse, dass sich der mittlerweile
weitgehend in Ungnade gefallene englische Premier Tony Blair meinungsstark
gegen die neueste „Big
Brother“-Staffel engagiert, die auf dem Privatsender-Kanal „Channel
4“ ausgestrahlt wird. Er habe die Sendung zwar nicht gesehen, wende sich
aber gegen Rassismus in jeder Form, erklärte Blair, wenn man der FAZ Glauben
schenken darf (und warum sollte man nicht). Schließlich ergänzte die
FAZ die Meldung mit dem Hinweis, die indische „Regierung werde angemessene
Schritte ergreifen“, wenn auch mit der in Europa längst nicht mehr üblichen
Einschränkung „sobald sie alle Details kenne“. Worum geht es
bei dieser Staatsaffäre? Ein mitspielendes britisches Starlet kritisierte,
wie die „Süddeutsche“ zu berichten weiß, „Bollywood-Star
Shilpa Shetty“. Und wie? Mit der Behauptung, „Inder seien so dünn,
weil sie ihr Essen nicht gut kochten“. War das früher in Celebrity-
und Feminismus-Kreisen nicht eher ein Kompliment: schlank sein und erniedrigende
Hausarbeit torpedieren? Warum intervenieren die indische Regierung und Tony Blair?
Und noch dazu so meinungsstark und heftig? Bei Blair immerhin hat das Tradition.
Schließlich erkannte er schon vor zehn Jahren das allgemeine Erregungs-
und Hysteriepotential von Lady Dis Unfalltod, zitierte ungeniert aus einem Paulusbrief,
in dem es um die Liebe geht, promovierte die bulimische Zicke Di postum zur Prinzessin
des Volkes und wurde dadurch selbst für Jahre zum quotenstarken Premier
des Volkes. Regisseur Stephen Frears stellt jetzt im Dekadenabstand die Verhältnisse
richtig: Die vielgeschmähte Queen war die Gute und Helen Mirren, darin ist
sich die internationale Presse mit dem gemeinen Kinobesucher einig, bekam zu
Recht den Golden Globe als beste Darstellerin.