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nmz 2007/02 | Seite 1
56. Jahrgang | Februar
Leitartikel
Kunst als Waffe gegen unser Verschwinden
Brian Ferneyhough mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet · Von
Reinhard Schulz
Es mag vielleicht wie ein Wiedergutmachungsversuch der Jury wirken.
Diesem für den renommierten Siemens Musikpreis zuständigen
Gremium konnte (musste) man in letzter Zeit eine deutliche Schlagseite
zum Konservativen und Etablierten vorwerfen. Brendel, Dutilleux
oder Barenboim, also die Preisträger der letzten drei Jahre
(und wohl auch der Musikwissenschaftler Brinkmann, Wolfgang Rihm
oder Harnoncourt davor) sind wahrlich keine Speerspitzen einer
die Grenzen sprengenden Moderne, und wenn es so weitergegangen
wäre, dann hätte der Preis, was seine Würdigung
avantgardistischer Ansätze betrifft, gewiss Schaden genommen.
Mit Brian Ferneyhough, der dieses Jahr den Preis erhalten wird,
machte man eine Kehrtwendung um 180 Grad.
Brian
Ferneyhough bei den Proben für sein neuestes
Orchesterwerk „Plötzlichkeit“, das vom
Radio-Sinfonieorchester Freiburg/Baden-Baden unter der
Leitung von Arturo Tamayo bei den Donaueschinger Musiktagen
2007 uraufgeführt wurde. Foto: Charlotte Oswald
Der 1943 im englischen Coventry geborene Ferneyhough taugt
freilich nicht dazu, wie eine Attrappe als Vorzeigefigur eines
extremen Modernismus vorgeführt zu werden. Wäre es so,
dann hätte die Jury wiederum nicht optimal entschieden. Doch
sie hat diesmal einen gewählt, dessen peinlich genau durchformulierter
kompositorischer oder schöpferischer Ansatz auch heute noch
die Geister der jungen und jüngsten Generation bewegt und
der einer der ausgesuchten Komponisten war, gegen den sich die
Speerspitze der postmodernistischen, neoromantischen oder neu-einfachen
Vertreter richtete. Manchmal freilich, etwa in der Debatte über
eine zweite Moderne nach dem Verkümmern des Postmodernismus,
wird Ferneyhough auch als Zugpferd benutzt und mitunter vor Wägen
gespannt, deren Ballast er wohl gar nicht schleppen möchte.
Aber auch solche von anderen auferlegte Verkrümmungen sind
Begleiterscheinungen großer Persönlichkeiten. Vielleicht
wäre Ferneyhough, um eine Wendung Adornos zu benutzen, auch
gegen seine Parteigänger, bei denen das Komplexe mitunter
zur Dekoration verkommt, zu verteidigen.
Seine Partituren sind höchst ausdifferenziert, auf den ersten
und auch auf den zweiten Blick wohl völlig unüberschaubar.
Der Begriff der New Complexity oder des Komplexismus wurde zuallererst
auf ihn gemünzt. Blickt man mit instrumentaler Kenntnis in
den Text, dann stellt man fest, dass alles in toto, was ganz exakt
formuliert in den Noten steht, kaum spielbar sein dürfte.
Und einher ging selbstverständlich der Vorwurf, dass es unsinnig
sei, Unspielbares zu notieren. Dieser Konservativismus der Interpreten
verbaute Ferneyhough ein Gutteil an öffentlicher Präsenz.
Dass man hier eine Chance vor sich hatte, wurde lange übersehen.
Zum einen kennen wir den Vorwurf des Unspielbaren durch die ganze
Musikgeschichte und die Kunst der Interpretation wuchs an solchen
Herausforderungen. Bei Ferneyhough entdecken wir freilich eine
neue Qualität. Denn die Überforderung legt neue Schichten
der Auseinandersetzung mit dem Sujet (dem Notentext) frei. Der
Musiker muss an seine Grenzen gehen, ja er sollte sich bemühen,
sie zu überschreiten. Und er muss sich einen Plan zurechtlegen,
wie er mit der Partitur verfahren will, um ihr in Annäherungsprozessen
möglichst nahe zu kommen. Realisierte (also aufgeführte)
Musik, die in Notation vorliegt, ist immer nur verzerrte Annäherung
an ein Ideal, wo immer dies auch zu lokalisieren sei – das
sollte man nie aus den Augen verlieren. Ferneyhoughs Musik macht
dies offenkundig.
Ein zweites, selbstverständlicheres, wenn auch kaum angesprochenes
Argument ist ins Feld zu führen. Die Musik Ferneyhoughs wäre
gar nicht anders zu notieren. Sie will sich nicht einlassen auf
das Ungefähre von graphischen Schreibweisen, noch weniger
vertrüge sie eine Nivellierung der scharfen rhythmischen,
farblichen oder gestischen Kanten. Wer einmal Ferneyhough beim
Versuch, seine Musik plastisch zu verdeutlichen, zuhörte,
dem musste auffallen, dass dieser Komponist aus ganz natürlichem
Inneren komplex denkt. Seine Musik ist keineswegs eine spekulativ
aufgesetzte, sondern eine genuin eigene. Wenn er etwa eine Passage
singend andeutet, dann vernimmt man in den distinkt gesetzten Unschärfen
den unbedingten Zwang zu dieser Notation (auch dann, wenn man mit
einem Messgerät feststellen mag, dass Ferneyhough das Geschriebene
nicht exakt realisiert). Seine Musik kommt nicht nur aus dem Kopf,
sondern aus einem geistig-sinnlichen Gesamten.
Ferneyhoughs Musik, vielleicht wird das erst später vollends
klar, ist ein Gegenentwurf zur Abstumpfung unserer Sinne, wie sie
die Gegenwart mit ihren Ablenkungs- und Entertainment-Mechanismen
unerbittlicher denn je diktiert. Er sieht ein weltweites Zusammenbrechen
des Intellekts, der die bedrohte menschliche Existenz verteidigt.
Die sperrigen Kanten seiner Musik sind Rettungsanker. Hier knüpft
er an die kritische Gesellschaftstheorie an und auch an Walter
Benjamin, um den sich seine 2004 uraufgeführte Oper „Shadowtime“ zentrierte.
Dessen Selbstmord auf der Flucht vor dem deutschen Faschismus ist
ihm Symbol der Vertilgung eines urbanen Bewusstseins, mithin die
Vernichtung unserer Differenzierungsmöglichkeiten hin aufs
Menschliche. Die sich dagegen richtenden Waffen werden immer stumpfer
und schartiger, versammeln sich in einem der letzten Widerstandsnester,
in dem der Kunst. Zu seiner Oper äußerte er: „Ich
frage in dem Stück die Zeit aus. Es ist ein trauriges Stück,
das aber durchaus auch humoristische Aspekte des Slapsticks einbezieht.
Das war für mich kompositorisch eine neue Herausforderung:
die Zeichnung von Personen, der Humor. Das Stück aber thematisiert
nicht die Ausweglosigkeit. Die Kunst ist eines der letzten Mittel,
uns selbst realistisch ins Auge zu schauen. Verfehlen wir auch
dies, dann freilich bleibt uns nur das Verschwinden.“