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nmz-archiv
nmz 2007/02 | Seite 3-4
56. Jahrgang | Februar
Magazin
Es geht auch um die Rettung Schuberts
Premiere der ersten Regensburger Runde dreht sich um Claus-Steffen
Mahnkopfs „Kritische Theorie der Musik“
Gäste
der ersten Regensburger Runde, veranstaltet von der neuen musikzeitung
und nmzMedia, waren der Komponist Claus-Steffen
Mahnkopf und der Sozialwissenschaftler und Publizist Roger Behrens.
Gesprächsanlass war Mahnkopfs neues Buch „Kritische
Theorie der Musik“, in dem der Autor auf Theodor W. Adorno
und die Gegenwartsphilosophie zurückgreift, um über die
Gegenwart und vor allem die Zukunft der Musik nachzudenken. Claus-Steffen
Mahnkopf studierte bei Brian Ferneyhough und Klaus Huber, ist Herausgeber
der Zeitschrift Musik & Ästhetik und Professor für
Komposition in Leipzig. Der zweite Gast, Roger Behrens, war telefonisch
zugeschaltet. Behrens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der
Bauhaus-Universität in Weimar, tätig an der Fakultät
für Gestaltung im Bereich Ästhetik der Neueren Kultur.
Das Gespräch moderierten Reinhard Schulz und Andreas Kolb.
Reinhard Schulz: Sie nennen Ihr Buch „Kritische Theorie der
Musik“. Es gibt keine kritische Theorie der Malerei, der
Literatur. Warum braucht Musik eine kritische Theorie?
Regensburger
Runde (v.li.) Andreas Kolb, Claus-Steffen Mahnkopf, Reinhard
Schulz und Roger Behrens (nicht im Bild). nmzMedia bringt
das Gespräch in voller Länge unter www.nmzmedia.de.
Fotos auf Seite 3 und 4: Juan Martin Koch
Claus-Steffen Mahnkopf: Ich beziehe
mich auf die große Tradition
der kritischen Gesellschaftstheorie, wie sie von Max Horkheimer
in den 30er-Jahren entwickelt wurde. Sie ist eine der prominentesten
philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, und vielleicht
der prominenteste Vertreter dieser Philosophie ist Theodor W. Adorno.
Er war Musiker, Komponist und Musikphilosoph und dachte deswegen
logischerweise die kritische Theorie als Gesellschaftsprojekt mit
der Musik zusammen. Seit seinem Tod ist die-se Frage im Raum und
es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand kommt und das zusammenbringt.
Das war die ursprüngliche Intention, mit der ich an dieses
Buch herangegangen bin. Durch meine Herkunft – ich bin nicht
nur ausgebildet als Komponist, sondern eben auch als Musikwissenschaftler
mit Nebenfächern Philosophie und Soziologie – ist dieser
Hintergrund für mich ganz präsent gewesen.
Schulz: Roger Behrens arbeitet auf dem Gebiet
der kritischen Theorie, jetzt aber in Bezug auf Massenkultur oder
Popkultur – wie
sehen Sie dieses Verhältnis, Herr Behrens?
Roger Behrens: Grundsätzlich bin ich mit Mahnkopfs Projekt
einverstanden, auch in der Hinsicht, dass nicht nur die Notwendigkeit,
kritische Theorie fundamental zu aktualisieren, besteht, sondern
dieses auch in Hinblick auf Musik zu tun ist. Gleichwohl kam mir
auch die Frage in den Sinn, wieso es eine kritische Theorie der
Musik ist, wieso ausgerechnet die Kunstform der Musik gewählt
wurde. Ich glaube indes: Dass es keine kritische Theorie der Malerei
oder der Literatur oder der Architektur in diesem Sinne gibt, ist
gleichsam eine Leerstelle, die gefüllt werden müsste,
und ich verstehe Mahnkopfs Ansatz – er hat ja auch einen
Exkurs über Architektur und Neue Musik in seinem Buch – so,
dass dieses Buch Anstoß gibt, diese Leerstellen sukzessive
zu füllen. Ich beschäftige mich eher mit dem Bereich
Massenkultur und das berührt natürlich die Aspekte, wo
ich mit Mahnkopf in die Kontroverse gehen würde.
Schulz: Mahnkopfs „Kritische Theorie der Musik“ ist
fokussiert auf das, was wir unter zeitgenössischer Musik verstehen.
Das ist nicht das, was die Allgemeinheit unter zeitgenössischer
Musik versteht, da gehört ja Popkultur und Jazz, Rock dazu.
Wenn wir sagen Neue Musik, dann meinen wir diesen mehr oder weniger
elitären Winkel, der sich eigentlich auch abgegrenzt hat von
anderem Musikgeschehen. Wo hätten Sie aus Ihrer Warte noch
zu ergänzen?
Behrens: Mahnkopf schreibt allgemein über Musik, meint aber
im Speziellen die Kunstmusik. Gleichwohl diskutiert er die Bedingungen
der Kunstmusik, die Bedingungen der Neuen Musik, der Gegenwartsmusik,
unter dem Vorzeichen der Kulturindustrie oder der fortgeschrittenen
Kulturindustrie als Reklameindustrie. Die Musikformen, die es innerhalb
der Kulturindustrie gibt, fallen bei Mahnkopf eigentlich raus,
die kommen schlecht weg. Gleichwohl glaube ich, dass dieses Wort „Kunstmusik“ ein
Problem darstellt, weil es auch innerhalb des großen Bereiches
der Popmusik musikalische Formen gibt, die sich in den letzten
fünfzig Jahren entwickelt haben, auch neben dem Jazz, die
gleichsam Anspruch auf die Überprüfung hätten, ob
es sich nicht dabei um Kunstmusik handelt.
Schulz: Herr Mahnkopf, in der Literatur
gibt es das nicht, dass Popliteratur sich abgrenzt von einer so
genannten Hochliteratur.
Wie schätzen Sie Phänomene wie die Beatles oder Kurt
Cobain ein?
Mahnkopf: Dann müssten Sie in der Literatur oder im Film ein Äquivalent
zu Britney Spears oder Paris Hilton finden, denn das sind die eigentlichen
Popphänomene der Gegenwart. Aber lassen Sie mich erst einmal
sagen, warum ich überhaupt über Kunstmusik spreche. Zunächst
einmal ist es durchaus meine Limitation: Ich kenne mich in der
Popmusik einfach nicht aus. Das heißt, dass das jemand anderes
machen muss. Die Kritische Theorie der Musik ist ohnehin ein interdisziplinäres
Forschungsprojekt der nächsten 30 Jahre mit mindestens 20
Mitarbeitern. Man müsste ein Institut gründen, ein Max-Planck-Institut
zur Erforschung der Musik der Gegenwart und zwar insgesamt, für
alle Formen von Musik. Ich wüsste allerdings nicht, welcher
Musikwissenschaftler dort eine Stelle bekäme, so wie momentan
Musikwissenschaftler ausgebildet werden.
Jemand müsste den Anfang machen und dieser war ich; ich
habe diesen Titel sozusagen usurpiert. Ich komme eben als klassischer
Musiker, nicht nur als Komponist, ich spreche über die große
europäische Tradition der letzten tausend Jahre. Ich habe
auch ein Kapitel geschrieben über die Alte Musik, über
Aufführungspraxis. Wie wird alte Musik, oder die klassische
Musik vergegenwärtigt? Es geht also nicht nur um die Neue
Musik. Das ist mir ganz wichtig: Das Buch ist nicht eine Ästhetik
eines Komponisten, es ist nicht meine Ästhetik, denn das mache
ich woanders. Ich darf auch ankündigen, dass ich mich in einem
Folgebuch auch zur populären Musik äußern werde.
Und zwar im Zusammenhang mit der Frage der Globalisierung und der
kommenden Weltgesellschaft, in der die Frage zu stellen ist: Welche
Rolle hat die majoritäre Popmusik im weitesten Sinne, die
sich ausbreitet wie der Warenverkehr überhaupt. Welche Rolle
hat das, was man früher vielleicht einmal die Musik genannt
hat, die höhere Form, die – wenn ich das ganz romantisch
sagen darf – viel konzentrierter an einem Eigenwert des Musikalischen
interessiert ist. Es ist mir völlig egal, ob das Neue Musik
ist oder Schubert. Es geht mir darum, auch Schubert zu retten.
Vermittlung Neuer Musik ist Arbeit
Andreas Kolb: Sie haben gerade
das Stichwort Musikvermittlung genannt. Speziell der Bereich der
Neuen Musik, im Gegensatz zur Musik der
Kulturindustrie, bedarf ja der Vermittlung, weil sie nicht a priori
eine Funktion hat. Sie selbst wurden vergangenes Jahr vom World
New Music Festival dafür engagiert, sich mit dem Thema der
Vermittlung Neuer Musik auseinanderzusetzen. Wie muss man sich
das vorstellen?
Claus-Steffen
Mahnkopf
Mahnkopf: Vermittlung ist Arbeit.
Man muss die Sachen erklären.
Wir verstehen, schätzen, kennen heute mit einer Selbstverständlichkeit
einen nicht mehr neuen Komponisten wie Gustav Mahler. Aber das
war nicht immer so, auch das musste kulturell eingeübt werden über
eine ganz lange Zeit. Man darf auch nicht vergessen, dass in der
Zwischenzeit eine so schwierige Persönlichkeit wie Luigi Nono
in der Kultur angekommen ist, unter anderem auch deswegen, weil
er selber ein Mann der Kultur war. Heute gibt es die Tendenz, dass
die Kunstmusik selber wie ein Event auftritt. Das ist falsch. Es
muss um das Werk gehen, um das Konzert oder das Festival, um die
Inhalte und nicht um das Ereignis.
Behrens: Es ist ein Phänomen, wie Mahler von einem verfemten
Komponisten zu einem Mittelstück der neueren Event- und Konzertkultur
geworden ist. In Hamburg etwa vergeht kein Wochenende, ohne dass
nicht mindestens eine Mahler-Sinfonie aufgeführt wird. Einmal
abgesehen von der jeweiligen Qualität dieser Aufführungen:
Was unberührt bleibt, ist die Qualität, die in Mahler
selber liegt. Wir finden dasselbe Phänomen in der so genannten
Popkultur. Unser Jahrzehnt ist davon geprägt, dass eigentlich,
auch im musikalischen Material, nichts Neues mehr entsteht, sondern
viel an vergangene Moden angeschlossen wird. Das führt paradox
dazu, dass sich eben auch in der populären Musik eine Art
Qualität durchsetzt. Es wird auch auf Musik zurückgegriffen,
die etwa in den 60er-/70er Jahren überhaupt keine größere
Bedeutung für den Musikmarkt hatte, aber eben „Qualität“.
Um auf den Titel „Kritische Theorie der Musik“ zurückzukommen:
Es ist nicht nur eine kritische Theorie über Musik, sondern
es geht auch darum, das kritische Motiv, die kritische Intention
in der Musik selber stark zu machen. Musik kann in der Gesellschaft,
in der wir leben, auch eine kritische Kraft sein. Die Qualität
einer Musik, sei es jetzt Neue Musik, Kunstmusik, populäre
Musik, bestünde darin, dass sie im emphatischen Sinne Erkenntnischarakter
hat oder, noch emphatischer gesagt, Adornos Wort aufgegriffen,
einen Wahrheitsgehalt zum Ausdruck bringt. Die Kriterien, die Mahnkopf
nennt – und er argumentiert sehr zentral mit den Begriffen
der Autonomie und der Avantgarde – scheinen mir auch anwendbar
zu sein auf zahlreiche musikalische Produktionen, die man im Bereich
so genannter Popmusik findet.
Mahnkopf: Ich möchte hier Morton Feldman zitieren. Morton
Feldman ist wirklich kein Komplexist gewesen und trotzdem hat er
das auf den Punkt gebracht, so wie ich es nicht besser hätte
formulieren können, vielleicht auch, weil er ein Komponist
war, der sich selber als ein jüdischer gesehen hat. „Ich
glaube“, sagt er, „dass der Musik die intellektuelle
Umstellung nicht zugestanden worden ist. Mit anderen Worten: Musik
darf keine intellektuellen Entscheidungen treffen. Musik ist die
einzige Sache, die keiner zu ändern wünscht. Wenn wir
doch nur die Frage beantworten könnten, warum wir eigentlich
nicht wollen, dass die Musik sich wirklich ändert.“ Was
meint er damit? Er meint offensichtlich eine Musik, die so andersartig
ist, dass selbst schon das Wort Neue Musik eine Beschönigung
wäre.
Adorno spricht in „Vers une musique informelle“ von
der vollkommen freien Musik. Das muss man sich vorstellen, was
das heißt, eine Musik, die nicht nur frei ist, sie ist vollkommen
frei! Offensichtlich gibt es das bislang noch gar nicht. Ob diese
Musik dann aus dem Populären kommt oder aus der klassischen
Tradition oder aus irgendwelchen Regionen der großen Weltkulturen,
das wissen wir heute nicht. Aber ich bin schon der Meinung, dass
wir darüber nachdenken sollten. Ich möchte die Musik
genauso in das Zentrum des modernen Diskurses holen, wie das übrigens
mit der Malerei, mit der Architektur, gerade mit der Literatur
schon längst geschehen ist. Sie ist ein Teil der Lebenswelt.
Reinhard
Schulz
Schulz: Wenn wir schon den Begriff
einer freien Kunst, einer freien Musik verwenden wollen, der ja
ohnehin Utopie ist – kann
man ihr keine Richtung vorschreiben. Ihr Buch ist aber eine Parteinahme
für die New Complexity, den Komplexismus. Ich sehe darin das
Fatale des Ausschlussverfahrens, den schon die Erste Moderne gemacht
hat – vielleicht sogar damals noch mit größerer
Potenz. Heute gibt es eine solche Offenheit, Pluralität des
Schreibens. Ich glaube, dass diese Festlegung oder diese Fokussierung,
die Sie da betrieben haben, den heutigen Bedingungen des Musikschaffens
nicht gerecht wird.
Mahnkopf: Sie argumentieren aus
der Erfahrung einer ästhetisch
und kulturell gescheiterten Postmoderne – und Sie denken
aus der Perspektive der Ersten Moderne und werfen mir genau deren
Fehler vor. Ich spreche hier überhaupt nicht von wahr und
falsch oder von dem falschen Weg und wohin es gehen muss. Alle
großen Komponisten, alle großen Strömungen, ob
das Scelsi ist, Cage, Lachenmann, Nono, Feldman, selbst Wolfgang
Rihm, Berio … alle sind irgendwie angekommen, nur nicht die
Komplexe Musik. Das liegt einfach daran, dass sie noch nicht verstanden
wird. Vor allem nicht in Deutschland. Dass ich diese Position hier
in diesem Buch stark mache, hat zwei Gründe. Erstens: Es ist
die einzige, die noch stark zu machen ist, denn alle anderen sind
schon stark. Und zweitens glaube ich tatsächlich, dass im
Zusammenhang der Zweiten Moderne das, was sich in der musikalischen
Grammatik verändert hat, durchaus anschlussfähiger ist
als andere Stile. Es ist interessant, dass komplexe Rhythmen selbst
bei Matthias Pintscher in der Zwischenzeit als eine Selbstverständlichkeit
vorkommen.
Schulz: Herr Behrens, gibt es im
Bereich der Popmusik oder der Massenkultur auch so etwas wie komplexe,
oder komplexistische Erscheinungen?
Behrens: Es gibt insgesamt zahlreiche
interessante Parallelen zu den Thesen, die Mahnkopf formuliert,
zum Beispiel im Hinblick auf
das Theorem der Dekonstruktion, aber auch in Hinblick auf die Stärkung
jüdischer Elemente, nicht nur im religiösen Sinne, sondern
auch im Sinne einer, wenn man so will, vom jüdischen Geist
geprägten Ästhetik. Es gibt etwa den Jazzsaxophonisten
John Zorn, der mittlerweile die Reihe „Great Jewish Music“ herausgibt,
in der unterschiedlichste Arrangeure von populärer Musik versammelt
werden. Das geht von T-Rex, also Marc Bolan, bis hin zu Arbeiten
von Zorn selber.
Beim Stilbegriff des Komplexismus bin ich nicht sicher, ob der
so ohne weiteres übertragbar ist auf eine einfach nur komplexe
Musik. Aber wenn man sagen würde, bei Mahnkopf geht es ganz
klar um komponierte Musik, so würde ich eine andere Musik
stark machen, die über das Arrangieren kommt, und zwar durchaus
auch im Sinne der Funktionalisierung für Unterhaltung. Ich
glaube im Übrigen, dass Unterhaltung nicht einfach nur in
der Eventkultur der Kulturindustrie aufgeht. Wenn man unter Komplexität
so etwas wie einigermaßen komplexe Arrangements versteht – Mahnkopf
argumentiert in ähnlicher Weise positiv über den Film „Titanic“ in
seinem Buch und legt da durchaus auch eine Nähe seiner Terminologie
zu Phänomenen der Popkultur vor –, dann zeigen sich
ganz viele unterschiedliche Beispiele auch im Bereich der populären
Musik. Um Beispiele zu nennen: ich denke hier an godspeed you!
black emperor oder das Seitenprojekt Silver Mt. Zion.
Mahnkopf: Vielleicht kann ich noch
anfügen, dass ich natürlich
nicht möchte, dass wir dauernd komplexe Musik hören.
Erstens hat jeder Mensch das Recht auf Unterhaltung, auf Tanzmusik,
auch auf Kitsch. Die Frage ist immer nur, welche? Soll die Menschheit,
sollen diese sechs Milliarden Menschen auf ein niedriges Niveau
nivelliert werden oder sollen eigentlich nicht alle nach oben gezogen
werden? So wie Trotzki sagte: Im Kommunismus sind alle Menschen
so intelligent wie Aristoteles und alle haben eine schöne
Stimme wie ein Sänger.
Schulz: Sowohl ein autoritäres Regime als auch der Kapitalismus
sind daran interessiert, die Massen nicht zu entwickeln, sondern
auf einem niedrigeren Niveau zu halten. Es ist erstaunlich, wie ähnlich
Kulturpolitik im nationalsozialistischen Deutschland und unter
Stalin war. Und es ist erstaunlich, wie diese Formen auch auf den
heutigen Musikbetrieb übergegriffen haben.
Mahnkopf: Eben. Aber wenn wir uns
in Richtung einer Zivilgesellschaft und einer wirklich reifen Demokratie
entwickeln wollen, müssen
wir eines Tages auch darüber sprechen, welche Musik wir eigentlich
hören wollen. Das geschieht nicht, sondern es gibt Mechanismen,
die weitgehend den Geschmack lenken. Fast ohne Diskussion.
Kolb: Sie beschäftigen sich in Ihrer Kritischen Theorie nicht
nur mit ästhetischen Fragen, sondern auch mit Fragen der Ausbildung,
mit Musikwissenschaft, mit Musikpädagogik. Da lassen Sie nicht
viel gelten von dem, was heute gemacht wird.
Mahnkopf: Das liegt daran, dass die Musikwissenschaft
eigentlich keine Musikwissenschaft ist, sondern eine Geschichtsschreibung.
Das muss zwar sein, so wie Geschichte auch ein Fach ist, aber es
muss irgendwann einmal der Punkt kommen, an dem wir in der Gegenwart
leben. Mit Carl Dahlhaus hatten wir nach dem Zweiten Weltkrieg
wenigstens einen Musikwissenschaftler, der das Problem erkannt
und in dieser Richtung gearbeitet hat, aber bitte – ich wüsste
sonst niemanden. Das zweite, die Musikpädagogik: Ich
stelle fest, dass in den letzten 30 bis 40 Jahren der musikpädagogische
Bereich – Zeitschriften, Professuren, Forschungsgelder und
so weiter – zu einem riesigen Machtdispositiv angewachsen
ist – es gibt bald mehr Musikpädagogikprofessuren als
zum Beispiel Musikwissenschaftsprofessuren – aber der allgemeine
Bildungsstand – man denke an die Pisa-Studie oder Aufnahmeprüfungen
mit deutschen Abiturienten – wird nicht besser. Also sollte
man sich vielleicht auf das Wesentliche konzentrieren. Mein Vorschlag
war, dass man bei einer Umstrukturierung die frei werdenden Mittel
in eine intelligente Medienvermittlung von Musik und damit auch
in eine öffentliche Diskussion einfließen lässt.
Schulz: Vielleicht sollten wir
Herrn Behrens fragen. Die Musikpädagogik
stützt sich ja in letzter Zeit auch verstärkt auf die
Popmusik. Wie sehen Sie dieses Phänomen?
Behrens: Gerade im Bereich der
Musik finden wir ein interessantes Phänomen, das es in anderen Kunstformen nicht in der Form
gibt, nämlich dass die E-Musik und die U-Musik besonders weit
entfernt voneinander sind. Zum anderen entwickelte sich die populäre
Musik in den letzten fünfzig Jahren zur Leitkunst. Die Entwicklung
der Popkultur ist wesentlich geprägt durch die Popmusik, und
wenn man sich neuere Literatur ansieht, insbesondere aus dem Bereich
der Kultur- und Medienwissenschaften, gibt es ganz oft eine Gleichsetzung
zwischen Popkultur und Popmusik. Diese Gleichsetzung halte
ich sachlich für falsch und mittlerweile auch historisch für
falsch. Man kann die These wagen, dass Musik insgesamt verschwindet.
Die großen Neuerungen in der Mediengesellschaft, die in den
80er-Jahren eingeführt wurden, etwa das Musikfernsehen, sind
mittlerweile in einem Zustand, dass man sagen muss, Musiksender – wenn
sie nicht ohnehin schon pleite gegangen sind – wie etwa MTV
zeigen immer weniger Musik. Gleichzeitig berührt dies das
Problem der Musikpädagogik insofern, als dass die von Mahnkopf
aufgeworfene Frage insgesamt in der Musikpädagogik überhaupt
keine Rolle spielt, nämlich die Frage: Welche Musik wollen
die Leute hören? Es geht ja nicht nur darum, dass man auf
stumpfem Reiz-Reaktions-Schema irgendwelche Pseudo-Bedürfnisse
befriedigt, sondern darum, dass man Menschen mündig macht
und aufklärt darüber, dass sie ein Recht auf Unterhaltung,
ein Recht auf ästhetische Wahrnehmung haben, und das setzt
aber eine Reflexion voraus auf das, was man überhaupt möchte
und warum man etwas möchte. Das ist ein Bereich, der mir völlig
untergegangen zu sein scheint in der gegenwärtigen Musikpädagogik
und vielleicht auch in den Erziehungswissenschaften allgemein.
Musikhochschulen als gute Orte der Kultur.
Kolb: Herr Behrens, Sie arbeiten
an der Bauhaus-Universität
in Weimar an der Fakultät Gestaltung im Bereich Ästhetik
der Neueren Kultur. Ist es nicht denkbar, dass man den Komponisten
helfen könnte, sich wieder direkter mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen – was
ja scheinbar der Wunsch, zumindest von Herrn Mahnkopf ist – indem
man sie befreit von den Musikern an den Musikhochschulen, die sowieso
nur das Museum reproduzieren, und sie zu den Gestaltern, zu den
Designern und den Kommunikationswissenschaftlern bringt? Wäre
das nicht eine Lösung, vielleicht auch für einen besseren
Musikunterricht und eine bessere Musikpädagogik? Dies ist
auch eine Frage an Herrn Mahnkopf.
Behrens: Wenn ich Mahnkopf richtig
verstehe, und darin möchte
ich ihn unterstützen: Es geht überhaupt erst einmal darum,
der Neuen Musik oder der Musik überhaupt – das Buch
heißt ja „Kritische Theorie der Musik“ und nicht „der
Neuen Musik“ – eine Stellung in der Gesellschaft zu
geben, der Musik überhaupt einen Raum zu geben, wo über
sie nachgedacht werden kann und wo sie auch gehört werden
kann. Das Musikalische selber droht zu verschwinden, und es scheint
auch zu verschwinden aus den Bedürfnissen der Menschen. Das
ist ein Problem, das nicht nur dadurch lösbar ist, dass man
der Musik an den Hochschulen wieder eine Stellung verleiht, sondern
ein Problem, das verlangt, dass auf breitester gesellschaftlicher
Ebene die Debatte über Musik wieder aufgenommen wird und das
nicht nur in fachwissenschaftlicher Weise.
Mahnkopf: Herr Kolb, es ist ja
gar nicht so, dass die Musikstudenten an den Musikhochschulen alle
nur dumme Musiker
sind. Das sind hoch
gebildete Menschen, sehr feinfühlige, sehr gegenwartswache
Menschen, häufig aus ganz unterschiedlichen Ländern.
Es ist eigentlich ein guter Ort, um etwas Kulturelles, Wichtiges,
musikalisch Hochstehendes in Gang zu setzen. Aber irgendwie ist
der Wurm drin und es geht darum, diesen Wurm zu finden und zu ziehen.
Ich finde schon, dass an jeder Musikhochschule ein Professor für
Philosophie sein sollte, ein Kulturwissenschaftler, auch ein Medienwissenschaftler,
vielleicht auch ein Historiker, damit dort einmal ein anderer Geist
hinein kommt. So geraten die Musiker und auch die Komponisten sehr
häufig in das, was ich den Narzissmus des Musikalischen nannte,
in die eigene Selbstgenügsamkeit: „Wir sind Musiker,
wir sind damit privilegiert und es geht uns damit eigentlich ganz
gut.“ Aber das ist ein Trugschluss. Was Herr Behrens gerade
gesagt hat, dass die Gesellschaft visueller und irgendwie amusischer
wird, finde ich ein Verhängnis.
Wie in jedem gesellschaftlichen Diskurs, muss man auch hier um
eine bestimmte Position kämpfen. So würde ich zum Beispiel
in der Musikpädagogik darum kämpfen, dass man am Gymnasium
klassische Musik unterrichtet und nicht nur Popmusik, die sowieso
verständlich ist. Es geht ja gerade in der Pädagogik
darum, das Nicht-Verständliche verständlich zu machen.
?