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nmz-archiv
nmz 2007/02 | Seite 20
56. Jahrgang | Februar
Forum Musikpädagogik
Bildungsangebote fürs Säuglings- und Kleinkindalter
Zum Stand der VdM-Initiative „Musikalische Bildung von Anfang
an“
Frischgebackene oder werdende Eltern, die an einem kulturellen
Förder- oder Lernangebot für sich und ihre Kinder interessiert
sind, müssen je nach Wohnort lange suchen, falls sie überhaupt
fündig werden. In den Agendas und Konzeptionen der im Bereich
Kinder- und Jugendbildung tätigen Akteure und Institutionen,
so werden sie feststellen müssen, wird das Vorkindergartenalter
bislang allgemein wenig berücksichtigt. Auch bei einem Blick
auf den Strukturplan des Verbandes deutscher Musikschulen (VdM)
werden sie den Eindruck bekommen, dass es sich auf eine längere
Wartezeit einzurichten heißt, findet man dort doch bislang
als früheste Einstiegsmöglichkeit in das Musikschulangebot
die „Grundfächer“ mit „Musikalischer Früherziehung“ für
Kinder von vier bis sechs Jahren und „Musikalischer Grundausbildung“ für
Kinder von sechs bis acht Jahren verzeichnet.
Dabei gibt es längst etliche öffentliche Musikschulen,
die auch für den Eltern-Kind-Bereich und für das der
Kindergartenzeit vorgelagerte „Spielgruppenalter“ Kursangebote
entwickelt und in ihr Programm aufgenommen haben. Im Vorfeld des
gut erschlossenen, aber nach Einschätzung des Verbandes durchaus
ausbaufähigen Bereichs der „Musikalischen Früherziehung“ werden
derzeit zwar erst rund 26.000 Kinder (2,4% der Gesamtschülerzahl
an VdM-Musikschulen, 11,7% des Vorschulbereichs) erreicht; die
Musikschulen nehmen jedoch, wie Rückmeldungen beim VdM belegen,
eine wachsende Nachfrage von Seiten interessierter Eltern wahr.
Ein Problem besteht nun darin, dass Musikschulen, die gerne
Angebote bereitstellen würden, auf keine zur „Serienreife“ gelangten
und flächendeckend etablierten Konzepte zurückgreifen
können. Auch fehlen ihnen zum Teil bislang Qualitätskriterien,
geeignete Unterrichtswerke und das Wissen um Methoden und mögliche
Kooperationen. Im Rahmen der Initiative „Musikalische Bildung
von Anfang an“ hat sich der VdM das Ziel gesetzt, Angebote
für die ersten Lebensjahre flächendeckend an seinen Mitgliedsschulen
zu etablieren.
Eine der Ursachen für die gestiegene Nachfrage von Bildungsangeboten
für das frühe Lebensalter liegt sicherlich in der Bildungsdebatte
der letzten Jahre, angestoßen von den Ergebnissen internationaler
vergleichender Studien (IGLU, PISA) wie auch zahlreicher neuer
Erkenntnisse vor allem im Bereich der Entwicklungspsychologie und
der Neurobiologie über Lernvorgänge und die Art und Weise
der menschlichen Weltaneignung. Einzelne Entwicklungsphasen bieten
demnach jeweils besonders günstige Voraussetzungen für
den Erwerb bestimmter Kompetenzen, Defizite lassen sich außerhalb
der privilegierten „Zeitfenster“ später nur mühsam
kompensieren. Die Diskussion der Forschungsergebnisse in der Fachwelt
und in der Öffentlichkeit hat unter anderem zu einem gestiegenen
gesellschaftlichen Bewusstsein für die Bedeutung nicht
nur des Primarstufen- und Kindergartenalters, sondern auch des
vom öffentlichen Bildungssystem bislang nicht erfassten frühkindlichen
Lebensalters für das Lernen sowie für die kulturelle
und soziale Prägung, mithin für den gesamten weiteren
Verlauf der individuellen Bildungsbiographie beigetragen.
Das zunehmende Interesse vieler Eltern an der gezielten Förderung
ihrer Kinder zeigt sich im Anspruch an das Profil von Kindertagesstätten
ebenso wie in der Sorgfalt bei der Ausgestaltung eines anregenden
Lernumfeldes in den ersten Lebensjahren. Musikalische Angebote
spielen hierbei nicht nur wegen der vielfach belegten und zugeschriebenen
positiven Effekte auf die Gesamtentwicklung der Kinder eine
wichtige Rolle. Ob es an der Wirkung von Musik selber liegt oder
an der Situation, in der Musik gemacht und gelernt wird, mag zu
erörtern sein; unstrittig ist jedenfalls, dass bei einem gut
gestalteten Umgang mit Musik unmittelbar Lernanlässe für
zahlreiche außermusikalische Bereiche entstehen, beispielsweise
auf den Gebieten der Motorik, des Spracherwerbs und des Sozialverhaltens.
Empfindungs- und Ausdrucksfähigkeit, sinnliche Wahrnehmung
und Selbstbewusstsein erhalten durch solche gemeinsam erfahrene
musikalische Anregungen eine gute Grundlage. Auch die Möglichkeit,
parallel zur Entwicklung der Kinder ein natürliches Verhältnis
zu Musik von Anfang an mitzulernen und zu entdecken, sowie der
Wunsch, sich Liedgut (wieder-) anzueignen und an die eigenen Kinder
zu vermitteln, lässt Eltern sich für Musikangebote interessieren.
Eltern entdecken rasch, dass musikalische Aktivitäten im Eltern-Kind-Bereich
und im Spielgruppenalter die besondere Chance bieten, mit
einer lebendigen Musikkultur das Familienleben zu bereichern, woraus
sich, technisch gesprochen, wiederum positive Effekte für
die Stabilität und Qualität des Sozialgefüges,
für die familiären Beziehungen und Bindungen ergeben.
Die Begegnung beim musikalischen Tun in der Gruppe schafft
aber auch soziale Verbindungen über die familiären Grenzen
hinaus. Und vielleicht liegt auch der einen oder anderen Anmeldung
zu einem Eltern-Kind-Kurs die Überzeugung zugrunde, dass Musik
für den Menschen als Kulturwesen – also auch für
Säuglinge und Kleinkinder – ein „unverzichtbares
Medium ästhetischer Weltbegegnung und Selbstvergewisserung“ darstellt.
Für diese vorrangige Auffassung von Musik und musikalischem
Handeln jedenfalls wirbt der VdM in seinem neuen Flyer „Musikalische
Bildung von Anfang an“, der zu den Bausteinen der gleichnamigen
Initiative zählt und neben Aussagen zu Grundpositionen des
Verbandes etliche gute Beispiele für Angebote an VdM-Musikschulen
enthält, die sich an Kinder von null bis acht Jahren richten.
Gelungene Formen der Kooperation mit Kindertagesstätten und
Grundschulen sind dort ebenfalls nachzulesen.
Die Verbesserung der Kommunikation an der Schnittstelle zwischen
Musikpädagogen/-innen und Erzieher/-innen, die Einbindung
der „Musikalischen Früherziehung“ in die Arbeit
der Kindergärten und Kindertagesstätten als Ganzes und
die weitere Musikalisierung des Kindergartenalltags durch entsprechenden
Kompetenzerwerb der Erzieher/-innen sollen im Rahmen der Initiative
weiter vorangebracht werden. Deren eigentliche Neuerung besteht
jedoch in der Entwicklung und flächendeckenden Bereitstellung
eines musikalischen Bildungsangebots für die Altersgruppe
U 3/4 (gemeint ist die das Säuglings-, Kleinkind- und „Spielgruppenalter“ umfassende
Spanne von der Geburt bis zum üblichen Zeitpunkt des Eintritts
in einen Kindergarten beziehungsweise in eine Kindertagesstätte)
und deren Familien. Für dieses Kernziel gibt es beim VdM mit
seinen bundesweit an 4.000 Standorten vertretenen rund 950 Mitgliedsschulen
und den 16 Landesverbänden neben den erwähnten guten
Praxisbeispielen hervorragende infrastrukturelle Voraussetzungen,
aber noch keine speziellen Foren zum Austausch, zur Verbreitung
und Weiterentwicklung der vorhandenen Konzepte. Genau diese
Foren sollen im Rahmen der VdM-Initiative geschaffen werden, die
bereits vorhandenen Konzepte gesammelt, weiterentwickelt und zur
Grundlage eines verbandsweiten „Bildungsplans U 3/4“ werden,
der Handreichungen und Materialsammlungen bieten sowie Empfehlungen
und Qualitätskriterien zur Unterrichtsgestaltung enthalten
soll. Sinnvoll wäre auch, in einer Modellfortbildung diese
Konzepte an Musikschullehrkräfte zu vermitteln, die für
den Elementarbereich qualifiziert und/oder in diesem Bereich bewährt
sind, denn im Studienangebot für angehende Musikpädagogen/-innen
ist, korrespondierend zur Situation in der praktischen Musikschularbeit,
die Möglichkeit zum Kompetenzerwerb für den Umgang
mit Kindern der Altersgruppe U 3/4 und deren Eltern eine der
neueren Entwicklungen.
Zur Konzeptentwicklung wird auch die Zielgruppenansprache gehören,
denn der VdM hat als Problem erkannt, was sich aus dem Interesse
vieler Eltern an musikalischen Bildungsangeboten ergibt: dass nämlich
verschiedene sozial benachteiligte gesellschaftliche Gruppen aus
unterschiedlichen Gründen („Bildungsferne“, Unsicherheit
im Umgang mit dem öffentlichen Bildungsangebot, mangelnde
Sprachkompetenz, Zeitbudget, Finanzen) in der Einforderung
und Organisation gezielter Förderung für ihre Kinder
nicht aktiv werden. Wenn man eine „Zwei-Klassen-Bildung“ vermeiden
möchte, muss auch und gerade den Familien aus dem sozial benachteiligten
Umfeld von Anfang an die Chance eröffnet werden, einen Zugang
zu musikalischer Praxis und damit zu Kommunikations- und Integrationsmitteln
zu finden, die ihnen und ihren Kindern ansonsten womöglich
lebenslang verschlossen bleiben. Auch für Kinder und Eltern
mit Migrationshintergrund sind Basiskompetenzen im Umgang mit Musik
und anderen kulturellen Codes notwendig zur Herstellung von Interaktionsfähigkeit
in der Gesellschaft und zur möglichen Teilhabe an deren Gestaltung.
Hier bietet der Elementarbereich eine besondere Chance, indem er
für Eltern wie Kinder niederschwellig ist und Kontakte begünstigt.
Das Herbstsymposion des VdM im November letzten Jahres (siehe
Bericht auf der VdM-Seite in dieser Ausgabe) befasste sich außer
mit der „Musikalischen Bildung von Anfang an“ daher
auch mit den Schwerpunktthemen „Musikerziehung und der Dialog
der Kulturen“ und „Musik im 3. Lebensabschnitt“.
Man sieht also, dass der VdM bestrebt ist, den musikalischen Bildungsgedanken
nicht allein zum frühen Lebensalter hin auszuweiten oder nur
den sozial und kulturell integrativen Gedanken der musikalischen
Bildungsarbeit zu stärken. Vielmehr scheint die Vielseitigkeit
der Wirkungsweisen und Möglichkeiten von Musik sich zunehmend
in einem ebenso vielseitigen wie übergreifenden musikpädagogischen
Konzept der Musikschulen widerzuspiegeln.