[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2007/02 | Seite 18
56. Jahrgang | Februar
Hochschule
Neue Musik, Bewegungen, Film und Mickeymousing
Beobachtungen, Anregungen, Experimente beim Europäischen
Rhythmik-Kongress in Trossingen
Der Startschuss wurde in Schweden gegeben: Begeistert vom internationalen
Rhythmiksymposion in Stockholm erklärten sich die Lehrkräfte
der Trossinger Rhythmikabteilung bereit, den nächsten Kongress
an ihrer Hochschule auszurichten. Das Versprechen wurde gehalten
und durch eine organisatorische Hochleistung von Prof. Elisabeth
Gutjahr, Prof. Sabine Vliex und Dorothea Weise-Laurent wurde es
möglich, 30 Hochschuldozent/-innen aus Belgien, Schweden,
Polen, Österreich, Deutschland und der Schweiz in der Arbeit
kennen zu lernen.
In vier Tagen konnten 270 Studierende, Externe und Tagesgäste
zwischen 21 Workshops, 7 Vorträgen, sowie Filmen und Lehrprobenhospitationen
wählen. Dazu kamen zwei prall gefüllte Vortragsabende
und eine Podiumsdiskussion. Als „Klassiker“ der Rhythmik
wurden Musik- und Bewegungsimprovisation, Solfège und rhythmisch-metrisches
Arbeiten angeboten. Hinzu traten Beispiele aus der Vielfalt der
Anwendungsbereiche: Rhythmik für Schulklassen als Basis einer
Kinderoper in Verbindung mit Stimmbildung, Percussion, Videoclips,
Stummfilm oder gumboot dancing; im Einsatz für soziale Arbeit
und als Prävention psychosomatischer Erkrankungen.
Neben der hochkarätigen Arbeit in den Workshops gab es einen
besonderen Clou: der Themenschwerpunkt „Rhythmik und Neue
Musik“. Als Anstoß und Basis für die Diskussion
hatte das Trossinger Team eine höchst spannende Vorlage ersonnen.
Drei Dozenten wurden gebeten, unabhängig voneinander das gleiche
Stück – „langsamer als ich dachte“ von Carola
Bauckholt – mit Teilnehmern zu erarbeiten und zu präsentieren.
Eine große Herausforderung für die knappe Zeit von 90
Minuten und eine unbekannte Zahl von Aktiven! Aber geradezu modellhaft
entfalteten sich vier Arten, mit der Musik umzugehen.
Prof. Schwartz (Berlin) räumt den Beteiligten einen großen
Anteil an der Gestaltungsentwicklung ein. Sie sensibilisiert zu
Beginn für Bewegungsräume und fordert dann spontane verbale
und motorische Reaktionen auf die Musik heraus. Wie sich zeigt,
wählen die Teilnehmer fast immer die gleichen Elemente der
Musik und auch die Reaktion selber ähnelt sich. Das Ergebnis
dieser Arbeitsweise mit dem Fokus auf subjektivem Erleben wirft
die Frage auf, ob Universalia in der Beziehung zwischen Musik und
Bewegung existieren.
Dorothea Weise-Laurent (Trossingen) thematisiert anfangs Tempi
und Gruppenbezüge und stellt die Musik vor. Anschließend
vermittelt sie eine komplette Choreographie. Darin bezieht sie
sich punktuell auf wechselnde musikalische Elemente – Klänge,
Rhythmen, Dynamik – und regt die Ausführenden an, ihre
Bewegungsqualität durch die Musik zu verfeinern. In diesen
Abschnitten ergibt sich mehrfach eine verblüffende Ähnlichkeit
mit den Ergebnissen der vorher beschriebenen Erarbeitung. In anderen
Abschnitten setzt die Choreographie Kontraste oder führt Impulse
bewegungslogisch fort. Mit dieser Vorgehensweise verzichtet Weise-Laurent
auf eine eigenständige und subjektiv bedeutsame Erschließung;
andererseits verhilft die Choreographie womöglich, tiefer
in die Komplexität der Musik einzudringen als es über
eine spontane Reaktion möglich wäre. Darüber hinaus
wird eine Performance mit kalkulierter Bühnenwirkung erzielt.
Der Tanzpädagoge Kurt Dreyer (Biel) steuert zwei weitere Vorgehensweisen
bei. Im ersten Ansatz verwendet er das von Cunningham und Cage
gepflegte aleatorische Prinzip. Das bedeutet für die hiesigen
Akteure: Sie erhalten eine Gestaltungsaufgabe, die sie ohne Kenntnis
der Musik entwerfen, dann aber mit ihr zusammen aufführen.
Bei der Performance bleibt es dem Zuschauer überlassen, Bezüge
herzustellen.
Im letzten Ansatz bleibt der Zusammenhang von Musik und Bewegung ähnlich
lose – Dreyer inszeniert einen Ablauf, der zeitlich ungefähr
mit dem Stück verknüpft ist, aber inhaltlich als eine
neue Schicht über die Musik gelegt wird.
Die in der Rhythmik häufig diskutierten Fragen zum „richtigen“ Verhältnis
von Musik und Bewegung tauchen an Hand dieser Beispiele wieder
auf und lassen sich geschärft formulieren: Ist „Mickeymousing“ (ein
aus der Filmmusik stammendes Synonym für das Verdoppeln von
Bewegung durch Musik) ein heute noch gültiges Vorgehen? Welche
Nähe zur Musik ist geeignet für einen pädagogischen
Prozess? Gibt es Universalia in der Wahrnehmung von Musik, beziehungsweise
in der Bewegungsreaktion darauf? Wie wären sie im pädagogischen
Prozess zu behandeln? Hilft die visuelle Ebene einem Publikum zur
Annäherung oder lenkt sie von der Musik ab? Soll eine Bühnenpräsentation
vorrangig pädagogisch oder ästhetisch wirken? Welche
Bezugsdichte eignet sich für die Bühne? Welches Verhältnis
besteht zum Klischee? Die zusammenfassende Frage lautet schließlich:
Welche Rolle kann die Rhythmik in Bezug auf die Neue Musik einnehmen?
Zur Podiumsdiskussion waren neben der Komponistin Carola Bauckholt
weitere Nicht-Rhythmiker eingeladen: Prof. Gerhard Müller-Hornbach,
der Trossingen im Rahmenprogramm Donaueschingen-OFF schon im Oktober
besucht hatte, und Andreas Kolb, Redakteur der nmz. Die Rhythmik
vertraten Prof. Marianne Steffen-Wittek, May Früh und Monika
Dietrich (Schulmusik).
Bauckholt gab zu erkennen, dass sie im Ergebnis der Bühnenpräsentation
die darüber gelegte neue Schicht favorisierte. Steffen-Wittek
positioniert sich mit ihrem Plädoyer, das Klischee im pädagogischen
Prozess (hier auf Jugendliche bezogen) zu nutzen, um Musikanbindung
zu fühlen und das Verständnis für „the making
of“ zu wecken. Sie räumt ein, dass auf der Bühne
damit auch Langeweile erzeugt werden kann.
Leider war aber eine intensive Diskussion durch ein typisch europäisches
Sprachproblem behindert: Da das Publikum größtenteils
des Deutschen nicht mächtig war, die Podiumsgäste aber
eines Fachenglisch nicht kundig, blieben Wünsche bezüglich
begrifflicher Präzision und allgemeiner Verständlichkeit
offen.
Dennoch war hier ein Auftakt gegeben zu einer über das Fach
hinaus führenden Zusammenarbeit zwischen Komponisten, Interpreten
und Vermittlern Neuer Musik, denn die Externen waren sich einig:
Die Rhythmik eröffne ungeahnte Möglichkeiten, Neue Musik
wahrzunehmen, zu entdecken und in weiterführende synästhetische
Prozesse einzubinden.
Die gestalterische Kraft der vorgestellten Choreografien zu „langsamer
als ich dachte“ regte Gedanken an, ein Festival für
,Neue Musik und Rhythmik’ zu gründen oder in Kompositionen
explizit Rhythmiker/-innen einzubeziehen. Rhythmikintern wurde
die Thematik ebenso eifrig diskutiert, angefeuert zusätzlich
von den Gestaltungen der Vortragsabende. Trossingen gestaltete
einen Abend alleine und präsentierte die Rhythmik in all ihrer
künstlerischen Vielseitigkeit: Improvisation und Komposition,
Vergeistigung und Showelement, Bach und Webern – die Spanne
war groß, aber alle Beiträge überzeugten mit Ideenreichtum
und hohem Niveau in der Ausführung. Der zweite Abend wurde
von den Rhythmikabteilungen der Gäste bestritten und unterstrich
erneut die große Vielfalt – besonders stach das Genfer
Stück „Bienvenue chez la famille Schkrozhk“ hervor,
in dem mit den Mitteln von Film, Bewegung und Musik amüsant
die Leiden eines zum Klavierspiel „verdonnerten“ Kindes
nachgezeichnet wurden.
Die Fragen sind nicht gelöst, der Bedarf nach Austausch ist
groß: Erfreulich, dass sich neben den Genfer Kongressen eine
neue Tradition zu bilden scheint – das nächste Symposion
richtet Wien 2009 zum 50jährigen Bestehen des Studiums Musik-
und Bewegungspädagogik/Rhythmik aus.