[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz
2007/02 | Seite 11
56. Jahrgang | Februar
Praxis: Konzertvermittlung
Zwischen Kopflastigkeit und Klamauk
Beobachtungen anlässlich der ersten Vergabe des „junge
ohren preises“
Deutliche Überalterung des Publikums in den Konzertsälen
und Opernhäusern, durchweg rückläufige oder stagnierende
Reichweiten der ausschließlich durch Klassik geprägten
Kulturangebote im Rundfunk, drastisch sinkende Umsätze für
Produktionen mit klassischer Musik auf dem Tonträgermarkt – wer
wäre nicht gewillt, in den vielstimmigen Chor all jener einzustimmen,
die seit Jahren die große Krise der Klassik aufziehen sehen?
Der allenthalben propagierten Verödung der Musiklandschaft
in Deutschland wird nachhaltig nur entgegenzuwirken sein, wenn
Basisarbeit dahingehend geleistet wird, dass ein potenzielles Publikum
zu einem denkbar frühen Zeitpunkt an ein möglichst vielseitiges
Musikangebot herangeführt wird – und zwar mit geeigneten
Mitteln.
Hörsessions
im Gewandhaus Leipzig. Am 24. März steht die nächste „AudioInvasion“ an.
Foto: Gewandhaus
Da dies bis vor wenigen Jahren schlicht ignoriert wurde, ist
die aktuelle Krise, die sich wohl nicht wegdiskutieren lässt,
hausgemacht. Irreversibel ist nämlich eine gesellschaftliche
Entwicklung, die, bedingt durch eine ausgeprägt popkulturelle
Sozialisation der deutschen Nachkriegsgenerationen, dazu geführt
hat, dass selbst in Schichten mit gehobenem Bildungsniveau die
Beschäftigung mit klassischer Musik nicht mehr zu den Selbstverständlichkeiten
gehört. Der Umgang mit dem Kulturgut E-Musik ist folglich
heute nur noch eine Option unter vielen innerhalb eines ausufernden
Freizeitangebots. Dies sei als Faktum festgehalten, ohne deswegen
gleich in die Klagegesänge der Kulturpessimisten einzustimmen.
Neben dem Heranführen des Nachwuchspublikums an die musikalischen
Inhalte besteht eine zweite wichtige Zukunftsaufgabe in der Erneuerung
der Darbietungsform Konzert und der die-se sekundierenden Erscheinungen.
Viele Faktoren führen zu einer Haltung, die mit dem ohnehin überstrapazierten
Begriff der „Schwellenangst“ nur unscharf erfasst ist.
Es ist wohl weniger eine Angst, die das jüngere Publikum auf
Distanz zum traditionellen Konzertbetrieb hält, als vielmehr
das Gefühl, dort mit inhaltlichen und formalen Codes konfrontiert
zu werden, die in der eigenen Lebenswirklichkeit keine Rolle spielen,
für die folglich auch der passende Schlüssel fehlt.
Nun genügt es nicht, dieses bestehende Bild an der einen oder
anderen Stelle zu übermalen, um zu neuen Präsentationsformen
zu gelangen. Um die etablierten Strukturen zukunftswirksam zu reformieren,
bedarf es umfassender und integrierter Konzepte, an denen Künstlerpersönlichkeiten
ebenso mitarbeiten müssen wie Marketingstrategen und dafür
eigens qualifizierte Pädagogen. Solche Konzepte ausfindig
zu machen und für preiswürdig zu erachten, hatte eine
sechsköpfige Jury zur Aufgabe, die den 2006 erstmals ausgelobten „junge
ohren preis“ vergeben sollte. Initiatoren des Preises sind
die Jeunesses Musicales Deutschland, die Deutsche Orchestervereinigung
(DOV) und die Initiative Hören. An ausschreibungskonformen
Aktivitäten ist kein Mangel. Den (nur) einundzwanzig Einreichungen
hätte jedes Jurymitglied aus dem Stand noch eine Handvoll
Projekte hinzufügen können, denen man im eigenen privaten
oder beruflichen Umfeld begegnet war, ohne dass diese hier aufgetaucht
wären. Dennoch offenbarten die Bewerbungen das breite Spektrum
der derzeitigen Angebotslage. Von der „One-Man-Show“ bis
zum großen Orchesterprojekt und von der Heranführung
an ein einzelnes Instrument bis zum mehrere Sinne fordernden Kunst-erlebnis
im Spannungsfeld zwischen bewusstem Rezipieren und eigenem kreativen
Tun reicht die Palette. Auffällig war, dass die Aktivitäten
da besonders ausgeprägt sind, wo die Damokles-Schwerter, von
Etatkürzungen und Fusionen bis hin zu Schließungen,
am intensivsten gespürt werden, nämlich im Bereich der
Orchester und Theater in kommunaler Trägerschaft. Über
die Hälfte der Bewerbungen stammte aus diesem Bereich, und
es war erstaunlich zu erleben, mit wie viel Fantasie an Projekten
gearbeitet wird, die der Rek-rutierung des Besuchernachwuchses
dienen. Vielfach lässt das Engagement richtige Ansätze
erkennen, beispielsweise indem das praktiziert wird, was der Vorsitzende
des Deutschen Kulturrats, Max Fuchs, als „aufsuchende Kulturarbeit“ bezeichnet.
Nicht primär die Kinder und Jugendlichen ins eigene Haus zu
holen, sondern begleitend da aktiv zu werden, wo die anvisierten
Zielgruppen „zuhause“ sind, diese Form des Zugangs
wird durchaus genutzt und die von Fuchs in diesem Zusammenhang
empfohlene Kooperation mit Schulen und Kindergärten häufig
gesucht. Der Orchestermusiker im Klassenraum oder das Sinfonieorchester
in der Turnhalle sind in der deutschen Kulturlandschaft derzeit
keine Seltenheit!
Da für die Realisierung solcher Projekte vor allem im Bereich
des Personals auf „Bordmittel“ zurückgegriffen
werden muss, entstehen Konzepte, die in der Regel gut gemeint und
auf dem Papier überzeugend dargelegt sind. Häufig genug
scheitert die praktische Umsetzung jedoch an der Tatsache, dass
ein Konzertdramaturg, statt Programmhefte zu redigieren, plötzlich
musikdidaktische Ziele verfolgen und ein Orchestermusiker, statt
auf der Bühne oder im Graben sein Instrument zu spielen, Vermittlungsarbeit
leisten soll, die von seinen vielfach vermutlich sogar vorhandenen
instrumentalpädagogischen Fähigkeiten noch mal ein ganzes
Stück weit entfernt ist. Diese Art fachfremder Arbeit führt
zu Konzeptionen, die durch eine Erwachsenenperspektive geprägt
sind und die Kinder als Rezipienten sehr oft nicht hinreichend
ernst nehmen. Eine Anbiederung an die vermeintliche Erlebniswelt
von Kindern und Jugendlichen oder, schlimmer noch, schlichter Klamauk
sind dann die Folge. Dies gilt durchaus auch für den Bereich
freier Anbieter von sogenannten Kinderkonzerten. Eine gern genutzte
Alternative zu einem solchen Szenario ist der „Zukauf“ eines
musikdidaktischen Konzepts für jeweils ein einzelnes Konzert.
Nicht dass man damit hinsichtlich der angeführten Ansprechhaltung
vor Problemen gefeit wäre, hier kommt auch noch der Faktor
fehlender Nachhaltigkeit hinzu. Meist entstehen singuläre
Ereignisse mit hohem Eventcharakter, die aber selten in eine kontinuierliche
Aufbauarbeit münden oder gar von vornherein in eine solche
eingebettet sind.
Im Konzertbetrieb fehlt bislang, was in der Museums- und Theaterlandschaft
gang und gäbe ist: in ausreichender Zahl eigens für diese
Arbeit ausgebildete Konzertpädagogen, die an den Häusern
angestellt oder als Freelancer zumindest dauerhaft an diese gebunden
sind, um dort gemeinsam mit den künstlerisch Verantwortlichen
langfristig wirksame Konzepte zu entwickeln, eingebunden in ein
Netzwerk mit Schulen, Musikschulen, Kindergärten und anderen
Einrichtungen der kulturellen Aus- und Weiterbildung. Kinder- und
Jugendangebote müssen integraler Bestandteil der Spielpläne
sein und enge Rückkopplung an den „normalen“ Konzertbetrieb
haben. Im kreativen Umgang mit der Materie, auch über die
Musik hinaus, werden die neuen Zielgruppen an die Inhalte herangeführt,
schärfen ein multisinnliches Wahrnehmungsvermögen und
lernen die bewusste Rezeption, ohne dass die bislang alles beherrschende
Kopflastigkeit der Musikvermittlung länger zum Tragen käme.
Das Education-Programm „Zukunft@BPhil“ der Berliner
Philharmoniker ist hier mit diversen Projekten ein gutes Stück
vorangekommen. Am Leipziger Gewandhaus versteht man es darüber
hinaus, auch das Mediennutzer-Verhalten junger Menschen unter Aufbietung
nicht unerheblicher Mittel und straffer Logistik in ein Konzept
zu integrieren. Wenn sich auf dieser Basis der etablierte Konzertbetrieb
noch einiger seiner überkommenen Rituale entledigen würde,
wäre manches gewonnen. Da das alles mit festen neuen Etatposten
verbunden ist, wird sich allerdings ohne politische Grundsatzentscheidungen
vielerorts die Katze in den Schwanz beißen.
Arnd Richter
Richtungsweisende Initiativen
Die Jurybegründung des „junge ohren preises 2006“
Die Jeunesses Musicales Deutschland, die Deutsche Orchestervereinigung
und die Initiative Hören verleihen den „junge ohren
preis 2006“ an die Berliner Philharmoniker für
das Projekt „MusicART – Blitzlichter“ im Rahmen
des Education-Programms „Zukunft@BPhil“. Die Jury würdigt
damit eine richtungsweisende Initiative, die in mehrfacher Hinsicht
vorbildlich ist:
Es wurde eine eigene Infrastruktur geschaffen, die für Kontinuität,
Nachhaltigkeit, pädagogische Kompetenz und eine enge
Anbindung der Projekte an den Spielplan des Orchesters steht.
Das Projekt bedient sich einer Netzwerk-Struktur, in die unterschiedliche
Schulformen ebenso integriert sind wie andere Kultureinrichtungen.
Die Musiker des Orchesters sind intensiv in die Projektarbeit einbezogen.
Auf der Basis eines komplexen zeitgenössischen Musikstücks
wird eine multisinnliche Wahrnehmungsschulung vermittelt, die emotionale
und kognitive Kunsterfahrung in einer sorgfältig austarierten
Balance hält.
Durch den unmittelbaren Kontakt mit Musikern, bildenden Künstlern
und Komponisten werden Berührungsängste abgebaut.
Die
Jeunesses Musicales Deutschland, die Deutsche Orchestervereinigung
und die Initiative Hören verleihen im Rahmen des „junge
ohren preises 2006“ einen Sonderpreis an das Gewandhausorchester
Leipzig für das Projekt „Hörsessions, Soundchecker,
HÖRbar“. Obwohl es sich, im Sinne der Ausschreibung,
nicht um ein einzelnes Konzert handelt, erkennt die Jury mit der
Vergabe des Sonderpreises das innovative Potenzial an. Die einzelnen
Bestandteile des Konzepts stehen für eine enge Anlehnung an
die musikalischen Erlebniswelten junger Menschen, inklusive Mediennutzung
und kommunikativer Begegnung. Die direkte Ansprache potenzieller
Konzertbesucher ist dabei ebenso richtungsweisend wie eine eigens
geschaffene „Begegnungsstätte“ im Foyer des Gewandhauses.
Die „Hörsessions“ sind ideal für einen Dialog über
Musik, der sich jenseits traditioneller musikdidaktischer
Modelle vollziehen und so das junge Publikum da abholen
kann, wo es
aufgrund seiner Lebens- und Erlebniswelten steht.