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VdM
nmz-archiv
nmz 2007/02 | Seite 31
56. Jahrgang | Februar
Verband deutscher Musikschulen
Die Freiheit der musikalischen Petrischale
Interview mit dem nmz-Herausgeber und Chefredakteur Theo Geißler
zum 60. Geburtstag
Der Herausgeber und Chefredakteur der nmz, Theo Geißler,
ist vor der Küste der Musiklandschaft Deutschland ein Fels
in der Brandung. Zum 60. Geburtstag sprach der Vorsitzende des
VdM, Winfried Richter, mit ihm und stellte für jedes Jahrzehnt
eine Frage:
VdM: Wer seit Jahrzehnten die nmz herausgibt und damit das Musikleben
publizistisch ablichtet, der muss ein Gespür für dessen
Tendenzen entwickeln. Gab es im Laufe der Zeit Impulse, Veränderungen
oder Neuerungen, die einen Fahrensmann wie Theo Geißler besonders
erfreut oder beunruhigt haben?
Theo Geißler: Fangen wir
mit dem Beunruhigenden an: Die Tendenz, dass an die Stelle einer
möglichst breiten, kreativ orientierten,
wert- und kulturhaltigen Bildung zunehmend funktions- oder gar
platt funktionalitätsgesteuerte Markt-Orientierung trat und
tritt, erfüllt mit Sorge. Das ging Hand in Hand mit dem Verfall
des öffentlich-rechtlichen Mediensystems, der Abwertung unserer
Kirchen, dem ersatzlosen Schreddern teils vielleicht auch überkommener
Werte-Vorstellungen, an deren Stelle eine Mischung aus „Geiz
ist geil“ und „Jung, aber reich ist schön“ privat-medial
gehievt wurde. Ein Hartz entwickelt kanzlerbeauftragt Sozialmodelle
und stattet flankierend sein privates Luxus-Bordell aus.
Tröstlich hingegen: Bei schätzungsweise bald zehn Prozent
unserer Bevölkerung setzt sich langsam die Erkenntnis durch,
dass ein von der Leine gelassener Kapitalismus gesamtgesellschaftlich
betrachtet mehr Schaden anrichtet, als er je erwirtschaften könnte.
Es besteht Hoffnung, dass diese Minderheit ein wenig wächst.
Und in diesem Zirkel nehmen Berührungsängste und Eitelkeiten
ab. Verbände, die vor Jahren nicht miteinander gesprochen
hätten, erkennen gemeinsame Ziele und ziehen an einem Strang.
Haltbare Wertvorstellungen entwickeln und präzisieren sich,
gewinnen Konsens. Es gibt Visionen. Daran mitzuarbeiten, macht
Sinn und Spaß.
VdM: Die Neue Musik hat in der
neuen musikzeitung zu Recht einen hohen Stellenwert. Dennoch ist
sie gemessen am musikalischen Mainstream
ein Mauerblümchen. Wie sehen Sie in diesem Kontext die Arbeit
der Musikschulen?
Theo Geißler: Wie lieb und
teuer ist uns die Pharma-Forschung? Wie viel Kohle stecken wir
in die Weiterentwicklung erneuerbarer
oder altbekannter Energieformen? Was kosten Konstruktion und Produktion
eines Euro-Fighters, eines neuen Airbus? Und wie wenig Energie,
sprich auch Geld, investieren wir vergleichsweise, um unsere kulturellen
Grundlagen weiterzubringen oder auch nur zu erhalten. Das Experiment
hat gerade in der Musik hohe Priorität, wenn es eine musikalische
Zukunft geben soll. Dabei ist nicht nach gängigen Verständnis-
oder Verwertungskriterien zu urteilen. Es lebe die Freiheit der
musikalischen Petrischale. Und die braucht, gewissermaßen
als Nährlösung möglicher und unmöglicher Entwicklungen,
natürlich ein musikalisch gut gebildetes Umfeld. Dafür
sorgen Musikschulen, eben nicht nur als soziale Grundlagen vermittelnde
Institutionen, sondern gerade als maßgeblich gestaltende
Elemente einer kreativ orientierten Zukunftsgesellschaft. Da haben
wir doch die Chance, der etwas papierenen UNESCO-Forderung nach
Musikausbildung als menschlichem Grundrecht wirklich Leben einzuhauchen.
Da können wir weltweit Spitzenreiter sein.
VdM: Sie sind ein gefragter Moderator.
Gab es Gesprächsrunden,
die jenseits von pauschalen Aussagen auch die Grundlage der Musikkultur,
die musikalische Ausbildung von Menschen als ein Daseinsrecht – wie
es die UNESCO sieht – thematisiert haben und in der Musikschulförderung
auch eine soziale Verpflichtung gesehen haben?
Theo Geißler: Nach gut zweihundert
Gesprächsrunden mit
Politikern, Wirtschaftsbossen, Kulturschaffenden spüre ich
eine klare Entwicklung: Das Verständnis füreinander wächst.
Kunst, Kultur und Bildung werden auch von groben Hardcore-Rechnern
nicht mehr nur als Spinnwebengebilde in fernen Nebenhöhlen
gesehen. Ausgeprägte Künstlerpersönlichkeiten erinnern
sich, dass auch sie mal gelernt haben. Solches Verständnis
ist Grundlage dafür, dass die oft als „freiwillige Leistung“ abgespeiste
Institution Musikschule als bedeutsamer gesellschaftsformender
Faktor Anerkennung findet. An diesem Prozess haben wir im eigenen
Land noch ordentlich zu arbeiten. Allerdings hat diese Arbeit grenzüberblickend – siehe
oben – auch heute schon Beispiel-Charakter.
VdM: Die Diskussion um die Dichotomie
von elitärer Musikkultur
mit intellektuellem Anspruch und musikalischer Alltagskultur existiert
wohl seit der Vertreibung aus dem Musikparadies. Die Breitenarbeit
der Musikschulen leistet doch gerade im Hinblick auf die Integration
von jungen Menschen mit Migrationshintergrund, im kulturellen Austausch
und in der Vielfalt der Musikstile – von Rock bis zum klassischen
Repertoire – ein konstruktives Bindeglied. Wird dieser auf
Kontinuität setzende Ansatz der Musikschulen zu wenig beachtet?
Theo Geißler: Gab es je das
Musikparadies? Von einem, der in den Apfel der Erkenntnis biss
und sich dann – oft heftig
angefeindet – in die Schlangengrube unserer gesellschaftspolitischen
Realität begab mit dem Ziel, den Musikschulen ein solides
Fundament zu schaffen, habe ich viel gelernt: Es war Diethard Wucher,
langjähriger Vorsitzender des VdM. Er brannte für die
Idee einer besseren, weil der Musik verbundenen Gesellschaft. Er
sah – in den 70er-Jahren fast schon prophetisch – heraufziehende
Bedrohungen, aber auch sehr klar die Chancen. Seine Bandbreite,
teils Kulturpolitiker, teils Chorleiter, teils Pädagoge, teils
Pragmatiker, teils Funktionär, teils Visionär, bewundere
ich im Verbund mit seiner Hartnäckigkeit noch heute. Ich bin überzeugt,
dass er, gemeinsam mit seinen Nachfolgern im Amt und seinem langjährigen
Bundesgeschäftsführer und stets kritischen Partner Rainer
Mehlig, die Grundlage für eine gleichermaßen qualitätsbewusste
wie politisch und ästhetisch breitbeinige, offene Positionierung
der Musikschulen vorgeformt hat. Allein: Es ist ein dorniger, langwieriger
Prozess, bis sich Qualität auch in der Breite durchsetzt.
Da sind wir – hoffentlich auch in Zukunft gemeinsam – immer
noch auf dem Weg.
VdM: Heute zählen wir mehr Menschen denn je in unserer Gesellschaft,
die ein Instrument lernen, erlernt haben und aktiv musizieren.
Spielt das in der Diskussion um die Kulturförderung eigentlich
eine gebührend große Rolle?
Theo Geißler: Sie haben es
sicher schon gemerkt: Quantitative Argumente sind es nicht allein,
die ich für überzeugend
halte. Unsere Statistik-Hörigkeit, unser im Grunde grunzdummes
DAX-Geglotze wird uns keiner Erkenntnis näher bringen. Insofern
möchte ich den erfolgreichen Abverkauf von Blockflöten
in Relation zum Bevölkerungsschwund nicht als Maßstab
für eine Musikalisierung der Gesellschaft werten. Erfreulich
finde ich es allerdings, dass sich (von einigen Ausnahmen abgesehen)
neuerdings auch die Musikwirtschaft, gar die Musikindustrie oder
die Orchestergewerkschaft im Kreis derer eingefunden haben, die
Geld und Kraft in musikalische Bildung investieren. Der Chor wächst.
Die Motivation bleibt jeweils prüfbedürftig. Das ist
eine unserer journalistischen Aufgaben. Denn an dieser Stelle sind
keine Strohfeuer, sondern Kontinuität gefragt.
VdM: Die Basisarbeit von Musikschulen
rückt fast nie in den
Fokus eines Feuilletons. Wurde die Veränderung hin zum aktiven
kulturellen Leben noch nicht in den Redaktionen wahrgenommen, die
aus Gewohnheit lieber vom neuen Star am Himmel der Musik berichten
wollen?
Theo Geißler: Gegen diese
alte Krankheit habe ich bis hin zur namentlichen Kollegenschelte
einiges zu unternehmen versucht.
War es in früheren Jahren die blanke Feuilletonisten-Arroganz
staubig studierter historischer Musikwissenschaftler in den Redaktionen,
die den Blick in die „Niederungen“ der Pädagogik
verstellte, so ist es heute vorwiegend die mit Ignoranz gepaarte
blanke Sensationsgeilheit im Verbund mit zweifelhaften Studien über
Rezeptionsgewohnheiten und deren wirtschaftliche Konsequenzen,
die eine angemessene Beschäftigung mit der Arbeit unserer
Musikschulen verhindert. Da hilft es nur begrenzt, wenn die „Braut“ sich
hübsch macht im Sinne einer bulimischen Mannequin-Figur. Aber
auch hier ändern sich die Dinge. Wie gesagt: Der Chor ist
gewachsen, vor allem aber hat sich seine Qualität verbessert.
Bald sind wir unüberhörbar, auch weil man uns gern hört.
VdM: Herr Geißler, vielen Dank für das Gespräch,
und wir wünschen uns noch viele Jahre mit einem fortissimo-wortkreativen
nmz-Herausgeber, bei dem auch Sätze im dezenten Pianissimo
aufhorchen lassen.