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nmz-archiv
nmz 2007/04 | Seite 39-40
56. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Bozens großer musikalischer Sohn
Ludwig Thuille und das neue Festival „Wintermezzo“ · Von
Peter P. Pachl
Als man Ende des 19. Jahrhunderts im Raum Bozen einen Vogelweidhof
ausfindig machte, schien für einheimische Forscher der Schritt
nahe zu liegen, der Minnesänger Walther von der Vogelweide
sei in Bozen geboren. Und da die (allerdings nicht wenigen) weiteren
Städte mit Vogelweidhöfen keine gegenteiligen Ansprüche
erhoben, wurde mitten auf dem größten Platz der Stadt
für Walther von der Vogelweide ein Denkmal errichtet. Dessen
Enthüllung im Jahre 1889 umrahmte der größte, nachweislich
tatsächlich in Bozen geborene Musiker Ludwig Thuille, der
unweit dieses Walther-Platzes am 30. November 1861 als jüngster
Sohn eines Musikalienhändlers das milde Südtiroler Licht
der Welt erblickte. Dass seine Familie aus Savoyen stammte, wie
in einigen Musiklexika zu lesen ist, hat sich als nicht haltbar
erwiesen; der Name Thuille ist in Südtirol durchaus verbreitet
und scheint sich vom Diminutiv des Namens Matthäus herzuleiten.
Ludwig, mit elf Jahren Vollwaise, wurde von der Witwe des Südtiroler
Komponisten Matthäus Nagiller aufgenommen. Sie ermöglichte
dem musikalisch Hochbegabten den Besuch des Gymnasiums in Kremsmünster
und Innsbruck, und sie war es auch, die den Heranwachsenden mit
dem drei Jahre jüngeren Richard Strauss zusammenbrachte. Die
beiden jungen Musiker verband eine lebenslange, wenn auch nicht
immer ungetrübte Freundschaft.
Der
Komponist Ludwig Thuille. Foto: Ludwig Thuille Gesellschaft
e.V.
Das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zuge der
Umbenennung des Walther-Platzes von den Italienern entfernte Denkmal
fand in den späten 50er-Jahren in die Bozener Stadtmitte zurück,
und nunmehr trägt der Platz den Doppelnamen Piazza Walther/Walther
Platz. Fast alles ist zweisprachig in Bolzano/Bozen, der heute
knapp hunderttausend Einwohner zählenden Südtiroler Metropole,
Aufschriften und Ansagen – wobei in letzteren etwa 30 Prozent
der Informationen in jeder Sprache unter den Tisch fallen.
Manfred Schweigkofler, der rührige Intendant der Oper im 1999
eröffneten Teatro Communale Bolzano/Stadttheater Bozen, hat
ein neues Festival mit dem deutschitalienischen Namen „Wintermezzo“ initiiert,
dessen erste „Settimana Internazionale“ die Freunde
Richard Strauss und Ludwig Thuille musikalisch fokussiert genommen
hat.
Und kurioserweise berichtete die italienischsprachige Tageszeitung „Alto
Adige“ sehr viel ausführlicher und beherzter als das
ortsansässige deutschsprachige Pendant, die Tageszeitung „Dolomiten“, über
den im Vorfeld seines 100. Todestages, dem 5. Februar 2007, für
Bozen wiederentdeckten Sohn der Stadt, Ludwig Thuille (1861 –1907).
Leiter des ortsansässigen Orchestra Haydn Bolzano/Trento – Haydn
Orchester Bozen/Trient ist seit gut zwei Jahren Gustav Kuhn, der
dessen Leistungsfähigkeit rasch gesteigert hat, so dass dieser
Klangkörper zwischenzeitlich auch auf dem internationalen
CD-Markt eine Rolle spielt (etwa mit der Einspielung von Ludwig
Thuilles Symphonie und Klavierkonzert: cpo 777 008-2). Obgleich
nicht in persona, sondern nur per Video-Zuspielung aus Paris am
Eröffnungsabend zugegen, hat Gustav Kuhn als Co-Direttore
des neuen Festivals zwei Jugendquartette der komponierenden Freunde
Strauss und Thuille für Streichorchester gesetzt. Seine Bearbeitung
beschränkt sich jedoch auf wenige Töne eines Auftakts
und die Entscheidung, nicht alle Passagen tutti spielen zu lassen,
sondern wiederholt die solistischen Intentionen des Originals beizubehalten.
Bereits diese frühen Kompositionen lassen die spätere
Individualität der Meister erahnen. Thuilles Streichquartett
von 1878 orientiert sich an Schumanns musikalisch-dichterischer
Metaphorik, Strauss’ Quartett von 1880 gibt sich ungleich
virtuoser, greift aber deutlich zurück auf Mozartsche Figuren
und Beethovenschen Formwillen. Das jüngere Werk war besser
einstudiert, Francesco Maria Colombo leitete die Streicher mit übergroßer
Gestik.
Das von der RAI fürs Fernsehen aufgezeichnete Eröffnungskonzert
fand im ebenfalls neu gebauten Auditorium Bolzano/Konzerthaus Bozen
statt, umrahmt von einer Ausstellung über Leben und Werk Ludwig
Thuilles. Der hatte seine Innsbrucker Studien bei Joseph Pembaur
dem Älteren, anschließend in München
bei Joseph Rheinberger und bei dem Pianisten Karl Bärmann
an der Königlichen Musikschule fortgesetzt, wo er nahtlos
vom Schüler zum Lehrer wurde. Als Nachfolger Joseph Rheinbergers übernahm
er die Professur für Komposition und wurde so zum Vater der „Münchner
Schule“. Zu seinen Schülern gehörten so unterschiedliche
musikalische Charaktere wie Walter Courvoisier, Richard Wetz, Julius
Weismann, Ernest Bloch, Walter Braunfels, August Reuß, Franz
Mikorey, Joseph Pembaur der Jüngere, Clemens von Franckenstein,
Fritz Cortolezis, Edgar Istel, Hermann Wolfgang von Waltershausen,
Hermann Abendroth, Paul von Klenau, Rudolf Ficker, Rudi Stephan
und Joseph Suder. Und bis in unsere Zeit hinein wirkte Thuille
durch die von ihm – gemeinsam mit Rudolf Louis – herausgegebene
Harmonielehre. Die von Fritz Pichler und Judith Paone gestaltete
Ausstellung betont die Hauptlinie des ersten „Wintermezzo“-Festivals,
von frühen Briefen der schwärmerischen Jugendfreunde
(„Liebster, bester, schönster, herrlichster Ludwig!
(...) Dein Dich innigliebender Richard“) bis hin zum Telegramm,
welches am 5. Februar 1907 das all zu frühe Ableben Thuilles
mitteilt und von Strauss in sein Tagebuch geklebt wurde. Richard
Strauss, der den Weg des Hofkapellmeisters beschritt, brachte in
Meiningen
Thuilles erste Sinfonie zur Uraufführung und
setzte sich in Berlin engagiert für Thuilles Opern ein.
Die jedoch waren beim ersten „Wintermezzo“ (sieht man
ab von TV-Ausschnitten der Hagener „Gugeline“-Inszenierung
aus dem Jahr 1999 in der Ausstellung und einem Symposionsbeitrag)
leider nicht einmal auszugsweise zu erleben. Hingegen stand als
Eigenproduktion (in einer vom Teatro Fenice ausgeliehenen Ausstattung)
Richard Strauss’ „Ariadne auf Naxos“ auf dem
Programm, als erste Opernarbeit des sich wacker schlagenden Haydn-Orchesters,
von Arthur Fagan mit Routine geleitet und von Paul Curran aus der
venezianischen Inszenierung, in der die Rahmenhandlung ins Heute übertragen
wurde, für die Bozener Bühne adaptiert. Unter den höchst
unterschiedlichen gesanglichen Leistungen ragten Jumi So als Zerbinetta
und der junge Markus Werba als Harlekin heraus.
Symposions-Schlaglichter
Kurzweiliger als diese Oper selbst geriet ein Klaviergesprächskonzert
von Stefan Mickisch, der mit viel sprachlichem Witz und pianistisch
bravourösen Passagen Strauss’ verwendete Vorlagen – Schuberts
Schlaflied, Donizettis „Liebestrank“ und Wagners „Liebesverbot“ – aufdeckte,
launig den Verlauf der Handlung und fundiert ihre klassischen Tonart-Bezüge
nachwies.
Ariadnes Monolog, harmonisch ausgehöhlt, war erneut zu erleben
in der Uraufführung der Eigenproduktion „Filo d’Arianna“.
Die Tanztheateradaption des Ariadne-Stoffes wurde von sechs Tänzern,
einer Sängerin
und einer Schauspielerin auf der als Spielort beeindruckenden Unterbühne
des Theaters dargeboten. Ein siebenköpfiges Instrumentalensemble
mischte Musiken von Monteverdi, Strauss und Petrassi eigenwillig
mit Elektronik. Christina Alaimos Inszenierung und Ausstattung
und Chiara Tanesinis Choreographie verstanden sich als eine Synopse
ausgewählter Texte von Ovid, Herder, Dürrenmatt, Petit
und Dickinson.
Individuelle Schlaglichter auf Thuille und Strauss warfen die
Beiträge
eines von Herbert Rosendorfer und Giacomo Fornari geleiteten Symposions,
bei dem sich Karl Dietrich Gräwe für die Urfassung der „Ariadne“,
gekoppelt mit Molières „Bürger als Edelmann“,
stark machte und Alberto Fassone durch Vergleiche mit zeitgleichen
Kompositionen die Bedeutung von Thuilles 1885 komponierter Sinfonie
herausstellte.
Eine Wanderung auf den Spuren von Strauss und Thuille führte
die Festspielgäste nach Schloss Englar in Eppan, wo Thuilles
Librettist Otto Julius Bierbaum die literarische Creme seiner Zeit,
darunter auch Rainer Maria Rilke, versammelt hatte. In einem Kammerkonzert
brachte der Pianist Riccardo Zadra Strauss’ Stimmungsbilder
op. 9 zu Gehör, und das Amarida Ensemble bewies seine außerordentliche
Qualität mit Thuilles frühem Klavierquintett in g-Moll.
Dieses Quintett, zusammen mit Thuilles Klavierquintett Es-Dur op.
20, hatte das Amarida Ensemble bereits im Jahre 2004 auf CD eingespielt
(CD SKB o3), eine Aufnahme, der ich in ihrer individuellen Intensität
durchaus den Vorzug gebe vor den beiden internationalen CD-Einspielungen
(Oliver Triendl – Vogler Quartett, cpo 777 090-2; Tomer Lev – The
Falk Quartet, Sanctuary Records DSV, CD DCA 1171).
In der Stiftskirche Gries-Bozen interpretierte Andrea Macinati
Ludwig Thuilles hochromantisches Opus 2. Bei aller formalen Könnerschaft
scheint diese dreisätzige Orgelsonate in a-Moll doch auch
einem geheimen, dichterischen Programm zu folgen, so plastisch
wurden – auf
einer Orgel aus dem Todesjahr des Komponisten – das liedhafte
Andante des Mittelsatzes und in der finalen Fuge Thuilles raumsprengend
paratheatrale Intentionen. Von den rund 300 Briefen der Freundschaft
zwischen Richard Strauss und Ludwig Thuille aus den Jahren 1877
bis 1907 sind nur ein knappes Drittel erhalten, wobei Thuille die
empfangenen Briefe offenbar sorgsamer aufgehoben hat als der um
drei Jahre jüngere Freund. Manche sind wohl auch verschwunden,
um Spuren zu verwischen; erhalten hat sich immerhin ein Brief,
in welchem Strauss den „besseren Theoretiker“ noch
1902 für seine „Sinfonia domestica“ um kontrapunktische
Hilfe bat.
Ausgewählte Beispiele aus dieser umfangreichen Korrespondenz
brachte der Abend „Lieder und Briefe“, dessen Künstler
vom Veranstalter gleich einem Popkonzert angekündigt wurden: „Sabina
von Walther & friends“. Ungewöhnlich war das szenische
Arrangement, vom farbigen Licht bis zu den besungenen Blumenarrangements
und einer eigenwilligen Dramaturgie des projizierten, historischen
Bildmaterials, sowie Thuille und Strauss in verteilten Rollen.
Lyrisch intensiv brachte die Sopranistin Themenkomplexe und Dichtungen
zu Gehör, die sowohl von Thuille als auch von Strauss vertont
wurden. Sie ermöglichte auf diese Weise den Vergleich zwischen
den bekannten Liedern von Strauss und den zumeist unbekannten von
Thuille, die aber häufig in Ausdrucksstärke und quasi
kammeropernhafter Stimmung als die trefflicheren Versionen erschienen.
Deutsches Museum 1906
Problematischer hingegen ein Konzert der knapp sechzigköpfigen
Militärmusik Kärnten (mit Harfe und E-Bass) unter der
Leitung von Sigismund Seidl. Außer mit Strauss’ Wiener
Philharmoniker-Fanfare und der Introduktion und Fuge für 13
Bläser wurden ausschließlich Bearbeitungen dargeboten,
Märsche und Sinfonische Dichtungen des bayerischen Komponisten.
Aufhorchen machte gleichwohl Ludwig Thuilles Symphonischer Festmarsch
op. 38 aus seinem Festspiel für die Grundsteinlegung des Deutschen
Museums in München im Jahre 1906. Die mit Trompetensignalen
anhebende, rhythmisch ungewöhnliche, in Themenbildung und
Verarbeitung für Thuille typische Festmusik dirigierte als
Gast der Südtiroler Landeskapellmeister Gottfried Veit, der
seine Bearbeitung auch auf CD eingespielt hat (Symphonic Winds
Südtirol, Amos Records 9545).
„
In Memoriam Ludwig Thuille“ konzertierten Dozenten des Bozener
Konservatoriums Claudio Monteverdi. Welch enorme Bandbreite Thuilles
Streichquintett op. 20 interpretatorisch aufzuweisen vermag, wurde
im Abschlusskonzert des Festivals erneut deutlich, wobei der pizzikato
gezupfte Kontrapunkt im Schlusssatz einen besonderen Höhepunkt
bildete. Die von Richard Strauss seinem Freund Ludwig Thuille gewidmete
und von diesem für vier Hände gesetzte Sinfonische Dichtung „Don
Juan“ entwickelt geradezu orchestrale Klangfarben, selbst
wenn „Motive und deren rhythmische Staffage in der Lage (…)
zusammenfallen“ (L. Thuille), zumal wenn sie so trefflich
dargeboten wird, wie von Andrea Bambace und Luca Schiepatti. Die
Arbeit an seinem Sextett für Klavier, Flöte, Oboe, Klarinette,
Fagott und Horn hatte Thuille auf Strauss’ Anraten im Jahre
1885 zunächst fallen gelassen, dann aber wurde das Opus 6
eine seiner bis heute meist gespielten Kompositionen. Ohne Abstriche
erstklassig war die Interpretation dieses eigenartigen, an Klangreizen
und Entfaltungsmöglichkeiten für die Solisten Giulio
Giannelli Viscardi, Arnaldo De Felice, Robert Gander, Egon Lardschneider,
Claudio Alberti und Cristiano Borato dankbaren Bravourstücks:
ein Meisterwerk, das romantisches Gefühl, skurrilen Humor
und harmonische Vielseitigkeit in sich vereinigt.
So fehlte denn bei der Bozener Rückschau auf den Komponisten
Ludwig Thuille nur der allerdings wichtigste Teil seines kompositorischen
Gesamtwerks, die Oper. Auf diese Lücke wies der anwesende
Urenkel des Komponisten, Günter Fabricius in seiner Funktion
als Präsident der Thuille-Gesellschaft e.V. mit Nachdruck
hin. Intendant Manfred Schweigkofler versprach, Thuille als Musikdramatiker
bei den kommenden Festivals Rechnung zu tragen. „Wintermezzo
II“, ebenfalls auf Richard Strauss basierend, ermöglicht
mit dem Titel „Die Frauen (!) ohne Schatten“ immerhin
schon Vorahnungen für Alto Adige/Südtirol im kommenden
Winter.