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nmz-archiv
nmz 2007/04 | Seite 14
56. Jahrgang | April
Kulturpolitik
Der Musiker im Marx-freien Raum
Eine Expertentagung in Rheinsberg sucht neue Wege in die Zukunft
der Musikberufe
Am Anfang stand eine These: Deutschland wird sich in den nächsten
Jahrzehnten weg vom Produktionsstandort und hin zur Wissensgesellschaft
entwickeln. Innovation und Kreativität werden einen immer
höheren Stellenwert einnehmen. Welche Bedeutung dieser Wandel
für den Berufsstand des Musikers und aller anderen Musikberufe
hat, damit beschäftigten sich im März die Teilnehmer
einer Expertentagung unter dem Motto „Zukunft der Musikberufe“.
Der Deutsche Musikrat lud circa 230 Entscheidungsträger des
deutschen Musiklebens in die Bundes- und Landesmusikakademie Rheinsberg,
70 von ihnen folgten dem Ruf in die idyllische markbrandenburgische
Begegnungsstätte.
Musiker, Pädagogen – vom Schulmusiker bis zum Hochschulprofessor –,
Komponisten, Manager aus der Verlags- und Veranstaltungsbranche,
Medienvertreter und Kommunalkulturpolitiker waren aufgefordert,
Erfahrungen auszutauschen und Zukunft nicht nur voraus zu denken,
sondern Zukunft gemeinsam zu gestalten. Mit der Tagung sollte in
Rheinsberg auf breiter Basis ein Dialog zwischen Berufspraxis und
Berufsausbildung entstehen. Anhand von Fragebögen, die alle
Teilnehmer bereits im Vorfeld erhielten, wurde eine Bestandsaufnahme
zur gegenwärtigen Situation der Musikberufe in den jeweiligen
Branchen erarbeitet. Tendenzen, die sich daraus ergaben, waren
dann der Ausgangspunkt der Diskussion in fünf Arbeitsgruppen:
Printmedien und deren Management; Rundfunk und Tonträgerindustrie;
Konzertwesen auf und hinter der Bühne und in freien Ensembles;
Veranstaltungswesen und Kulturarbeit in Kommunen; Musikpädagogen
in Schule, Musikschule, privatem Unterricht, Kirchenmusik und Hochschulen.
Vier Leitreferate, gehalten vom Pädagogikforscher Karl-Jürgen
Kemmelmeier, vom Soziologen Tilmann Allert, vom Komponisten Friedrich
Schenker und vom Musikmarktexperten Dieter Gorny, sollten die Tagungsteilnehmer
sensibilisieren und auf die Thematik einstellen. Bereits hier wurde
eine Tendenz vorgezeichnet, die sich durch die gesamte Tagung ziehen
sollte: die Rolle der Vermarktung der Musikaus-übenden aller
Sparten.
Eine Wechselwirkung zwischen Musik und Markt, die in Westeuropa
längst keine Hürde mehr zu sein scheint, findet in Deutschland
schlichtweg nicht statt, so Gorny in seinem Leitreferat. Alarmierend
ist, dass jährlich 5.000 Musikhochschulabsolventen ins Berufsleben
einsteigen, hier aber lediglich 850 feste Stellen in Kulturorchestern
vorfinden. Allein die Arbeitsagenturen der Bundesanstalt für
Arbeit verzeichnen im Jahr 2006 circa 7.000 Arbeitslose in Musikberufen.
Hinzu kommt die obligatorische Dunkelziffer. Diese Situation wird
zunehmend verschärft durch den ständig fortschreitenden
Abbau von Orchesterstellen durch kommunale Träger. Freiberufliche
Tätigkeit ist vorprogrammiert. Es ist also zwingend notwendig,
die Studierenden neben der Vermittlung ihrer Kernkompetenz auf
diese Situation vorzubereiten und ihnen die Fähigkeit zum
Selbstmanagement bereits an den Hochschulen zu vermitteln. Darin
waren sich alle Tagungsteilnehmer einig. Über die Umsetzung
wurde dann freilich diskutiert. Sollen Management und Marketing
ins Curriculum aller Hochschulen aufgenommen werden oder die fakultativen
Angebote, die an einigen Hochschulen bereits allgemein gültig
sind, ausgebaut werden? Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Vorbereitung
auf den sich verändernden Markt wird künftig die Vermittlung
sozialer und psychologischer Kompetenz und die Stärkung der
Persönlichkeit jedes einzelnen Studierenden sein. Eine Herausforderung
ist hierbei die Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge,
die als Chance genutzt werden könnte. Dennoch ist es fraglich,
ob und wie Studierende in der Lage sein werden, während einer
de facto verkürzten Studienzeit ein solches Pensum zu bewältigen.
Lebenslanges Lernen und das Einstellen auf neue berufliche Situationen
sind deshalb in so genannten „Patchwork-Karrieren“ unumgänglich.
Der Komponist und Hochschullehrer Friedrich Schenker, der sich
in Rheinsberg zunehmend im „Marx-freien Raum“ wähnte,
kann sich eine solche Selbstvermarktung nur schwer vorstellen.
Er ist nicht bereit, sein Werk „künftig per Bauchladen
feil zu bieten“.
Ein heikler Diskussionspunkt war der Anteil ausländischer
Studierender an deutschen Musikhochschulen. Hier sagt die Statistik
des Deutschen Musikrates (im MIZ einzusehen) aus, dass 29 Prozent
der Studienplätze aller Musik-Studiengänge von ausländischen
Studierenden besetzt sind. Beim Lehramt Musik an allgemein bildenden
Schulen macht die Zahl lediglich zwei Prozent aus, bei Instrumentalmusik/Orchestermusik
hingegen 55 Prozent. Hier fordern die Tagungsteilnehmer die Musikhochschulen
auf, Chancengleichheit für deutsche Studienbewerber herzustellen.
Diese sehen sich zu oft ausländischen Mitbewerbern gegenüber,
die ein abgeschlossenes Studium aus ihren Heimatländern mitbringen.
Die Forderung ist nicht neu, sagte doch Hartmut Karmeier bereits
anlässlich seiner Wahl ins Präsidium des Deutschen Musikrates
vor fast zwei Jahren, dass Chancengleichheit bei den Aufnahmeprüfungen
an den Musikhochschulen hergestellt werden müsse.
Die Konsequenz veränderter Zugangvoraussetzungen, die Friedrich
Schenker nicht ganz unberechtigt als „Rassismus“ bezeichnete,
ist für Musikhochschulen nicht schwer vorauszusagen. Bemerkte
doch Gudrun Heyens, Professorin an der Folkwang Hochschule, dass
es deutschen Bewerbern an ihrer Hochschule zunehmend an den Voraussetzungen
zur Aufnahme eines Studiums fehlt.
Und hier ist des Pudels Kern zu finden. Um Musik marktfähig
zu machen und Musikberufen eine Zukunft zu geben, muss auch ein
Markt vorhanden sein. Dieser entwickelt sich bekanntermaßen
aus einem Bedürfnis heraus. Dies zu erwecken und zu entwickeln
ist nach wie vor Aufgabe der Musikvermittlung. Musikalische Bildung
in allen Bereichen, vor allem aber für Kinder und Jugendliche,
gehört zu den Voraussetzungen des Funktionierens einer Wissensgesellschaft.
Markt und Gewinnoptimierung dürfen gerade hier keine Rolle
spielen. Bildung bedarf eines Schutzraumes, der von der Gesellschaft
getragen wird und den es jenseits des Marktes nicht nur zu erhalten
sondern auch auszubauen gilt. Hier müssen Wege und Partnerschaften
zwischen öffentlichen Institutionen und Musikvermittlern gefunden
werden, von denen letztendlich alle profitieren. Neben der Politik
ist auch der gebührenfinanzierte öffentlich-rechtliche
Rundfunk aufgefordert, den Bildungsauftrag wieder stärker
ins Zentrum seiner Aktivitäten zu rücken. Das im März
in Kraft getretene UNESCO-Übereinkommen zur kulturellen Vielfalt,
dem auch Deutschland zugestimmt hat, könnte hier als wirksames
Instrument genutzt werden. Das Abkommen schreibt fest, dass sich
Kultur nicht an die Gesetze der Marktwirtschaft halten muss. Musik,
Film, Fernsehen und Literatur müssen keinen Gewinn abwerfen. Öffentliche
Kulturförderung und Bildung erhalten so gegenüber drohenden
wettbewerbsrechtlichen Einschränkungen eine neue Legitimation.
Tagungen wie die in Rheinsberg sind Plattformen, die dazu beitragen
können, solch eine neue Legitimation zu definieren und Denkanstöße
bei Entscheidungsträgern in Politik und Gesellschaft zu initiieren.
Die „Rheinsberger Erklärung“, das Resultat der
dreitägigen Tagung, ist hier nur ein kleiner Hebel, der noch
keinen Stein ins Rollen bringt. Deshalb soll die Tagung in zwei
Jahren fortgesetzt werden. Viel Zeit, um vorhandene Kräfte
zu bündeln und noch mehr kompetente Köpfe ins Boot zu
holen. Zu überdenken wäre zum Beispiel eine Zusammenarbeit
mit der Projektgruppe „Aufbruch Musik“, die seit einem
Jahr im Rahmen eines „Foresight“-Prozesses Zukunftsszenarien
des Musiklebens erarbeitet und Handlungsmodelle entwickelt. Auch
die Union Deutscher Jazzmusiker, die erst kürzlich ein Eckpunktepapier
zur Situation der Jazzmusiker formulierte, könnte sich mit
einbringen. Damit viele kleine Hebel, zeitgleich angesetzt, den
Stein in Bewegung setzen.