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nmz-archiv
nmz 2007/04 | Seite 6
56. Jahrgang | April
Magazin
Fragen zum Instrumentalunterricht 50 plus
Dieter Zimmerschied im exemplarischen Interview mit einem Spätstarter
an der Geige
Klavierunterricht bekommt man frühestens mit fünf, spätestens
mit circa zehn Jahren. Nach Beginn der Pubertät ist die Chance
vertan. Und von den fünf- bis zehnjährigen Klavierschülern
bleiben circa 97 Prozent irgendwann auf der Strecke. Der Rest wird
selber Klavierlehrer oder übt in der Adventszeit mühsam „Stille
Nacht“ für die stille Nacht.
Das hat sich in den letzten Jahren erkennbar geändert. Mit
einem Male entdecken Rentner eine neue Liebe zum Instrument, oder
sie reaktivieren eine alte und längst verschüttete Solche.
Immer mehr Senioren ziehen eine ungewohnte Plage mit Triolen und
Fingersätzen dem Sozialprestige eines Spätstudiums von
Psychologie und Kunstgeschichte vor. Sie streben keine späte
Karriere an, sie suchen keine Wettbewerbe, und sie wollen es keinen
prominenten Vorbildern gleich tun. Bei Kindern und Jugendlichen
liegt er auf der Hand: Die Beherrschung eines Musikinstrumentes
ermöglicht ästhetische, sensible und kognitive Erfahrung,
die dem beginnenden Leben sonst kaum zu gewinnende Werte vermitteln.
Und bei Senioren? Eigentlich gibt es keinen wirklichen Unterschied.
Nur dass diese Werte einem Lebensabschnitt zugute kommen, der aufgrund
unzählbarer anderer Erfahrungen in besonderer Weise aufnahmefähig
ist und sich diese Aufnahmefähigkeit nicht erst mühsam
erwerben muss. Darüber hinaus werden Instrumentalisten im
Seniorenalter zu einer wichtigen Stütze von Musikkultur in
unserer Gesellschaft, als anerkannte Vorbilder für Jüngere,
als kritische Beobachter musikkultureller Entwicklungen und – nicht
zuletzt – als kompetente Abnehmer anspruchsvoller musikkultureller
Angebote. Dieter Zimmerschied traf sich mit Ministerialdirigent
a.D. Ernst Nisius, ehemaliger Abteilungsleiter im Innenministerium
eines deutschen Bundeslandes, und sprach mit ihm über seine
praktischen Erfahrungen.
neue musikzeitung: Sie gehören zu dem Personenkreis derer,
die man heute allgemein „Senioren“ nennt und die nach
dem Ende ihrer Berufsarbeit lohnende Anregungen für ihre Freizeit
suchen. Sie sind 77 Jahre alt und spielen heute in einem Amateur-Orchester
Violine. Was hat sie bewogen, im Alter von 66 Jahren Violinunterricht
zu nehmen?
Ernst Nisius: In meinem Elternhaus
wurde viel musiziert. Meine Mutter war eine recht gute Pianistin,
und so habe ich immer den
Wunsch gehabt, mich musikalisch zu betätigen.Ich habe dann
mit dem Klavier angefangen, aber das hielt eigentlich nur bis zum
dreizehnten Lebensjahr. Allerdings hat mich der Wunsch zu musizieren
eigentlich mein ganzes Leben lang begleitet. So erinnerte ich mich
nach meiner Pensionierung an meine Violine, die ungenutzt zu Hause
lag. Natürlich musste ich mich fragen, ob ich überhaupt
noch eine Chance habe, dieses Instrument jemals zu spielen.
nmz: Hätten Sie ohne diese Gege auf dem Speicher
vielleicht ein anderes Instrument gewählt? Nisius: Die Frage war: Soll ich noch einmal mit
dem Klavier beginnen, oder soll ich es lieber mit der Geige versuchen?
Den Ausschlag
gab die Erkenntnis, dass ich mit dem Klavier nur auf mich alleine
angewiesen bin, während mit der Geige doch die Chance besteht,
mit anderen gemeinsam zu musizieren.
nmz: Jeder Musiker, wann immer er auch mit dem aktiven Musizieren
beginnt, entdeckt irgendwann so etwas wie seinen künstlerischen,
stilistischen Schwerpunkt. Ist das bei Ihnen auch so?
Nisius: Mich hat immer besonders
Johann Sebastian Bach fasziniert. Außerdem liebe ich, seit
ich denken kann, die Wiener Klassik einschließlich Schubert
sowie besonders die späte Romantik,
etwa Tschaikowsky.
nmz: Und wie sieht es mit der Neuen Musik aus?
Nisius: Auf die Gefahr hin, dass
ich Sie hier enttäusche,
sie ist nicht so ganz nach meinem Geschmack.
nmz: Was geschah, nachdem Sie sich
entschlossen hatten, Instrumentalunterricht zu nehmen?
Nisius: Ich hatte mich nach meiner Pensionierung bemüht, an
einer Musikschule anzukommen, aber zu meinem großen Bedauern
erhielt ich auf meine Anfrage nicht mal eine Antwort. Und als ich
nach sechs Monaten noch mal nachfragte, sagte man mir, man habe
für mich keinen geeigneten Lehrer, man wolle aber versuchen,
vielleicht demnächst mal einen Lehrer für mich zu finden.
Das war natürlich eine recht unbefriedigende Reaktion. An
einer anderen Musikschule fand man dann kurzfristig für mich
einen älteren Lehrer, der im Prinzip nicht abgeneigt war mich
anzunehmen. Zunächst jedoch hatte er große Bedenken,
einen Schüler dieses Alters zu unterrichten. Er wies mich
darauf hin, dass in meinem Alter beim Geigenspiel sicherlich unter
anderem auch große physische Probleme auftauchen könnten.
nmz: Habe ich das richtig verstanden?
Er hat sie nicht bestärkt
in Ihrem Wunsch, sondern er hat gewisse grundsätzliche Bedenken
gehabt?
Nisius: So ist es. Ich musste ihn
quasi überreden und ihm
vorschlagen, es einmal zwei bis drei Monate mit mir zu versuchen.
Und für den Fall, dass wir uns schließlich nicht einigen
würden, so vereinbarten wir, wollten wir uns in Freundschaft
trennen. Am Ende habe ich dann doch bei diesem Lehrer vier Jahre
guten Unterricht erhalten.
nmz: Unterrichtete dieser Lehrer
auch andere Senioren?
Nisius: Meines Wissens nicht.
nmz: Dann kamen Sie zu Ihrer Lehrerin,
mit der Sie heute noch zusammenarbeiten.
Nisius: Ich bin jetzt bei ihr im
sechsten Jahr. Sie ist, das darf ich sagen, eine hervorragende
Pädagogin, und sie hat mich
in dieser Zeit ganz erheblich gefördert. Das hat mir die Möglichkeit
eröffnet, in einem kleinen Amateur-Orchester mitzuspielen.
Ich sitze dort inzwischen am Pult der Zweiten Geigen, und die Literatur,
die uns vorgelegt wird, ist, so denke ich, von nicht geringem Anspruch.
nmz: Sie haben mittlerweile als
Schüler gewisse pädagogische
Erfahrungen im Instrumentalunterricht gesammelt. Was würden
Sie einem Instrumentallehrer raten, wie er mit Senioren, die bei
ihm ein Instrument lernen wollen, umgehen soll? Anders gefragt:
Was gehört Ihrer Meinung nach zu einem solchen sehr speziellen
pädagogischen Seniorenkonzept?
Nisius: Zunächst kommt es ganz entschieden darauf an, wie
sich das menschliche Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler
gestaltet. Das spielt sicher eine noch größere Rolle
als beim Unterrichten von Kindern und Jugendlichen. Diese Sympathie
ist meines Erachtens eine Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen
Unterricht. Denn es handelt sich ja bei Schüler und Lehrer
um ausgeprägte Persönlichkeiten, und demgemäß sind
natürlich immer bestimmte Empfindlichkeiten vorhanden. Mit
66 Jahren hat man sich im allgemeinen in seinem Beruf schon einmal
bestätigt, und nun muss man sich noch einmal total unterordnen.
Dafür braucht der Lehrer eine hohe Sensibilität und ein
gutes Einfühlungsvermögen, was er diesem „alten“ Schüler
menschlich und fachlich zumuten kann.
nmz: Sollte der Lehrer eventuell
auf altersbedingte nachlassende Kräfte Rücksicht nehmen?
Nisius: Auf keinen Fall! Ich weiß es nicht nur von mir, sondern
auch von gleichaltrigen Mitspielern im Orchester: Gerade Senioren
wollen gefordert werden und würden unerwartete Rücksichten
auf ihr Alter beinahe als Kränkung empfinden. Dass eine solche
Arbeitshaltung im Übrigen auch den jeweiligen Lehrer glücklich
machen kann, ist sicher verständlich.
nmz: Bereuen Sie es, dass Sie zehn
Jahre lang schweißtreibend
Geige geübt haben?
Nisius: Das Wort „schweißtreibend“ ist durchaus
passend. Ich muss gestehen, dass ich nur mit einem enormen Zeit-
und Kraftaufwand so weit kommen konnte, wie ich heute bin. Ich übe
täglich mindestens zwei Stunden, meistens länger. Ich
bereue diese Anstrengungen keinen Moment. Nach meinem sehr anstrengenden
Beruf, den ich immerhin über 45 Jahre lang ausgeübt habe,
hilft mir nun das aktive Musizieren mit der Geige, die neu gewonnene
Freizeit befriedigend und glückbringend auszufüllen.
nmz: Gibt es Ihrer Meinung nach
gegenwärtig ausreichend viele
Angebote an Instrumentalunterricht für Senioren?
Nisius: Nein. Mir ist in der ganzen Zeit meines neuen Musikerdaseins
kein entsprechendes von zuständigen Institutionen erarbeitetes
pädagogisches Konzept begegnet. Wenn Senioren nicht von sich
aus auf eine zeitaufwändige und manchmal frustrierende Suche
gehen, haben sie kaum eine entsprechende Chance.