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nmz-archiv
nmz 2007/04 | Seite 8
56. Jahrgang | April
Magazin
Das Gefühl zu haben, immer besser zu werden
Musizieren 50 plus – zu einem Kongress des Deutschen Musikrates
und Partnerverbänden
Der alte Herr lugte zur Tür hinein, beinahe entschuldigend
für die „Störung“, um nach einem Rat zu fragen.
Worum es ging, stellte sich nach etlichen einkreisenden Schleifen
heraus: er erwäge mit seinen 87 Jahren Geigenunterricht zu
nehmen, weil seine Enkel mit ihm Streichquartett spielen wollten.
In dem Spannungsfeld von „Dafür bin ich doch viel zu
alt“ – und „wäre ja ein Traum, mit meinen
Enkeln gemeinsam zu musizieren“ entspann sich ein wunderschöner
Dialog, an dessen Ende eine Geigenlehrerempfehlung stand. Nach
einem halben Jahr stürmten drei temperamentvolle Kinder mit
ihrem Großvater in mein Musikschulleiterbüro und musizierten
ein Streichquartett von Haydn. Sicherlich eine besonders günstige
Konstellation mit instrumentalen Vorerfahrungen aus früher
Jugend – aber beileibe kein Einzelfall.
Diese schöne Episode zeigt, welche Potentiale zu schöpfen
wären, wenn wir musikalische Bildung als einen lebensbegleitenden
Prozess begreifen würden. Langsam dämmert in der öffentlichen
Meinungsbildung die Bedeutung musikalischer Bildung für das
Individuum und die Gesellschaft auf – fokussiert auf Schule
und Musikschule. Erste Blicke richten sich auf die musikalische
Frühförderung und das Musizieren im dritten Lebensalter.
Die „mittlere“ Generation und die Bedeutung der Musik
am Ende eines Lebens – das vierte Lebensalter – bleiben
weitgehend ausgespart.
Die Erkenntnis, dass musikalische Bildung neun Monate vor der
Geburt beginnt, schließt das pränatale Musizieren genauso mit
ein wie die musikalische Bildung werdender Eltern. Diese Frühförderung
ist kein Tribut an jene ehrgeizigen Eltern, die sich bereits während
der Schwangerschaft ein verstärktes Synapsenwachstum für
ihren Nachwuchs wünschen, sondern steht für die enormen
Wirkungen der Musik in der vor- und nachgeburtlichen Prägungsphase
bis etwa zum 13. Lebensjahr. In dieser Zeit werden wesentliche
Grundlagen für die Differenzierungs- und Ausdrucksfähigkeiten
gelegt – und wenn nicht? Welche Chancen verbleiben für
diejenigen, denen nicht eine kontinuierliche musikalische Bildung
vergönnt war?
Es ist nie zu spät! Das ist eine der zentralen Botschaften
des Kongresses „Es ist nie zu spät – Musizieren
50+“, der vom Deutschen Musikrat und den beteiligten Partnern
vom 1. bis 3. Juni 2007 in Wiesbaden veranstaltet wird. Ob mit
Vorerfahrung oder ohne – der Einstieg in die Welt des Musizierens
kann in jedem Alter gelingen, wenn die damit verbundenen Ziele
und Rahmenbedingungen stimmen. Beispiele dafür gibt es mehr
und mehr – aber noch viel zu wenig, wenn man bedenkt, wie
viele Kreativpotentiale brach liegen. Potentiale, auf deren Aktivierung
unsere Gesellschaft angesichts vielfältiger He-rausforderungen
nicht verzichten darf. Potentiale, die – ausgeschöpft – abseits
aller Verwertungsinteressen das Leben lebenswerter machen können;
ganz im Sinne von Yehudi Menuhins Satz: „Die Musik spricht
für sich allein, vorausgesetzt wir geben ihr eine Chance.“
Mit den Rahmenbedingungen (= Chancen) befasst sich der Kongress,
mit der Musik der kongressbegleitende Orchesterkurs. In der Kombination
mit herausragenden Praxisbeispielen werden konkrete Ziele und Handlungsempfehlungen
für Politik und Zivilgesellschaft erarbeitet und in einem
Abschlusspapier zusammengefasst werden. Die Diskussion um den demographischen
Wandel belegt einmal mehr, dass uns der fragmentierte Blick auf
einzelne Lebensabschnitte in neue Gettofallen steuert. Wir brauchen
keinen „musikalischen Seniorenteller“ sondern Angebote,
die generationenübergreifend wirken können. Die Mehrgenerationenhäuser
stehen für eine Idee des Brückenbaus zwischen den Generationen,
wofür die Musik das Fundament bilden kann. Warum also nicht
zum Beispiel bei „Jugend musiziert“ eine neue Kategorie „Familienmusizieren“ einführen?
Warum nicht die Altersbegrenzung in den Musikschulen aufheben,
die noch das Präfix Jugend tragen? Musikschulen sind für
alle da – nicht nur für die Jugend.
Wie privat darf, wie privat muss musikalische Bildung sein? Die
Aussage eines bedeutenden Bundespolitikers „Die Alten musizieren
doch sowieso, egal ob der Staat da investiert oder nicht“ zeigt,
dass der Acker des Musiklandes Deutschland – auf dem Weg
zu einer Wissens- und Kreativgesellschaft – bei weitem noch
nicht bestellt ist. Die Rahmenbedingungen für ein ganzes musikalisches
Leben zu verbessern, bleibt eine Aufgabe in öffentlicher Verantwortung.
Die Perspektive dafür hat Pablo Casals so trefflich formuliert,
der auf die Frage, warum er als 93-Jähriger immer noch täglich
mehrere Stunden Cello übe, antwortete: „Weil ich das
Gefühl habe, noch immer besser zu werden.“