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nmz-archiv
nmz 2007/04 | Seite 3-4
56. Jahrgang | April
Magazin
Erst mal schön ins Horn tuten, dann aufnehmen
Stefan Piendl und Thomas Otto unterhalten sich mit Wolf Erichson
und Bruno Weil
Wolf Erichson, legendärer Schallplattenproduzent und Aufnahmeleiter,
hat vor allem im Bereich der Alten Musik und der Historischen Aufführungspraxis
im Lauf seiner Karriere zahllose Schallplatten- und CD-Aufnahmen
hervorgebracht, die noch heute zu den Schätzen der Alten Musik
gehören. Als gelernter Orgelbauer kam er 1957 zur Schallplattenfirma
TELEFUNKEN (später TELDEC), wo er schon bald mit der Wiederveröffentlichung
alter Schellackaufnahmen betraut wurde und die Reihe „Das
Alte Werk“ ins Leben rief. Später gründete er sein
eigenes Label SEON. Die Krönung seines Lebenswerks begann
1983, als er für SONY CLASSICAL das Label VIVARTE gründete
und hier bis zum Jahr 2003 ungefähr 150 CDs produzierte. Stefan
Piendl und Thomas Otto, „Intim“-Kenner der Schallplattenszene,
haben in vielen Gesprächen mit Wolf Erichson dessen Lebensweg
aufgezeichnet und vieles über Aufnahmetechnik und -philosophie,
ebenso über Alte Musik erfahren. Darüber hinaus interviewten
sie Protagonisten der Alte Musik-Szene, darunter Nikolaus Harnoncourt,
Gustav Leonhardt, das Klavierduo Yaara Tal und Andreas Groethuysen
und Bruno Weil. Daraus entstanden ist ein bei ConBrio erschienenes
Buch „Erst mal schön ins Horn tuten“. Aus den
Gesprächen mit Erichson und Bruno Weil drucken wir hier einige
Abschnitte, die einen kleinen Einblick in das Buch geben sollen.
Thomas Otto/Stefan Piendl: Herr Weil, können Sie sich noch
an Ihre erste Begegnung mit Wolf Erichson erinnern?
Konzert
für zwei Cembali von Friedemann Bach, Juni 1966 in
Bennebroek, Niederlande. (v.li.n.r. sitzend): Wolf Erichson,
Gustav Leonhardt, dazwischen Nikolaus Harnoncourt. Hinter
Leonhardt steht Alan Curtis, der bei dieser Aufnahme das
zweite Cembalo spielte. Er macht sich heute einen Namen
vor allem als Dirigent von Händel-Opern.
Foto aus dem Erichson Gesprächsband
Bruno Weil: Aber ja! Hermann Prey
wollte Anfang der 80er-Jahre eine Platte mit Mozart-Arien aufnehmen.
Er hat mich gebeten, für
diese Aufnahme das Mozarteum-Orchester zu dirigieren, weil ich
mit ihm zuvor in Japan auf Tournee war, und wir uns blendend verstanden
hatten. Wir probten gerade die Register-Arie des Leporello aus
dem „Don Giovanni“. In der Pause nach der Orchesterprobe,
bevor die Aufnahmen begannen, kam ein Mann in einer schwarzen Lederjacke
auf mich zu und hat zu mir gesagt: „Herr Weil, ich bin der
Produzent dieser Aufnahme. Mein Name ist Wolf Erichson. Ich wollte
Ihnen nur eines sagen: Wenn ich jemals noch mal was zu sagen habe
in diesem Metier, dann sind Sie mein Dirigent!“ Ich war damals
wie vom Donner gerührt. Und so ist die Beziehung geblieben.
(…)
Otto/Piendl: Zu den herausragenden
Ergebnissen Ihrer gemeinsamen Arbeit gehört zweifellos die Aufnahme der „Schöpfung“ von
Joseph Haydn. Der Vorschlag dazu kam von Ihnen. Warum war Ihnen
eine Neuaufnahme so wichtig?
Weil: Das war eigentlich ein typischer
Fall. Wenn so ein Vorschlag kommt, dann muss natürlich der Produzent aus ökonomischer
Sicht antworten: „Um Gottes willen, es gibt doch schon 50
Aufnahmen von diesem Werk!“ Und hier kommt der entscheidende
Punkt. Die Argumentation, warum ich die „Schöpfung“ trotzdem
noch mal aufnehmen wollte, war eine künstlerische und keine ökonomische!
Das hat Wolf Erichson akzeptiert, deswegen kam es zu dieser Aufnahme.
Ich hatte aus meiner langjährigen Beschäftigung mit Haydn
einfach den Eindruck, dass die „Schöpfung“ falsch
gesehen, falsch verstanden und interpretiert wurde, als Oratorium
des 19. Jahrhunderts und in einer Form, wie sie meiner Ansicht
nach der Naivität Haydns nicht entspricht. Aber gerade
Haydn hatte ja diese unglaubliche Gabe, sich die Naivität
als alter Mann zu bewahren. Die Vögel, die Bäume, die
Sonne – das alles hat er dargestellt. So war das entscheidende
Argument für mich: Bis der Mensch geschaffen wird – und
er kommt ja ziemlich spät – darf die „Schöpfung“ nicht
reflektiert sein.
Das heißt, ich muss das Entstehen des Wassers, der Erde,
der Natur völlig unreflektiert, naiv wie ein Kind erleben.
Das genau hat Haydn in der Musik gemacht! So haben wir die „Schöpfung“ aufgenommen.
Dabei hat natürlich geholfen, dass wir einen Knabenchor zur
Verfügung hatten und historische Instrumente, die diese Naivität
auch vermitteln konnten.
Ich hatte mich mit der „Schöpfung“ schon früher
auseinandergesetzt und habe sie x-mal falsch gemacht. Je öfter
ich mir anhörte, wie das gesungen wurde – in diesem
pathetischen Oratorienstil des späten 19. Jahrhunderts, mit
dieser fast präpotenten Art des Singens – desto weniger
konnte ich es vertragen, schon gar nicht die Behandlung der Rezitative.
Aber das war das Ergebnis einer jahrelangen Beschäftigung
mit Haydn, der mich immer mehr faszinierte. Ich merke immer deutlicher,
dass die Musik dieses Komponisten ganz natürlich zu einem
spricht, dass er vom Land kam, ein ganz einfacher Mensch war. Das
bin ich eben auch. So brauchte ich diese Barrieren, die man aufstellt
und ihnen den Namen „Interpretation“ gibt, gar nicht.
Ich musste mich nur dieser unglaublich inspirierenden, naiven Musik öffnen,
sie in mich hineinlassen, um zu wissen, wie man sie gestaltet.
Und wenn man dann die Chance hat, als Dirigent so etwas im großen
Stil aufzunehmen, dann ist das ein Glücksfall, den ich Wolf
Erichson zu danken habe.
Meisterwerk Schöpfung
Otto/Piendl: Auf welche Weise ist es Wolf Erichson
gelungen, diese komplexen Gedanken bei der Aufnahme praktisch umzusetzen
und vielleicht
sogar zu bereichern?
Weil: Entscheidend ist, glaube ich, dass Wolf Erichson mit seiner
Erfahrung auf dem Gebiet alter Instrumente alles, was ich aus künstlerischer
Sicht für die „Schöpfung“ angeführt
habe, sofort verstand. Er konnte bei der Aufnahme ganz konkret
sagen: „Diese Passage muss ohne Vibrato gesungen werden!“ oder: „Das
war zu pathetisch!“. Er hat also, das hörend, was wir
gespielt haben, ergänzen und weiterführen können.
Zur Schöpfung gehört aber auch noch dazu, dass es ja
nicht nur diese Naivität von Haydn ist und sein Humor. Hinter
allem steckt diese unglaubliche Lebensweisheit und der philosophische
Gedanke des Verhältnisses von Natur und Mensch. Dadurch wird
das Stück auf ein ganz hohes geistiges Niveau gehoben und
steht meines Erachtens auf gleicher Höhe mit der „Missa
Solemnis“ oder der „Matthäus-Passion“. Die „Schöpfung“ gehört
für mich zu den fünf größten Meisterwerken
aller Zeiten. Ich sage das nur, um dem Eindruck zu begegnen, für
mich wären Haydns
Humor und seine Naivität die einzigen Gründe, seine „Schöpfung“ machen
zu wollen. Humor und Leichtigkeit sind bei Haydn nichts Oberflächliches.
Sie gehen für mich viel tiefer, als Pathos und Ernsthaftigkeit
anderer Komponisten das je können. Das grenzt für mich
schon an eine zen-buddhistische Haltung: eine völlige Gelassenheit
den Dingen gegenüber. Und indem man sich mit dieser „Schöpfung“ einlässt,
ob als Ausführender oder als Hörer, wird man ein Teil
dieses Meisterwerks. Franz Grillparzer hat mal formuliert: „Selig
der, welcher die Größe anderer fühlt, und sie sich
durch Liebe macht zu Eigen!“ Indem wir das Stück lieben,
uns die Größe dieses Meisterwerks zu Eigen machen und
es so aufführen wie es ist, ziehen wir es nicht hinunter zu
uns, sondern werden groß mit ihm. Dann hat man dieses wirkliche
Erlebnis, das, worum es bei diesem Stück geht, worum es im
Leben geht. Man geht in die Aufführung der „Schöpfung“,
und wenn man herauskommt, ist man anders. Das ist schlicht die
Aufgabe, die wir zu bewältigen haben. (…)
Otto/Piendl: Sie haben sich bei sämtlichen Aufnahmen der Haydn-
und Schubert-Messen und auch beim Mozart-Requiem für einen
Knabenchor anstelle eines gemischten Chores entschieden. Werktreue
oder Überzeugung? Am auffälligsten ist das vielleicht
bei der „Schöpfung“, weil man ja gerade dieses
Werk mit großen gemischten Oratorienchören kennt.
Weil: Ich denke, wenn man dieses
Stück mit Original-Instrumenten
macht, dann ist es für mich überhaupt keine Frage, dass
man auch einen Knabenchor für die Chorpartien nimmt. Ein Knabenchor
entspricht mit seinem vibratolosen Singen dem vibratolosen Spiel
der Streicher am besten. Bei den Messen von Schubert ist das ganz
klar und eindeutig auch historische Aufführungspraxis. Darüber
gibt es ja genügend Literatur – diese Messen sind weitgehend
für die Wiener Sängerknaben geschrieben. Auch bei Haydn
lassen sich solche Nachweise finden, ebenso bei Mozart. Mit der „Schöpfung“ dagegen
verhält es sich anders. Haydn war ja viel pragmatischer und
praxisverbundener, als wir heute glauben. Er hat die „Schöpfung“ geschrieben
für eine Aufführung von mehr als 400 Mitwirkenden in
England. Sämtliche Instrumente hat er verdoppelt, sechs Posaunen,
sechs Fagotte, Riesenchöre (…) Später kam es zu
einer Aufführung in der alten Universität in Wien, wo
er selbst schon auf einem Stuhl he-
reingetragen werden musste. Die hatte nur etwa 80 oder 90 Mitwirkende.
Den Komponisten ging es damals zunächst mal darum, dass ihre
Werke aufgeführt wurden! Und die Werke wurden für die
Leute geschrieben, die für die Aufführung zur Verfügung
standen! Wenn man sich den Werken unter diesen Aspekten anzunähern
sucht, dann kommt es zu ungewohnten Ergebnissen. Dann ist das Alte
neu! (…)
Bruno Weil und Wolf Erichson
Otto/Piendl: Kommen wir noch mal auf Ihre Zusammenarbeit mit
Wolf Erichson zurück. Inwieweit waren Sie denn an der Auswahl der
Aufnahmeorte beteiligt? Weil: Also, das war Wolf Erichsons Domäne. Da habe ich mich
nie eingemischt. Er hat seine langjährige Erfahrung als Produzent
in die Waagschale geworfen, kannte nun wirklich alles. Er wusste
genau: „Dieses geht nur in Haarlem, in der Doomsgesindekerke,
dazu müssen wir nach Tölz und das machen wir dort …!“ Das
war eine seiner großen Stärken. Die Aufnahmeorte, die
er gewählt hat, waren fast ausnahmslos ideal.
Vom Originalort
Otto/Piendl: Trotzdem ist ja eines
Ihrer großen Steckenpferde
das wissenschaftliche Aufarbeiten musikgeschichtlicher Hintergründe
der Musik, an der Sie arbeiten. Gab es Orte, die Sie vorschlugen,
vielleicht unter dem Aspekt einer Uraufführung?
Weil: Nein! Hierzu half mir folgende
Erfahrung: Wir haben einmal eine Haydn-Messe in der Bergkirche
in Eisenstadt,
also dem Ort
der Uraufführung innerhalb eines Konzertes gespielt. Dort
hätten wir sie allerdings nie aufnehmen können, weil
die Kirche viel zuviel Nachhall hatte, mehrere Sekunden. Nun muss
man dazu aber sagen, dass ja Haydn seine Messen nicht für
irgendwelche Aufnahmen komponiert hat, sondern für die Aufführung.
Aber wenn man die Stücke an dem Originalort einmal gemacht
hat, beziehungsweise diesen Ort kennt, dann versteht man, wie sie
komponiert sind! Es war ja ganz im Sinne des christlichen Glaubens,
dass der Nachhall und der überlange Klang etwas Übersinnliches,
Religiöses geschaffen hatte. Daher ist es wichtig – und
das ist ein Satz von Wolf Erichson: „Man muss es nicht um
jeden Preis so machen, das wäre sogar ein Fehler! Aber man
muss es wissen, damit man versteht, wie es gemeint ist.“ Das
habe ich mir hinter die Ohren geschrieben. Ein ganz weiser Satz,
da merkt man doch, dass beim Wolf sehr viel dahinter ist.
Harnoncourt und Erichson
Otto/Piendl: Die „Brandenburgischen Konzerte“ mit Harnoncourt
sind ein absoluter Bestseller. TELDEC hat diese Aufnahme immer
wieder neu verpackt und wiederveröffentlicht.
Wolf Erichson: Die haben sie sogar
noch einmal neu aufgenommen. Aber diese allererste, das war damals
eine Weltsensation. Wir bekamen
den französischen Schallplattenpreis der Académie Charles
Cros in Paris. Das war der einzige Grand Prix, den TELEFUNKEN damals
erhielt. Wenn ich daran denke, was wir für Schwierigkeiten
mit den Hörnern hatten und mit den Tempi im zweiten „Brandenburgischen
Konzert“ mit der Trompete. Da wurde alles langsamer gemacht,
sonst hätte man das gar nicht spielen können. Das gibt
man ja heute auch nur noch ungern zu. Die Hörner haben wir
taktweise zusammengeschnitten. Das waren auch Naturhörner,
ohne Ventile. Sicher, das musste sein, allein wegen des Klangs.
Das hört man ja auch sofort. Aber ehe das einigermaßen
sauber und zusammen und technisch präzise war – so weit
war man damals einfach noch nicht.
Das waren ja alles Musiker, die sonst auf „normalen“ Instrumenten
in „normalen“ Orchestern spielten. Harnoncourt selbst
war Mitglied der Wiener Symphoniker und natürlich hat er erst
mal die Leute in den Concentus Musicus geholt, die er kannte: die
Hornisten zum Beispiel, den Oboisten Jörg Schäftlein,
Hansjürg Lange, Fagottist, und andere. Harnoncourts
Schwager spielte Bratsche, seine Frau Alice war und ist noch eine
sehr gute Geigerin.
Für die Trompeten hatte er die Spindlers, Vater und Sohn.
So fing er damals an, den Concentus aufzupäppeln. Als erste
Platte nahmen wir 1963 „Musik vom Mannheimer Hof“ auf,
unter anderem Werke von Stamitz. Das war übrigens auch meine
erste Produktion mit einem kleinen Orchester auf alten Instrumenten.
Rund sechs Jahre nach dieser ersten gemeinsamen Aufnahme fing man
an, die großen Sachen zu spielen, und das hatte dann schon
eine besondere Qualität. (…)
Otto/Piendl: Wir sprachen an anderer Stelle schon darüber,
dass man in den 60er-Jahren noch weit davon entfernt war, dogmatisch
alle Aufnahmen nur mit Originalinstrumenten zu machen. Außerdem
wirkten auch damals schon die Namen großer Stars durchaus
verkaufsfördernd. Folgerichtig kam es zu einer Zusammenarbeit
mit Mau-
rice André. In diesem Zusammenhang gibt es eine schöne
Anekdote, die mit einem Zitat endet, das zum Titel dieses Buches
wurde.
Erichson: Es war in der Hervormde Kerk von Bennebroek bei Haarlem.
Wir wollten dort die Tafelmusik Nr. 2 von Georg Friedrich Telemann
aufnehmen. Für die besonders schwere Trompetenstimme wurde
Maurice André verpflichtet – seinerzeit der Trompetenstar
schlechthin. Als dieser wiederum bei den Proben zur Aufnahme merkte,
dass sein Part viel umfangreicher und schwerer werden würde
als zunächst angenommen, verlangte er mehr Geld.
Die Auseinandersetzung darüber fand dann während der
Aufnahmen in der Kirche statt. Ich telefonierte also mit Hamburg,
um die Aufnahme zu retten. Dort sagten sie mir, dass Herr Goldig,
seinerzeit der Chefbuchhalter von TELDEC, ohnehin nach Bennebroek
unterwegs sei. Er kam tatsächlich, wie immer mit dem Geldkoffer
unterm Arm, um die Künstler zu bezahlen. Als sich in der Kirche
die Ankunft von Herrn Goldig herumsprach, stürzte Maurice
André vor die Tür und begann auf den eben erst Angekommen
temperamentvoll einzureden: die Mehrarbeit und das zu geringe Honorar
und so weiter und so fort. Das alles natürlich auf Französisch
und natürlich ganz schnell. Und natürlich verstand Herr
Goldig kein Wort. Er war von alledem herzlich wenig beeindruckt
und bremste den aufgeregt gestikulierenden Trompeter. Er schob
ihn in die Kirche zurück und sagte: „Erst mal schön
ins Horn tuten, Herr André!“
Thomas Otto, Stefan Piendl: Erst mal schön ins
Horn tuten,
ConBrio Verlag, 282 Seiten, ISBN 978-3-932581-84-7,
CB 1184, 24 Euro (mehr)