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nmz-archiv
nmz 2007/04 | Seite 17
56. Jahrgang | April
Forum Musikpädagogik
Musikalisch-ästhetische Bildung in Kindertagesstätten
Aufgaben der Musikschulen im 21. Jahrhundert – Gedanken zu
einer Fachtagung in Köthen
Ganz offensichtlich stehen die Menschen in Sachsen-Anhalt –ihrem
Landesmotto folgend – wirklich früher auf. Wie anders
ist es zu erklären, dass die Abgeordneten im Landtag einer
bildungspolitischen Novität zustimmten? Einstimmig haben sie
in diesem Jahr ein Musikschulgesetz verabschiedet, das richtungweisende
und in seiner Klarheit so noch nicht formulierte Akzente für
die zukünftige Aufgabenstellung der Musikschule setzt: klare
Zuordnung der Musikschule zum Bildungssystem, Betonung des Landesinteresses
an der Zusammenarbeit der Musikschulen mit den Kindertagesstätten
und allgemeinbildenden Schulen, um Chancengerechtigkeit für
alle Kinder zu gewährleisten, sowie unverkrampfte Einstellung
zur Wahl der Trägerform, die auch die sogenannten „privaten
Musikschulen“ nicht ausklammert, sondern als musikpädagogische
Unternehmungen bewusst mit einbezieht.
Der Landesverband der Musikschulen in Sachsen-Anhalt begleitet
und unterstützt die Musikschulen deshalb nicht nur bei der
Anpassung an vermeintlich Unvermeidliches, was die katastrophale
Situation der öffentlichen Haushalte betrifft. Er betreibt
nicht nur fachliche Kosmetik am inhaltlichen Programm. Er kümmert
sich nicht nur um das Image seiner Musikschulen, um Musikschule
als „Brand“, als „Marke“, und sucht auch
nicht nur nach ergänzenden programmbezogenen Ausrichtungen.
Gemeinsam mit seinen Mitgliedern, den Musikschulträgern, mit
den Musikschulleitern und -lehrern sowie mit Eltern und Schülern
hat der Verband damit begonnen, sehr vorsichtig eine Neubestimmung
der bildungspolitischen Rolle der Musikschulen im 21. Jahrhundert
vorzunehmen. In welche Richtung die Veränderungen in den Musikschulen – sowie
in allen anderen Kultur- und Bildungseinrichtungen eines Landes – im
21. Jahrhundert gehen könnten und wohl auch gehen werden,
wurde in der Fachtagung „Musisch-ästhetische Bildung
in Kitas“ (MäBi Kita) im September 2006 im Köthener
Schloss deutlich angesprochen.
Die gut besuchte Tagung – eine Informationsveranstaltung
für Eltern, Erzieher, Musikpädagogen, Kulturpolitiker,
Kulturadministratoren und für die interessierte Öffentlichkeit – wurde
vom Landesverband der Musikschulen in Sachsen-Anhalt mit Unterstützung
des Kultusministeriums sowie der Kommune – Landkreis und
Stadt Köthen – organisiert. Ganz im Sinne des Musikschulgesetzes,
das mit Nachdruck auf die änderungsbedürftige gemeinwohl-
orientierte Allokation öffentlicher Mittel hinweist, richtete
sich das Augenmerk der Fachtagung auf die Herausforderung, allen
Kindern und Jugendlichen einer Kommune so früh wie möglich
einen Zugang zur „musikalischen Grundbildung“ – oder
Musisch-ästhetischen Bildung (MäBi), wie der Landesverband
diesen Bildungsbereich nennt – zu ermöglichen.
Es ging um nicht mehr – aber auch um nicht weniger – als
um eine erste Verständigung über den gemeinsamen Weg
von Musikschulen und Kindertagesstätten hin zu einer gemeinsamen
Weiterentwicklung der Musikalischen Früherziehung der Musikschulen
einerseits und des sachsen-anhaltischen Bildungsprogramms „bildung:
elementar“ für Erzieher/-innen in Kitas andererseits.
In der Fachtagung wurde eines deutlich: Die Bedeutung des Themas „musisch-ästhetische
Bildung“ kann nicht überschätzt werden. Schon angesichts
der demographischen Entwicklung müssen unsere Bildungsanstrengungen
der Förderung aller Kinder gelten: Die Anzahl der Geburten
hat sich in Sachsen-Anhalt in den vergangenen 15 Jahren halbiert – von
circa 34.000 auf circa 17.000. Hinzu kommt die allmählich
wachsende Kinderarmut, der wir nur mit kompensatorischen Angeboten
im Bildungsbereich begegnen können, begegnen müssen.
Wir sind mit unserem Bildungssystem „Weltmeister der sozialen
Selektion“.
Angesichts der komplexen und nicht voneinander zu trennenden
Probleme der demographischen Entwicklung, der oft zu monetär konzipierten
und gestalteten Familienpolitik, der Entwicklung der Staatsfinanzen,
der Kinderarmut, der schwierigen Ausländerintegration, der
instabilen sozialen Sicherungssysteme, des miserablen Arbeitsmarktes,
der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung und so weiter
ist die musisch-ästhetische Bildung – gemeinsam mit
elementarer ethisch-religiöser und elementarer intellektuell-wissenschaftlicher
Allgemeinbildung – Kern erfolgreicher Zukunftsgestaltung
in Familien, Kitas, Schulen und beruflichen Bildungsstätten.
Wir werden die genannten gesellschaftlichen Probleme nur lösen,
wenn sich unser Bildungssystem qualitativ und quantitativ zutiefst ändert,
indem es verbessert wird. Ohne einen nachhaltigen Wandel im Bildungssystem,
der die Förderung der Allgemeinbildung auf allen gesellschaftspolitisch
relevanten Feldern und angepasst an die jeweilige Entwicklungsstufe
der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen gemeinsam mit anspruchsvollen
Medien vorantreibt, werden wir das derzeitige weitverbreitete kulturelle
Analphabetentum nicht abbauen können. Noch zu viele Rundfunk-
und Fernsehsender und Printmedien verdienen mit Niveaulosigkeiten
und dummdreisten Spaßmüllhalden.
Wie die – bewusst oder unbewusst – im alten Trott verharrenden
Veränderungswiderstände in der Gesellschaft durch größere
Bildungsbemühungen – vor allem auch in der frühen
Kindheit – verdrängt werden können, dazu haben
die Referenten während der Tagung und unter intelligenter,
umsichtiger, charmanter und humorvoller Moderation von Antonia
Bongartz vom Mitteldeutschen Rundfunk wichtige Beiträge geleistet.
Sie alle sollen jetzt in das Projekt „MäBi Kita“,
das wegen seines wohl einmaligen Ansatzes einen Modellcharakter – nein
besser: Vorbildcharakter – bekommen könnte, einfließen
und weiterentwickelt werden. Und im Juni nächsten Jahres – wiederum
in Köthen – soll erstmals Rechenschaft über die
Projektentwicklung gegeben werden. In einem kurzen Einführungsvortrag
beschrieb die Initiatorin des Projekts Elke Brommer – seit
Februar 2005 Geschäftsführerin des Landesverbandes in
Sachsen-Anhalt – Entstehungsgeschichte und Zielrichtung des
Projekts MäBi Kita.
Die Prinzipien der Chancengerechtigkeit und Gleichbehandlung
aller Kinder, wie sie in Kitas aus gesellschafts- und bildungspolitischen
Gründen berücksichtigt werden müssen, kollidieren
mit den Angeboten der Musikalischen Früherziehung (MFE) der
Musikschulen, die immer nur für einige wenige Kinder – und
dann noch in den Stammzeiten am Vormittag – als Vorstufen
der musikalischen Bildungsbiographie in Frage kommen.
Beiden Seiten war zwar die Notwendigkeit einer professionell
geleiteten musisch-ästhetischen Bildung für alle Kinder im Kita-Alter
einleuchtend, allein es fehlte noch die zündende Idee für
ein entsprechendes Angebot. Diese Idee tauchte im Zusammenhang
mit einem Impuls-Workshop im März 2006 auf: Beide, Musikschule
und Kita werden ihre professionelle Kompetenz zusammentun und sich
in gemeinsamen Weiterbildungen mit der Konzeption einer breiten
musisch-ästhetischen Bildung – mit Hilfe der Primärmedien
Musik und Bewegung – und mit den Chancen und Strukturen einer
gemeinsamen konkreten Umsetzung von MäBi Kita aus ihrer je
spezifischen Sicht befassen.
Seitdem hatten sich die beiden Vertreterinnen der Musikschule
wie der Kita in Köthen, Regina Baufeld, Diplom-Musikpädagogin
an der Kreismusikschule „Johann Sebastian Bach“, und
Silke Stimm, Leiterin des Kompetenzzentrums Kita Pinocchio, gemeinsam
mit ihrem kommunalen Träger und ihren Kolleginnen und Kollegen
Gedanken zu MäBi gemacht und die Ergebnisse ihrer praxisbezogenen Überlegungen
auf der Fachtagung vorgetragen. Sie wurden im Anschluß daran
sozusagen multi- und transdisziplinär aus der Sicht der Erziehungswissenschaft
und Soziologie, der Neurobiologie und Medizin und der Musikpädagogik
beleuchtet und unterstützt.
Die Kernaussagen der drei Fachreferate lassen sich so zusammenfassen:
Jedes Kind hat seine eigene Bildungsbiographie, die sich aus seinen
genetischen Anlagen und vor allem aus der individuellen neuronalen
Verarbeitung der Anregungen im Austausch mit seinem jeweiligen
Lebensumfeld ergibt. Die Intensität der Lernprozesse im Kind – Entwicklung
von Neugier, Verarbeitung von Erfahrungen und Wissen, Wahrnehmungsfähigkeit
und Motorik – ist abhängig von der emotionalen Sicherheit
des Kindes, von der Intensität seiner Bindungserfahrung im
Umgang mit den es begleitenden Menschen. Musikhören und Musikmachen
als Bildungsmedium fördern – starke Bindung und hohe
emotionale Sicherheit des Kindes vorausgesetzt – den Erwerb
und die Stabilisierung von „Metakompetenzen“ (Gerald
Hüther), die man nicht lehren kann, die das Kind vielmehr
vorbildhaft erleben können muß, um sie sich anzueignen – Metakompetenzen
wie Selbstwirksamkeit, Handlungsplanung, Selbstwahrnehmung, Selbstregulation,
Kreativität und Einfühlungsvermögen. Musisch-ästhetische
Bildung ist für alle Kinder und Jugendlichen unverzichtbar.
MäBi als Wahrnehmungsschulung, als elementare kulturelle Bildung
gehört zwingend in das Aufgabenportfolio der Musikschulen,
Kindertagesstätten und Schulen.
In ihrem Referat „,Rhythm is it!‘ – Musik als
elementare Bildung in Kitas Sachsen-Anhalts“ erläuterte
Ursula Rabe-Kleberg, Professorin für Erziehungswissenschaft
und Soziologie der Bildung und Erziehung an der Universität
Halle-Wittenberg, die Strukturen frühkindlicher Bildungsprozesse.
Sie verwies – für das Gelingen dieser Prozesse – sehr
eindringlich auf die Relevanz vielfältiger musisch-ästhetischer
Bildungsgelegenheiten, die Musikpädagogen und Erzieherinnen
in den Kindertagesstätten gemeinsam
herstellen. Die dafür erforderliche zusätzliche Professionalität
auf beiden Seiten könnten Musikpädagoge und Erzieherin – ergänzend
zum und aufbauend auf dem Bildungsprogramm „bildung: elementar“ für
Erzieher/-innen in Sachsen-Anhalt – in gemeinsamen Weiterbildungen
erwerben.
„Für die Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf.“ Dieses
afrikanische Sprichwort beschreibt sehr bildhaft den Ansatz des
weithin bekannten Sachbuchautors Gerald Hüther, Professor
für Neurobiologie und Direktor der Abteilung für neurobiologische
Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Klinik der Universität
Göttingen. In seinem Referat „Musik ist Doping für
die Kindergehirne: Die Bedeutung aktiver und passiver Musikerfahrungen
für die Verankerung von Metakompetenzen im Frontalhirn“ wies
er sehr anschaulich und überzeugend nach, dass unser alltäglicher
Begriff von Bildung noch immer weitgehend – und in der Regel
ganz unbewusst – dem Maschinenzeitalter verhaftet ist. Noch
immer stellen wir uns Bildung als ein Verfahren mit dem Nürnberger
Trichter vor: In manch einer der modernsten Säuglingsabteilungen
werden Säuglinge heute – wir sahen ein eindrucksvolles
Bild – über Kopfhörer mit Musik beschallt. Solche
Kinder erfahren Musik zwangsläufig als etwas Seelenloses.
Im abschließenden Referat „Vom Erlebnis zum Ergebnis – Musik
Lernen im Spannungsfeld von prozess- und produktorientiertem Handeln“ bestätigte
Werner Beidinger, Professor für Elementare Musikpädagogik
und Geschäftsführender Leiter des Instituts für
Musik und Musikpädagogik der Universität Potsdam, die
Erkenntnisse der Neurobiologie aus der Sicht der Elementaren Musikpädagogik.
Sein Ansatz einer „allgemeinen Musikalisierung“ aller
Kinder zielt gerade nicht auf gute bis solistische vokale oder
instrumentale Leistungen weniger Kinder, sondern auf frühkindliche
Bildungsprozesse, in denen sich alle Kinder und Jugendlichen körperlich,
sprachlich, musikalisch und motorisch besser auszudrücken
lernen.
In der abschließenden Diskussion wurde deutlich: Für
die Musikschulen eröffnet sich mit der Musisch-ästhetischen
Bildung zukünftig ein weites Wirkungsfeld in Kitas und Schulen
mit pädagogischen Strukturen, die vor allem von der neu konzipierten
alten Idee des Vorbilds leben. „Bildung braucht Vorbilder!
Bildung lebt davon, dass Menschen sich am guten Beispiel anderer
orientieren, dass sie sich begeistern und mitnehmen lassen. Jeder
kann ein Vorbild sein: Eltern, Nachbarn, Trainer, Lehrer, Klassenkameraden.“ (Horst
Köhler)
Alle Kinder müssen in Zukunft von einem Bildungssystem erreicht
werden, das verhindert, dass – wie im vergangenen Jahr in
Deutschland – 80.000 Jungen und Mädchen ohne Schulabschluß von
der Schule entlassen werden.
Mit ihrem insofern präventiven Angebot Musisch-ästhetischer
Bildung für alle Kinder und Jugendlichen fangen die Musikschulen
in Sachsen-Anhalt – alle Musikschulen und ihr gesamtes musikpädagogisches
Umfeld – in ihrem jeweiligen Einflußbereich entschlossen
an.