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2007/04 | Seite 11
56. Jahrgang | April
Praxis: Konzertvermittlung
Tanzende Buchstaben, lebende Gemälde
Musik und Literatur für Kinder – ein Buch als Ausgangspunkt
eines Konzertprojekts · Von Michael Dartsch
Lesungen mit Musik, Konzerte mit Literatur-Einlagen sind in den
letzten Jahren sicher häufiger geworden. Veranstalter suchen
nach neuen Wegen, ihr Publikum zu locken, Musikerinnen und Musiker,
Autorinnen und Autoren, Rezitatorinnen und Rezitatoren wollen Neues
anbieten. Solche Sparten verbindenden Präsentationen sind
für ein junges Publikum hingegen noch nicht an der Tagesordnung.
Lohnt es sich, darüber nachzudenken und Konzepte zu diskutieren?
Der Studiengang Elementare Musikpädagogik der Hochschule für
Musik Saar hat sich im vergangenen Studienjahr dieser Herausforderung
gestellt und ein entsprechendes Projekt für die Europäische
Kinder- und Jugendbuchmesse in Saarbrücken erarbeitet. Die
Wahl fiel dabei auf das Buch „Kein Hundeleben für Bartolomé“ der
preisgekrönten österreichischen Autorin Rachel van Kooij
(Jungbrunnen, Wien 2003). Das Buch beschreibt – historisch
glaubwürdig – eine Episode aus dem Leben des fiktiven
zwergwüchsigen Jungen Bartolomé, der zur Zeit des spanischen
Königs Philipp IV. im 17. Jahrhundert zunächst in einem
Dorf und später am Königshof in Madrid lebt. Eine nicht
unbedeutende Rolle spielt dabei der Maler Diego Rodriguez de Silva
y Velázquez und die Entstehung eines seiner berühmtesten
Bilder, des Gruppenporträts „Las Meninas“.
Stimmigkeit zwischen Buch und Musik ergibt sich wohl am ehesten,
wenn mit spanischer Musik des 17. Jahrhunderts gearbeitet wird.
Eine Musik, deren Faktur in Vielem noch recht frühbarock wirkt.
Ebenso wie die Zeit der Handlung ist sie den Kindern zunächst
sicher fremd. Mit Spanien verbinden wohl die meisten eher ein Urlaubsland.
So wurde in Saarbrücken ein Einstieg über eine Reisebüro-Szene
gewählt, an deren Ende der Angestellte sich an die Kinder
wendet, um auch ihnen eine Reise anzubieten. Sie führt allerdings
nicht nur nach Spanien, sondern auch in eine lange zurückliegende
Zeit – und diese tut sich auf, wenn er schließlich
die Buchdeckel öffnet.
In diesem Moment ertönt zunächst einmal volkstümliche
Musik im Stil der Zeit, gespielt von Dudelsack und Schalmei. So
wird die „Zeitreise“ akustisch-atmosphärisch bewerkstelligt.
Es folgt die erste Leseeinheit, der Beginn des Buches, der in einem
Dorf in der Nähe Madrids spielt und den Protagonisten vorstellt.
Das Lesen mündet wiederum in volkstümliche Musik, die
diesmal von drei Krummhörnern gespielt wird.
Da nur ausgewählte Passagen des Buches wortgetreu gelesen
werden können, müssen weite Teile der Handlung, die jeweils
zwei Lese-Einheiten verbinden, erzählt werden: Bartolomés
Familie wird nach Madrid ziehen, wo der Vater sich für alle
Kinder bessere Zukunftsaussichten verspricht. Der Zwerg muss die
ganze Reise in einer Truhe verbringen, damit ihn unterwegs niemand
sehen kann. Was es bedeutet, eine lange Strecke im Dunkeln sitzen
zu müssen, lässt sich erahnen, wenn nun auch der Konzertraum
verdunkelt wird und die Kinder – wie der Junge des Buches – sich
die Reise lediglich über das Gehör erschließen
können. Hufgeklapper, Stimmengewirr, Kies und Vogelrufe ertönen
leise und gedämpft wie von ferne. Hier wird also kein musikhistorischer
Bezug hergestellt, sondern die herausgehobene Rolle des Hörens
in der Handlung aufgesucht und auf die Bühne projiziert.
Erlebnis-Bilder
Bei der Ankunft der Familie in Madrid werden die verschiedenen
Ausdrucksmedien einmal zeitgleich aktualisiert: Musik, Pantomime
und gelesener Text ergänzen sich zu einem atmosphärisch
dichten Erlebnis-Bild, während parallel zur Schilderung des
Geschehens – die Familie bemerkt bestürzt einen bettelnden
zwergwüchsigen Jungen vor der Kathedrale auf dem großen
Kirchplatz – pantomimisch der Bettelnde und die achtlos vorübergehenden
Marktbesucher dargestellt werden und dazu leise Sakralmusik gewissermaßen
aus der Kirche nach draußen dringt.
In Madrid schafft der heimliche Plan der Geschwister, den versteckt
lebenden Jungen regelmäßig zu einem Kloster zu bringen,
Abhilfe gegen seine Resignation und Einsamkeit, dort soll er von
einem Pater das Lesen erlernen, damit sich auch für ihn Zukunftsmöglichkeiten
auftun. Die ersten Begegnungen mit der Welt der Buchstaben machen
ihn taumeln vor Freude und eröffnen ihm eine völlig neue
Welt. Ein „Tanz der Buchstaben“ bringt die Eindrücke
des Jungen auf die Bühne. Zu den Klängen einer live dargebotenen
spanischen Canzone wirbeln Buchstaben – in alten und neuen
Lettern auf Pappkarten gemalt – an den Händen der Tanzenden
durcheinander. Immer wieder ergeben sich Wörter aus den Formationen.
Die Kinder lesen: „Ich bin ein Mensch. – Ich heiße
Bartolomé.“
Es folgt eine Katastrophe: Der aus Gründen der Tarnung in
einem Wäschebottich zum Kloster transportierte Bartolomé wird
aus Versehen fallen gelassen und rollt samt Wäsche vor die
gerade des Weges kommende Kutsche der spanischen Infantin. Für
die Prinzessin ist der auf allen Vieren Krabbelnde ein „Menschenhund“,
den sie als Spielzeug haben will.
Im Schrecken eines solchen Unfalls mögen einzelne Sinneseindrücke
fragmentarisch wie Blitzlichtaufnahmen erlebt werden, während
der Bewusstseinsstrom unterbrochen und der Fluss des Geschehens
nicht mehr gewahrt ist. Diese Konstellation wird nach hastigem
Erzählen akustisch und körperplastisch beziehungsweise
mit positionierten Requisiten umgesetzt: Aus einer vielstimmigen
Kakophonie lösen sich nacheinander einzelne Motive heraus,
zu denen jeweils eine einzelne Körperposition oder ein charakteristisches
Requisit im Scheinwerferspot zu sehen ist.
Der ersten Begegnung mit der Infantin folgt die erste Nacht am
Hof. Im Traum verarbeitet der Zwerg seine Erlebnisse und fantasiert
sich in die Rolle eines gleichwertigen Freundes und Spielpartners
der Prinzessin. Zur Lesung der entsprechenden Passage wird das
geträumte gemeinsame Spiel der Beiden als Zeitlupen-Pantomime
bei verringerter Beleuchtung auf die Bühne gebracht.
In Ergänzung der Handlung des Buches wird nun eine Tanzstunde
dargestellt, die Musik und historischen Tanz mit szenischen Einlagen
koppelt. Eingebettet in eine komische Szene wird den Kindern hier
ein historischer Tanz nebst dazu gehörigen Schrittkombinationen
nahe gebracht. Die Musik selbst improvisiert der „Tanzmeister“ dabei
im Stil der Zeit.
Die schönsten Stunden sind für Bartolomé diejenigen,
die er im Atelier des Malers Velázquez und seiner Gesellen
verbringen kann. Er hat sich allmählich viel von den Malern
abgeschaut und träumt davon, selbst Maler zu werden. Als die
Gesellen ihn auffordern, probiert er freudig selbst aus, was er
bei ihnen schon häufig beobachtet hat: das Mischen der Farben.
Ein Teil der Kinder – diejenigen, die auf Nachfrage bekunden,
ebenso Freude am Malen zu haben – wird nun nach vorne gebeten.
Auf zwei vorbereiteten Papierwänden mit aufgezeichneter Staffelei
werden Farben mit Pinseln aufgetragen; der Museumspädagoge
assistiert. Die anderen Kinder verfolgen das Geschehen von ihren
Plätzen aus.
Nachdem die Gruppe fertig ist, wird eine zweite Gruppe von Kindern
nach vorne geholt. Diese Kinder können nun die Farben mit
Schwämmen ineinander ziehen und so Farbmischungen erzielen.
Wieder werden die Ergebnisse von allen begutachtet. Was den Protagonisten
der Geschichte fasziniert, wird wenigstens im Ansatz auch für
die Kinder erlebbar. Die fertigen „Staffeleien“ bleiben
von diesem Punkt an Bestandteil des Bühnenbildes, das die
Kinder somit selber mitgestaltet haben. Eine unmittelbar folgende
Aktion ermöglicht dann die Mitwirkung weiterer Kinder.
Im Buch folgt nun die Szene der Entstehung des berühmten Bildes „Las
meninas“. Der König betritt das Atelier, worauf sich
Bartolomé hinter einer Leinwand versteckt. Philipp verlangt
ein neues Bild, das die Infantin ungezwungen im Kreise ihres Hofstaates
abbilden soll. Die Höflinge und die Prinzessin werden gerufen
und Velázquez positioniert jede der Personen sorgfältig.
Als Bartolomé entdeckt wird, will die Infantin auch ihn
auf dem Bild haben, Velázquez malt ihn allerdings – so
der Einfall der Autorin zur Erklärung des Hundes auf dem Bild – als
echten Hund. Das Positionieren der Personen wird nun auch auf der
Bühne vollzogen. Zu einer Canzone werden zuerst die Prinzessin
und ein Höfling in Stellung gebracht. Die steifen Bilder beginnen
jedoch sich zu bewegen und schließlich unter weit gehender
Beibehaltung der ihnen zugedachten Pose beziehungsweise in Anlehnung
daran über die ganze Bühne zu tanzen. Währenddessen
bringt die Velázquez-Darstellerin Kinder, die sie aus dem
Publikum holt, in Positionen, die jenen auf dem Bild genau entsprechen.
Dies alles geschieht vor einer großen Reproduktion der Figuren
des Velázquez-Bildes, so dass für das Publikum die Übereinstimmung
zwischen den positionierten Kindern und den Figuren auf dem Bild
augenfällig wird.
Die Handlung mündet schließlich in die Befreiung des
Protagonisten. Dazu ersinnen die Malerfreunde einen Trick: Bartolomé besteigt
einen Kasten, in den bereits vorher ein echter Hund gesetzt wurde.
Unter allerlei Zauberei wird der Kasten mehrmals gedreht, bis schließlich
der echte Hund aus ihm entlassen wird, so dass die Infantin glauben
muss, der Zwerg habe sich in einen wirklichen Hund verwandelt.
Während sie sich freudig dem Tier zuwendet, kann Bartolomé von
den Malerfreunden im Kasten ins Atelier gebracht werden, wo für
ihn ein neues Leben als Malschüler beginnen kann.
Zauber-Ostinato
Noch einmal wird hier die Mitwirkung der Kinder möglich: Das
Publikum soll zu dem Zauber beitragen, indem es einen Zauberspruch
lernt. Dieser besteht aus geheimnisvoll anmutenden Zauberworten
und mehreren Schichten. Über ein ostinates Flüstern legt
sich so in Terz- und Sekund-Schritten ein fünfstimmiger Akkord.
Jedes Kind ist dabei – entsprechend seinem Sitzplatz im Raum – auf
einen Ton festgelegt und singt auf diesem Ton immer wieder das
Zauberwort. Gleichzeitig erlebt es sich als Teil eines gewaltig
anwachsenden und crescendierenden Klanges.
Auf dem Höhepunkt des Anschwellens wird der Klangteppich schließlich
auf einen Gongschlag hin abgewinkt. In diesem Augenblick erscheint
an der Bühnenrückwand die Projektion eines gefilmten
Dackelwelpen, dessen Anblick ein Raunen durch das Publikum gehen
lässt. Der Zauber hat sein Ziel erreicht, so wie auch das
Buch und das Konzert den Kindern erfolgreich die Echtheit der Figuren
und Geschehnisse suggerieren konnten. Zu den unmittelbar einsetzenden
Klängen einer Chaconne mit improvisatorischen Elementen sieht
man Bartolomé als Malschüler unter Anleitung von Velázquez
eine Leinwand bemalen. Die im Grunde gleich bleibenden Malbewegungen
und der sich stetig wiederholende Bass der Musik ermöglichen
in ihrer relativen harmonischen Monotonie einen inneren Nachklang
des Erlebten und mögen zu einem immer tieferen Eindringen
und Verarbeiten beitragen.
Die Musik ist im Laufe der Präsentation auf verschiedenste
Weise zum Einsatz gekommen. Zunächst einmal gab es Aspekte
des Musikeinsatzes, die man als „konkurrenzlos“ bezeichnen
könnte, so etwa wenn in einer der Aufführungen eine Ouvertüre
gespielt wurde, wenn die Musik im Sinne einer Schauspielmusik als
Zwischeneinlage zur Verlebendigung der in der Handlung übersprungenen
Zeit dient, oder wenn eine Musik als Aktionsangebot für die
Kinder eingesetzt wird. Daneben gibt es Einsatzweisen, die die
Musik mit anderen Medien koppeln und sie innerhalb einer multimedialen
Präsentation darbieten. Dies ist der Fall, wenn es eine Ballett-Einlage
gibt, wenn die Musik als ein Element eines Komplexes aufeinander
bezogener Ausdrucks- und Kunstformen, also im Verbund mit Bildender
Kunst, Pantomime oder ähnlichem wirkt. Schließlich wird
Musik auch zur affektiven Aufladung der Handlung gebraucht: wenn
sie im Sinne einer Filmmusik eingesetzt wird, wenn Handlungsteile
von einer Ballett-Darstellung begleitet werden oder wenn das Publikum
wie bei einer „Akklamation“ in der Kirche oder bei
Rufen im Kasper-Theater am Geschehen beteiligt wird.
Nun sollte es sich bei allen diesen Einsatzmöglichkeiten stets
um gute Musik im jeweiligen Sinne – also um eine gute Ouvertüre,
eine gute Schauspielmusik, Filmmusik, Ballett-Einlage und so weiter – handeln.
Weiter sollte eine gute Balance zwischen den verschiedenen Aktionsformen
angestrebt werden. Maßstab für die Qualität der
Präsentation ist es schließlich, inwieweit sie im ästhetischen
Nacherleben als organische Einheit erscheint.