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nmz-archiv
nmz 2007/04 | Seite 41
56. Jahrgang | April
Rezensionen-CD
Skurriler Humor im Auf- und Ausnahmezustand
Neuerscheinungen und digitale Überarbeitungen anlässlich
des 75. Geburtstags von Mauricio Kagel
Im wörtlichen Sinn ist Mauricio Kagel ein Komponist. Nämlich
indem er außer Tönen auch Gestik, Mimik und Sprache
als genuine Faktoren in seine Musik einbezieht und darüber
hinaus in verschiedenen audiovisuellen Medien präsentiert. Überhaupt
haben Medien in seiner ästhetischen Konzeption eigenständige
Rollen. Denn für Mauricio Kagel ist schon wesentlich, „über
dem Produkt das Produzierende nicht zu vergessen“ (Friedrich
Schelling), deshalb selbst als Interpret und Regisseur eigener
Werke aufzutreten sowie Komposition als Prozess zu thematisieren.
Exemplarisch sind diese Methoden zu komponieren nun mit der „Mauricio
Kagel Edition“, die zu seinem 75. Geburtstag erschienen ist,
(neu) kennen zu lernen.
Mauricio Kagel wurde am 24. Dezember 1931 in Buenos Aires (Argentinien)
geboren und kam 1957 mit einem DAAD-Stipendium nach Köln,
wo er seitdem lebt. Dort wurde er 1969 zum Direktor des Instituts
für Neue Musik an der Rheinischen Musikschule und 1974 zumProfessor
für Musiktheater an der Musikhochschule ernannt. In enger
Zusammenarbeit mit dem Studio für Elektronische Musik beim
WDR konnte er seine Ideen entwickeln, so die „Pandorasbox“,
die er für das (pneumatische) Bandoneon und (seine) Stimme öffnete,
um mikrotonale Unschärfen als Klangeigenschaft zu erproben: „eine
willkommene Erweiterung jener Dimension meiner Arbeiten, die eine
gewisse Komik nicht verschleiert.“
Skurriler Humor ist ohnehin ein Kennzeichen für die Werke
von Mauricio Kagel, das stilisiert im „Tango Aleman“ und
kurios im „Bestiarium für Lockpfeifen“ durch intelligente
Verfremdungen überdeutlich hervorscheint.
So wird auch das Hörspiel als Prozedur „Ein Aufnahmezustand“,
bei dem alle Sonderbarkeiten dieses Genres wie Atemtechniken und
Sprechübungen vor dem Mikrofon mit elektronischen Geräuschen
zu einem ästhetischen Novum sui generis gemischt sind. Die
Aufmerksamkeit der Hörer lenkt Mauricio Kagel gegen ihre Erwartungen.
Gleichfalls die Zuschauer, wenn sie dem ironischen Bericht „Ludwig
van“ folgen: da werden im Beethovenhaus Bonn Büsten
aus Schmalz und Schokolade in einer Badewanne gelagert oder im
legendären politischen ARD-Frühschoppen (mit Werner Höfer)
die Frage „Wird Beethoven missbraucht“ diskutiert.
Dazu wird „Seine Musik so klingen, wie er sie 1826 noch hören
konnte. Durchwegs schlecht.“ Ein Film, der „Ludwig
van“ als Mensch vor übereifrigen Bewunderern in Schutz
nimmt.
Sprache für sich gibt oft Impulse, die Mauricio Kagel zur
Komposition herausfordern. Etwa ein äußerst rares Sonett
aus (fast nur) einsilbigen Wörtern von Qurinus Kuhlmann (1651–1689),
von einem Freund zur Verfügung gestellter Privatdruck. Da
ist Freude an den kuriosen Rhythmen und am versteckten Tiefsinn
dieses Textes zu erkennen. Auch traditionelle Formen wie die „Serenade“ hat
Mauricio Kagel gern entgegen Klischees verändert, sodass ein
Trio mit Flöten, Gitarre, Mandoline, Banjo und Perkussion
jeden romantischen Hauch verdrängt. Das „Doppelsextett
für Instrumentalensemble“ ist eine grell flimmernde
Kammersymphonie, „bei der ich versucht habe, eine organische
musikalische Form zu gestalten.“ In ebenso seltsamen wie
fantastischen Dialogen von je sechs Holzblas- und Streichinstrumenten.
Hier zeigt sich, dass Mauricio Kagel sowohl ein Pan-Media-Komponist
ist als sich auch seiner Traditionen bewusst ist.
Die sorgfältige Ausstattung der Mauricio Kagel Edition mit
seinen Werkkommentaren, Fotos zum Film und aus der Studioarbeit
sowie die digitale Überarbeitung der älteren Aufnahmen
ist ein freundschaftliches Geburtstagsgeschenk aus dem Hause Winter & Winter
wie es schöner nicht sein könnte.
Hans-Dieter Grünefeld
Mauricio Kagel Edition
I. Kagel singt und spielt
Pandorasbox, Bandoneon – Tango Ale-mán – Bestiarium
II. Ein Aufnahmezustand (Hörspiel)
III. Ludwig van (Film)
Winter & Winter 910 128-2
(2 CDs & 1 DVD)
Mauricio Kagel
Alles wechselt
Quirinus’ Liebeskuss – Serenade – Doppelsextett
Schönberg Ensemble – Nederlands Kamerkoor, Leitung:
Reinbert de Leeuw
Winter & Winter 910 126-2
Mauricio Kagel
Kantrimiusik
Nieuw Ensemble Amsterdam
(in Vorbereitung)