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nmz-archiv
nmz 2007/04 | Seite 45
56. Jahrgang | April
Noten
Aphorismen, neue Spieltechniken und vielerlei Lesarten
Neue Ausgaben: Konzerte, Kammermusik und Sololiteratur für
das Violoncello · Zusammengestellt von Holger Best
Edouard Lalo: Cellokonzert d-Moll. Bärenreiter Urtext BA
6999) – Edward
Elgar: Cellokonzert e-Moll op. 85. Bärenreiter Urtext BA 904
Früher war’s ganz einfach: bei der Suche nach einer
zuverlässigen und gut lesbaren Urtext-Ausgabe griff man, wann
immer möglich, auf die in zurückhaltendem Blau gestalteten
Bände des Henle-Verlags zurück. Daran hat sich im Prinzip
nichts geändert, außer dass dem Henle-Verlag Konkurrenz
erwachsen ist – länger schon mit den Ausgaben der beiden
originalen Brahms-Cellosonaten bei Schott/UE Urtext, in den letzten
Jahren aber unter anderem auch mit Breitkopf & Härtel
(Cellokonzerte von C.Ph.E. Bach, Boccherini und Schumann), der
Edition Peters (Tschaikowsky-Variationen) und dem Bärenreiter-Verlag,
der jetzt die Cellokonzerte von Lalo und Elgar als Urtext-Ausgaben
herausgebracht hat. Erhältlich sind Cellostimme mit Klavierauszug,
außerdem Partitur und Orchestermaterial. Das Lalo-Konzert
hat Hugh Macdonald veröffentlicht und sich dabei auf den in
der Nationalbibliothek Paris befindlichen autographen Klavierauszug
gestützt. Macdonald konnte nachweisen, dass Lalo diesen als „Arbeitspartitur“ nutzte
und am Konzert auch nach der Veröffentlichung Veränderungen
vornahm. Die Edition bietet damit erstmals Lalos eigene Bogensetzung
und Artikulation; abweichende Lesarten listen die Critical Notes
(nur auf englisch) auf. Das Vorwort (englisch/französisch/deutsch)
informiert über die Entstehung des Konzerts und zitiert interessante
Passagen aus Lalos Korrespondenz und Notaten auf den Autographen.
Die Cellostimme ist wegen besserer Blätterstellen mehrfach
ausklappbar und enthält – wie bei solchen Ausgaben üblich – keinerlei
Zusätze eines cellistischen Herausgebers.
Das Elgar-Konzert hat Jonathan Del Mar in gewohnt zuverlässiger
Weise ediert und dabei wo immer möglich Elgars eigene Notationsweise
im Einzelnen beibehalten. Eine signifikante Abweichung vom bekannten
Text ist der hier als Cadenza bezeichnete Takt 12 des 2. Satzes,
und die textkritisch problematischen Stellen (Orientierungsziffern
22 und 27) sind ausführlich anhand zweier historischer Aufnahmen
unter Elgars Dirigat im Kritischen Bericht verhandelt. Der Critical
Commentary (nur englisch) ist überhaupt eine prachtvolle Dreingabe:
Er enthält das farbig abgelichtete Faksimile der gesamten
Solostimme mit Eintragungen des Cellisten der UA, Felix Salmond,
dazu Ausschnitte autographer Skizzen und die erste Seite der gedruckten
Solostimme aus dem Besitz von Beatrice Harrison. Harrison war die
Solistin der zwei von Elgar dirigierten Einspielungen und ihre
Noten sind voller Eintragungen, die mutmaßlich auf einem
intensiven Gedankenaustausch mit dem Komponisten beruhen. Der
Commentary listet die-
se Einzeichnungen, sofern heute noch aufführungsrelevant,
vollständig auf. Der 24-seitige Textteil des Critical Commentary
enthält eine kritische Würdigung aller Quellen und informiert
im Einzelnen über alle Lesarten. Die Cellostimme ist heutigen
Usancen gemäß frei von jeglichen Einrichtungen sowie
Fingersätzen. Beide Ausgaben beruhen auf neuesten wissenschaftlichen
Erkenntnissen, ihre Ausstattung und Lesefreundlichkeit sind auf
allerhöchstem Niveau. Zu beneiden sind diejenigen, die erst
in heutiger Zeit ihre Cello-Bibliothek zusammenstellen!
Carl Ph.E. Bach: Cellokonzert
B-Dur Wq 171. Breitkopf Urtext EB 8783 und PB/OB 5509
Einen wesentlichen Zuwachs erhielten diese Erzeugnisse (d.h.
Konzerte für das Violoncello) noch durch andere Tonsetzer, welche nicht
Cellospieler waren. Vor allem sind hier an hervorragenden Größen
Carl Ph. E. Bach und Joseph Haydn zu nennen. Der erstere komponierte
ein Violoncellokonzert, der letztere mehrere derartige Stücke.
Mittlerweile ist die Forschung doch ein bisschen weitergekommen
seit 1911 und Wasielewskis Buch über das Cello: Der Werkkatalog
des ersteren listet drei Konzerte, der des letzteren zwei nachweislich
echte derartige Stücke auf. Allerdings ist nur ein Konzert
C.Ph.E. Bachs im Autograph vorhanden (das in a-Moll Wq 170), die
beiden anderen sind nur in Abschriften überliefert. Nachdem über
100 Jahre ins Land gegangen sind, seit Fr. Grützmacher das
a-Moll-Konzert als „Hohe Schule des Violoncellspiels Nr.
4“ bei Breitkopf veröffentlicht hatte, wurde und wird
es Zeit für eine kritische Neuedition. Diese hat nun Ulrich
Leisinger – nach der ersten des a-Moll-Konzertes 2004 – auch
für das Konzert B-Dur vorgelegt. Er hat damit einen unschätzbaren
Beitrag zur Rezeption der weithin unbekannten Werke geleistet,
die eine Generation vor und um Haydn (zu der auch Wagenseil, L.
Hofmann, Cirri und Pleyel gehören) entstanden sind. Das Konzert
voller Anmut und Grazie scheint nicht übermäßig
schwer (der Tonumfang der Solostimme überschreitet mit einer
Ausnahme nicht das b’), es sollte aber nicht unterschätzt
werden. Speziell und voller Humor ist der 3. Satz, der so tut,
als sei er von Vivaldi, dann aber mit typischen Figuren des musikalischen
Sturm und Drang überrascht. Die Ausgabe fußt vornehmlich
auf der Mitte der 1790er Jahre entstandenen Abschrift von Bachs
Hauptkopist Johann Heinrich Michel, die heute in Brüssel lagert.
Der Klavierauszug und die Partitur erscheinen mit einem informativen,
die Quellen ausführlich würdigenden deutsch/englischen
Vorwort. Den Klavierauszug erstellte – wie übrigens
auch den Notensatz – der Herausgeber selbst. Die Hefte erscheinen
im neuen Breitkopf-Urtext-Layout (mit dem „neuen Engel“ als
Frontispiz) und werden auch äußerlich höchsten
Ansprüchen gerecht.
Rainer Lischka: Vier Temperamente
für
Violoncello solo. Hofmeister FH 2662.
Leider schweigt sich die Ausgabe sowohl über den Komponisten
als auch über das Umfeld des Stückes aus. Die 4 Sätze
(Melancholisch – schwer, Sanguinisch – bewegt und leicht,
Phlegmatisch – gemächlich schwingend, und Cholerisch – sehr
erregt und schnell) sind kurz, zwischen 1,5 und 3,5 Minuten lang,
und können damit den gewichtigen Titel nur aphoristisch andeuten.
Sicher handelt es sich um eine Gelegenheitsarbeit, denn die Musik
ist einfach und nicht zu schwer zu spielen. Tonalitäten sind
eher gestreift als für die Faktur konstitutiv und manche nur
schwer nachvollziehbare Notation dürfte dem Computerprogramm
geschuldet sein. Über den Druckfehler im 2. Satz (arco fehlt)
klärt das kleine Tondokument in der Homepage auf. Unterhaltsamkeit
und Leichtigkeit, in der ernsten Musik oft als oberflächlich
oder gar verlogen denunziert, sind für mich erstrebenswerte,
wenn auch schwer herstellbare künstlerische Qualitäten.
So ist es.
Elizabeth Austin: Circling – Kreisen für Violoncello
und Klavier. Tonger
Die Komponistin schreibt zu ihrem Stück: Die geometrische
Figuren andeutenden Kreise zu Beginn jedes der vier Sätze
spiegeln die musikalische Beziehung zwischen den beiden Ausführenden
und ihre zwischenmenschlichen Stimmungen. Das Fehlen von Gleichzeitigkeit
im 1. Satz sucht eine gewisse Unnahbarkeit und das Gefühl
von Isoliertheit darzustellen. Der ,Pas de deux’ des
2. Satzes setzt einen Dialog in Gang, woraufhin das ,Schießscheiben’-Spiel
des 3. Satzes eine neckische Verabredung bedeutet. Die ineinandergreifende
Quasi-Modalität des Schlusssatzes beschwört Entschlossenheit
und Einigkeit. Austin wurde 1938 in den USA geboren, studierte
dort und am Conservatoire Américaine in Fontainebleau bei
Nadia Boulanger. Sie war Mitbegründerin des Program for Bilingual
Careers in Mannheim und erhielt den Preis der Connecticut Commission
on the Arts für 1996/97. Das 1982 geschriebene Stück
fordert neue Spieltechniken vom Cellisten und Pianisten, der überdies
ein Paar Fingerbecken benötigt. Im 1. Satz stehen sich mensurierte
Musik (Klavier) und unmensurierte (Cello) gegenüber, der 4.
Satz kann geradezu als homophon bezeichnet werden. Das Stück
gilt eher nicht als wichtiger Neuzugang des Repertoires für
Cello und Klavier. Die ziemlich handgestrickt wirkende Ausgabe
ist wenig lesefreundlich; sie enthält zwei Spielpartituren.
Michael Gregor Scholl: Concert
für Violoncello und Kammerorchester.
Tonger
Der 42-jährige Scholl kann auf einige Erfolge als Komponist
zurückblicken. Leider schweigt sich der Lebenslauf über
die näheren Umstände dieser Komposition aus – man
wüsste zum Beispiel gern, ob der Titel nur englisch oder doch
antiquiert gemeint ist, wie der Geburtsort „Cöln am
Rhein“ nahe legt? Oder ob der „Componist“ Scholl
mit der attacca-Dreisätzigkeit und der Tempobezeichnung „Rasch,
mit Feuer“ Schumann evoziert und dessen op. 73 fortschreibt?
Oder ob die frühklassische Orchester-Besetzung (je zwei Oboen
und Hörner, Streicher), die mit einigem Schlagzeug (ein Spieler)
und einem cor anglais im langsamen Satz angereichert wird, Programm
hat? Fragen, deren Beantwortung fürs erste offen bleibt. Vielleicht
ist es aber auch nur so, dass Scholl sich einen subtilen Witz leistet
gleich G.B. Shaw, von dem die Legende sagt, dass er sich in musikalischen
Kreisen in eine Partitur zu versenken beliebte, die er falsch herum
las. Das Stück ist für Cello ziemlich unangenehm geschrieben,
es liegt oft sehr hoch und ist mitunter unnötig kompliziert
notiert. Der Orchestersatz ist trotz der fünf Schlaginstrumente
fast immer leicht und luzide, die Streicher sind gelegentlich mehrfach
geteilt. Ein ausgesprochenes Ärgernis ist die Ausgabe wegen
der unmäßig vielen möglichen und tatsächlichen
Druckfehler, derer ich beim ersten Lesen über 20 zählte.
Ist es so dringlich, in der Hinsicht des schludrigen Korrekturlesens
der Edition Kunzelmann Konkurrenz machen?