Verdi sagte einmal im Hinblick auf die Musik, dass man zu den
Alten zurückgehen solle, es gäbe nichts besseres. Das
klingt ziemlich reaktionär, müsste jedem Künstler
in dessen jeweiliger Gegenwart den Mut zum eigenen Schaffen nehmen.
Verdis Ausspruch muss man aber anders verstehen, damit dessen Richtigkeit
hervortritt. In allen Künsten, besonders in der Musik, wirkt
etwas, was man als Geschichtlichkeit bezeichnen könnte. Kein
Kunstwerk, kein neues Musikstück, und sei es noch so fortschrittlich,
ungewöhnlich, verrückt, provokant, hängt als eine
Art freischwebendes Mobile im Weltenraum. Immer befindet es sich
in einem weitgespannten Beziehungsgeflecht, das sich aus Vergangenheit,
Gegenwart und zukünftigen Visionen bildet. Selbst die gewagteste,
kühnste, noch-nie-dagewesene künstlerische Erfindung
benötigt gleichsam als Folie die Historie, auf dessen Hintergrund
sie sich als „neu“, als neue Erfindung abbilden kann.
Es fällt auf, dass in der aktuellen Neuen Musik die Tendenzen
zu einer speziellen Rückorientierung zunehmen. Der Westdeutsche
Rundfunk bot zu diesem Thema sogar eine seiner „Musik-der-Zeit“-Veranstaltungen
auf. Unter dem Titel „Rausch und Ratio“ waren viele
Werke zu hören, Uraufführungen und ältere Kompositionen,
in denen sich die Komponisten speziell mit dem Spätwerk
Beethovens auf höchst unterschiedliche Weise auseinandersetzten.
Manuel Hidalgo „übersetzte“ Introduktion und Fuge
aus der Klaviersonate op. 106 von Beethoven für Akkordeon
und Orchester, Jorge E. Lopez zerlegte Beet-hovens letzte Klavier-Bagatellen
op. 126 für sein fünfteiliges Orchesterstück „Disparates“. Überhaupt
scheinen Beet-hovens späte Klaviersonaten und Streichquartette
in ihrer konstruktiven Komplexität und expansiven Ausdrucksgewalt
immer wieder eine Art Musiksteinbruch zu sein, mit dessen Hilfe
heutige Komponisten versuchen, eigene Positionen zu bestimmen.
Luigi Nonos Streichquartett, die Streichtrios von Schönberg
(op. 45) oder Wolfgang Rihm (1977) etwa greifen in ihrer expressiven
Sprache auf äußerst individuelle Weise den Gestus der
späten
Beethoven-Werke auf, ohne irgendwie in ein variierendes Zitieren
zu verfallen.
Auf dieser Linie bewegte sich auch das diesjährige Neue-Musik-Festival
des Saarbrücker Rundfunks, das unter dem Titel „Mouvement“ die „Musik
des 21. Jahrhunderts“ präsentiert. In der Regel blicken
Festivals der Neuen Musik, wie Donaueschingen oder Witten, konzentriert
in die Zukunft und lassen dafür Zukünftiges in Gestalt
neuer Werke schreiben. Auch Saarbrückens „Mouvement“ sowie
die renommierte frühere Reihe „Musik des XX. Jahrhunderts“ waren
programmatisch in dieser Hinsicht orientiert. Aber auch ein Avantgarde-Festival
sollte nicht weggucken, wenn sich bei Komponisten und Musikern
veränderte ästhetische Perspektiven einstellen, wenn,
wie oben beschrieben, ein Bedürfnis entsteht, sich über
das, was man bisher getan hat und auch noch aktuell ausübt,
einmal grundsätzliche Gedanken zu machen. Dass vieles, was
in der Neuen Musik Jahr für Jahr komponiert wird, Anzeichen
von ständiger Repetition des Immergleichen, von schwindender
Inspiration trägt, ist schon seit längerem zu konstatieren.
So adaptierten die „Mouvement“-Verantwortlichen für
ihr jetziges Festival zwei Begriffe, die schon seit langem in der
Pop-Musik Bedeutung erlangt haben und die immer stärker auch
in der sogenannten E-Musik, Abteilung Neue Musik, Einzug halten: „Remixes/
Reminiszenzen“, so lautete der Titel, den der zuständige
künstlerische Leiter des „Mouvement“-Festivals,
Wolfgang Korb, zusammen mit dem Posaunisten und Komponisten Mike
Svoboda dem diesjährigen Programm voranstellten. Svoboda fungierte
zugleich als „Artist in residence“, und es gibt wohl
kaum einen Künstler, der die Remixes/Reminiszenzen-Ästhetik
so perfekt beherrscht wie Mike Svoboda.
Der
Philosoph als Filmheld: In Mike Svobodas „Studien
zu Adorno“. Alle Fotos: Charlotte Oswald
Ein wenig Sentimentalität ist natürlich auch mit im Spiel.
Svoboda steuerte für das große „Remixes II“-Projekt
als Uraufführung eine Arbeit bei, die er „Studien zu
Adorno (sex, drugs and new music)“ nannte – eine vierzigminütige
Komposition für einen Vocalsolisten (der expressive Phil Minton),
sechs Instrumentalisten, Live-Electronics und Videoprojektion (Dietrich
Hahne). Man sieht viele dokumentarische Bilder mit Adorno, wie
er auf die 68er-Studenten trifft, die seine Texte als „Zündstoff“ (Zitat
Svoboda) einsetzten. Man sieht in schwarz-weiß-grauen Bildern
Straßenschlachten mit der Polizei, von Dietrich Hahne zitathaft
auf die Struktur der Komposition Svobodas zugeschnitten, in eindrucksvoller
Rhythmisierung und geschmeidigen Temporelationen. Als Svoboda 1982
nach Deutschland kam, erkannte er alsbald, welche Bedeutung der
Philosoph für die Geschichte und Entwicklung der Neuen Musik
besaß. Svobodas „Studien ...“ bedeuten also auch
eine komponierte Verehrung für Adorno, als Werk betrachtet
darf man sie als eine behutsame Versuchsanordnung für neue
Formen eines künftigen Musiktheaters nehmen, in das alle neuen
medialen Ausdrucksmittel integriert sind.
Das über sechs Stunden dauernde „Remixes II“-Projekt
gab einen eindrucksvollen Überblick über das, was Remixes
alles bedeuten können. Karlheinz Stockhausens „Tierkreis“-Komposition – 12
Melodien der Sternzeichen aus dem Jahr 1975 – überläßt
dem Interpreten die Zusammensetzung des Instrumentariums. Der Interpret
muß die Komposition für sich zusätzlich einrichten:
seine Funktion geht also weit über die des Nur-Spielers hinaus.
Svoboda ist mit diesem Stück eng vertraut. Zusammen mit Stockhausen
hat er einmal eine Version für Posaune und Klavier hergestellt.
In Saarbrücken hörte man den „Tierkreis“ in
zwei Realisationen: für Posaune, Akkordeon, Violoncello, Kontrabass,
Schlagzeug und Spieluhren sowie zweitens: für fünf Improvisatoren.
Svoboda bezeichnet die „Tierkreis“-Aufgabe als „Interpretation
zur Verdeutlichung einer Komposition“. Es ist erstaunlich
und eindrucksvoll, was sich dabei aus der Vorlage für reiche
Strukturen entfalten, rhythmisch, akkordisch, in den melodischen
Bewegungen. Remixes und Reminiszenzen vom feinsten. Intelligent
und inspiriert auch Svobodas Umgang mit Eric Satie: „Der
Phonometrograph“ enthält Bearbeitungen verschiedener
Klavierwerke und Lieder Saties in der Besetzung für Stimme,
Drehorgel, Toy Pianos, Melodia, Akkordeon und Posaune, zu denen
eigene Kompositionen Svobodas treten. Satie hat sich einmal selbst
den Phonometrographen zugeordnet. Seine Werke seien reine Phonometrie
(Lautstärkemesser), das bedeutet: auch so etwas wie Klangforschung.
Dieser Aspekt ist es, der Svoboda hier an Saties Komponieren interessiert.
In den „Reminiszenzen I“ an George Crumbs „Makrokosmos“,
die den Auftakt des Festivals bildeten, verbanden sich die drei „Makrokosmos“-Teile
für verstärktes Klavier von Crumb im nahtlosen Übergang
mit vier neuen Kompositionen von Ana Lara, Martin Smolka, Gergely
Vajda und Claas Willeke, zu denen dann noch als kleine Verbindungsstücke
fünf kurze Kompositionen von Svoboda selbst traten. Auch Crumb
dachte bei seinem Werk an Tierkreiszeichen (zwei Jahre vor Stockhausen).
Die vierplusfünf neuen Kompositionen sind keine Variationen über
Crumbs Vorgaben, sie reagieren vielmehr frei und unabhängig,
höchstens, wie Willeke, assoziativ auf den „Makrokosmos“.
Gleichwohl ergibt sich so etwas wie eine Grundübereinstimmung
zwischen den Arbeiten, die einen einheitlichen Werkcharakter suggeriert.
Bei allen Veranstaltungen, den hier genannten und weiteren Konzerten
sowie bei einer Podiumsdiskussion über das Thema „Remixes/
Reminiszenzen“, erwies sich die Präsenz Mike Svobodas
als höchst belebendes und anregendes Programm-Element. Und
sein „Ensemble InZeit“, das 2004 von Claas Willeke
gegründet wurde und aus Musikern unterschiedlichster Herkunft – Orchester,
Neue Musik, Improvisation, Elektronik – besteht, war für
diesen „Mouvement“-Jahrgang einfach unverzichtbar.