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nmz-archiv
nmz 2007/07 | Seite 13
56. Jahrgang | Juli/Aug.
Kulturpolitik
50 plus
Ein Kongressbericht
Die Auswirkungen und Konsequenzen des Demographiewandels für
die Musikkultur waren das Thema eines Kongresses unter dem Titel „Es
ist nie zu spät – Musizieren 50+“. Für drei
Tage hatte der Deutsche Musikrat Experten zu Diskussion, Workshops
und Konzerten nach Wiesbaden und Mainz eingeladen – am Ende
verfasste der Kongress die Wiesbadener Erklärung – zwölf
Forderungen an Politik und Gesellschaft.
Das
Kongressorchester unter der Leitung von Siegfried Köhler
mit Dvoráks „Aus der Neuen Welt“. Foto:
Susann Eichstädt
Die Eröffnungsrede im Wiesbadener Kursaal hielt Heiner Geißler.
Lädt man jemanden wie den ehemaligen Minister für Soziales,
Jugend, Gesundheit und Sport sowie ehemaligen Generalsekretär
der CDU als Redner ein, dann darf man sich nicht wundern, nein,
dann erwartet man, dass er Klartext redet. Und das tat er auch: „Der
Musikrat muss sich politisieren“, lautete seine Kernforderung.
Der Bundesminister a.D. stellte die Ideologie unserer Musikkultur
vom Kopf auf die Beine. „Man darf die Menschen nicht arm
machen“, sagte er und spielte damit auf die „Fallbeil-Mechanik
von Hartz IV“ an und auf die vielen Nullrunden bei den Renten.
Er konstatierte die real existierende und sich ausbreitende Altersarmut
(„alt, arm, arbeitslos“), die großen Teilen der
Bevölkerung die Partizipation an Kultur unmöglich mache.
Die Menschen hätten aber auch im Alter, und auch ohne zu den
privilegierten Schichten der Bevölkerung zu zählen, einen
Anspruch auf Teilhabe. Die Ängste vor der demografischen Entwicklung
dürften nicht zum Knüppel in der Hand der Neoliberalen
werden. (Originalrede im Videostream unter www.nmzmedia.de, Auszüge
siehe Seite 44)
Derart eingestimmt besuchten die etwa 100 Teilnehmer des Kongresses
drei Panels „Musik in Therapie und Pflege“, „Musikvermittlung
50+“ und „Generationen-übergreifendes Arbeiten“.
Impulsreferate oder Filme über Praxismodelle boten den Einstieg
in Diskussion und Arbeit.
Tags darauf tagte der Kongress im Mainzer Landtag: Hier sind besonders
hervorzuheben der Vortrag des Neurologen und Musikers Eckart Altenmüller,
der energisch Positionen entgegentritt – wie etwa der seines
Kollegen Manfred Spitzer –, wonach es zu spät sei, wenn
man mit 20 Jahren noch kein Instrument erlernt habe. Insbesondere
seine Untersuchungen mit Schlaganfallpatienten geben Hinweise auf
neue Einsatzmöglichkeiten von Instrumentalunterricht und Musiktherapie
in der Rehabilitation. Ein ganz neues Berufsfeld präsentierte
Thomas Grosse von der Evangelischen Fachhochschule Hannover unter
dem Begriff „Interaktive Musik im Krankenhaus“.
Er konfrontiert Patienten auf freiwilliger Basis mit Musikangeboten
direkt am Krankenbett und bildet an seinem Institut speziell Fachkräfte
dafür aus. Parallell zu den Arbeitskreisen und Vorträgen
fanden in Wiesbaden zwei Orchesterkurse statt, in denen der generationenübergreifende „Ernstfall“ geprobt
wurde. Erwachsene Laienmusiker (Bläser und Sreicher) probten
und musizierten mit jungen Musikern der Wiesbadener Musik- und
Kunstschule (Leitung der Sinfonischen Blasmusik: Bernd Sallwey)
beziehungsweise der Wiesbadener Musikakademie (Leitung des Jugend-Seniorenorchesters:
Siegfried Köhler).
Nach der Abschlussdiskussion mit Musikratsgeneralsekretär
Christian Höppner, Hans H. Wickle, Wolfhagen Sobirey und Ernst
Folz wurde unter anderem die Wiesbadener Erklärung präsentiert.
Sie bemängelt, dass momentan in Deutschland fast durchgängig
musikalische Angebote fehlten, die sich gezielt an ältere
Menschen wenden. Auch fehle es meistens an geeigneten Bedingungen
für die musikalische Betätigung in den Alteneinrichtungen.
In zwölf Punkten wurden nötige Reformen im Bereich der
Lehrer- und Musikerausbildung, an den Musikschulen aber auch die
Architektur und die politischen Rahmenbedingungen betreffend gefordert.
Heiner Geißlers Appell schien bei den Adressaten angekommen
zu sein.