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nmz-archiv
nmz 2007/07 | Seite 15
56. Jahrgang | Juli/Aug.
Hochschule
Die Lust an der akademischen Nabelschau
Schere im Kopf: eine Replik von Detlef Altenburg auf einen Artikel
von Lydia Grün in der nmz
In regelmäßigen Abständen fühlen sich Kollegen,
die die Situation des Faches aus der Fernsicht des Ruheständlers
oder der amerikanischen Verhältnisse beurteilen, dazu berufen,
die Situation der Musikwissenschaft in Deutschland zu analysieren,
und beschreiben dabei zumeist ein Studiensystem vergangener Zeiten,
das sie selbst noch aus eigener Anschauung kennen. Nun hat sich
mit Lydia Grün, Doktorandin an der Universität Oldenburg,
unter dem Titel „Berufsorientierung auf dem Papier“ diesem
Lamento – wenngleich differenzierter als in manch einer anderen
Positionierung – auch eine junge Kollegin angeschlossen (siehe:
nmz-Hochschulmagazin 5/07, Seite V).
Die
künftigen Aktivposten arbeiten an der Kernkompetenz.
Foto: J.M. Koch
Da ist von der Schließung von Instituten die Rede und von
einer Musikwissenschaft, die keine „handlungsorientierten
Antworten“ auf die Entwicklungen in Deutschland finde. Obwohl
bislang die Profile der geplanten Bachelor- und Masterstudiengänge
im Ganzen kaum bekannt sein können, wird jetzt bereits die
vermeintlich vertane Chance beklagt. Und es wird verkündet,
was sinnvoll und was überflüssig ist, ohne dass gegenwärtig
bereits eine klare Bestandsaufnahme möglich wäre. Viele
Studiengänge sind noch nicht einmal akkreditiert, geschweige
denn in der Praxis erprobt. Bei ihren Recherchen geht die Verfasserin
von dem von den Universitäten selbst gepflegten Hochschulkompass
der Hochschulrektorenkonferenz aus, der allerdings bei kritischer
Sichtung eher das Dilemma der gewaltigen organisatorischen Probleme
bei der Einführung des B.A./M.A.-Systems als die Realität
der gegenwärtigen Studienbedingungen widerspiegelt.
Es ist einigermaßen rätselhaft, woher in der Musikwissenschaft
die Lust an der akademischen Nabelschau und die Vorstellung rührt,
das Fach müsse in besonderer Weise seine Legitimation nachweisen.
Zur Rechtfertigung der Verfasserin muss man allerdings ergänzen,
dass sie sich damit immerhin in so erlauchter Gesellschaft befindet
wie der des Herausgebers der neuen Enzyklopädie „Die
Musik in Geschichte und Gegenwart“, der sich indirekt auf
der selben Seite der nmz in einer Variante des Lamentos übt,
wenn er verkündet, niemand habe ihm angeboten, seinem Forschungsprojekt
in Deutschland eine Heimstatt zu geben. (Man kann sich im Ernst
kaum vorstellen, dass sich wirklich ein Institut in der Bundesrepublik
ein solches Angebot hätte entgehen lassen.) In einer Zeit,
in der angesichts der drängenden Fragen der Zeit die Kompetenz
der Geisteswissenschaften mehr denn je gefragt ist, sollte sich
der Blick eher auf die Herausforderungen des Faches als auf die
Ars bene lamentandi richten.
Die in dem Beitrag „Berufsorientierung auf dem Papier“ gezeichnete
Situation ist ganz sicher nicht repräsentativ für „das“ Fach,
auch wenn die Verfasserin in ihren Überlegungen, ganz wie
es die Politik allenthalben insinuiert, von planwirtschaftlichen Überlegungen
eines bundesweit einheitlichen Fachdesigns auszugehen scheint,
wenn sie definiert, was gefördert
werden muss und was überflüssig ist. Es wird auch künftig „die“ Musikwissenschaft
ebenso wenig geben, wie es sie in der Vergangenheit gegeben hat.
Vielmehr wird das Fach mit seinen Teildisziplinen in ganz unterschiedlichen
Ausprägungen und mit ganz unterschiedlichen Profilen an den
deutschen Universitäten und Musikhochschulen vertreten sein.
Diese unterschiedlichen Profile erklären sich aus der Sache
selbst und aus den unterschiedlichen Ausbildungszielen, die sich
nicht zuletzt im Hinblick auf mögliche Berufsfelder definieren.
Sie erklären sich vor allem aber aus den zur Verfügung
stehenden Lehrkapazitäten. Selbstverständlich kann in
der Lehre nicht überall alles angeboten werden. Tatsächlich
greift jetzt das Gebot, dass die verschiedenen Hochschulen und
Universitäten klare Profile ausbilden und in einen Wettbewerb
um Studenten treten. Der Student kann mehr denn je zwischen sehr
unterschiedlichen Ausbildungskonzepten und Studienschwerpunkten
wählen.
Es wäre eine nicht zu verantwortende Beschönigung, wenn
man nur die positiven Aspekte der jüngsten Entwicklung erwähnen
würde. Die Universitäten und Hochschulen sind mit ihren
Personalbeständen für die Einführung des B.A.-/M.A.-Systems
nicht gerüstet. Für den wissenschaftlichen Nachwuchs
fehlen an vielen Hochschulen und Universitäten die erforderlichen
Planstellen, da die Politik mehr und mehr auf die Einwerbung von
Drittmittelstellen setzt. Die Tatsache, dass diese umfassendste
Studienreform, die die Bundesrepublik Deutschland jemals erlebt
hat, in manchen Bundesländern mit radikalen Personalkürzungen
im Hochschulbereich einhergeht, lässt ahnen, wie eng die Spielräume
geworden sind. Aber dies ist kein spezifisches Problem des Faches
Musikwissenschaft, sondern ein fächerübergreifendes hochschulpolitisches
Problem.
Konzentration des Faches
Das in dem Artikel „Berufsorientierung auf dem Papier“ wie
schon so oft angestimmte Lamento über Institutsschließungen
betrifft demgegenüber konkret die Musikwissenschaft und scheint
auf den ersten Blick nachvollziehbar zu sein. Bei genauer Betrachtung
zeigt sich, dass sich zwar die Schwerpunkte verschieben, dass aber
in der Summe die Zahl der Ausbildungsstätten kaum wesentlich
zurückgegangen ist, weil im Gegenzug in den letzten zwanzig
Jahren eine ganze Reihe neuer Ausbildungsstätten entstanden
ist. Und auch das Verschwinden des Faches an einzelnen Universitäten
vollzieht sich nicht immer als einseitiger Prozess. Wenn beispielsweise
die Musikwissenschaft an den Universitäten Erlangen und Bamberg
künftig nicht mehr vertreten sein wird, so sind dies Entscheidungen,
die von den jeweiligen Universitäten getroffen wurden. Im
Ausgleich dafür ergibt sich eine Konzentration des Faches
an der Universität Würzburg, die völlig neue Synergieeffekte
möglich macht. Wenn an anderen traditionsreichen Universitäten
Stellen gestrichen wurden, muss man bedenken, dass im Gegenzug
an vielen Musikhochschulen Professuren für das Fach Musikwissenschaft
neu eingerichtet wurden und dort neue Studiengänge entstanden,
die es in früheren Jahrzehnten nicht gab. Ganz sicher ist
es ein Problem, dass mit der Streichung der Musikwissenschaft an
manchen Universitäten im kultur- beziehungsweise geisteswissenschaftlichen
Spektrum Lücken gerissen werden, über deren Tragweite
sich die Hochschulleitungen bislang offenbar nicht im Klaren sind.
Die Gesellschaft für Musikforschung hat in diesen Fällen
regelmäßig auf die daraus resultierenden Probleme hingewiesen
und auch öffentlich Stellung genommen. Angesichts der Bedeutung,
die der Musikwissenschaft nicht nur im Verbund der kultur- und
geisteswissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch im Hinblick
auf Fachdisziplinen wie Interkulturelle Wirtschaftskommunikation
zukommt, kann man darauf vertrauen, dass dieser Welle der Streichungen
eine Welle der Wiedereinrichtung folgen wird. Wer den Verfasser
für blauäugig hält, möge sich die Entwicklung
des Faches an der Universität Gesamthochschule Kassel vergegenwärtigen.
Der interne Austausch der Lehrenden an Hochschulen und Universitäten
innerhalb der Gesellschaft für Musikforschung hat nur zu deutlich
gezeigt, wie intensiv vielerorts die Chancen für eine Erneuerung
der Ausbildung genutzt werden. Pflichtpraktika und Einbeziehung
von Fachleuten aus den verschiedenen Berufszweigen in die Lehre
gehören an vielen Hochschulen und Universitäten seit
Jahren zum Alltag. Wenn nun angemahnt wird, dass auch dies nicht
reicht, so wird hier das Studium mit einer Lehre in Handel und
Gewerbe verwechselt. Die berechtigte Anmahnung, dass das Studium
nicht hinreichend praxisorientiert ist, ist mit deutscher Gründlichkeit
zum Teil längst in das Gegenteil umgeschlagen: Bereits jetzt
erzeugt nicht selten eine wahre Praktikums-Hysterie bei Studierenden
die Sorge, sie würden den Anschluss verpassen, und nimmt ihnen
die Konzentration und Geduld in der Auseinandersetzung mit Fragestellungen
und Problemlösungen, die ein wissenschaftliches Studium erfordert.
Neben den „klassischen Themen“ stehen in Vorlesungen
und Seminaren durchaus Themen im Mittelpunkt, die die Frage nach
dem kulturellen Kontext und der Funktion der Musik im komplexen
System Kultur stellen. Natürlich wird es wie in der Vergangenheit
bessere und schlechte Ausbildungskonzepte geben. Dies unterscheidet
die Musikwissenschaft nicht von anderen Disziplinen und ist eine
banale Erkenntnis. Die Gesellschaft für Musikforschung hat
im vergangenen Jahr zu einer Diskussionsrunde über die verschiedenen
Planungen eingeladen, in der sich gezeigt hat, in welch hohem Maße
die verschiedenen Institute ihre Ressourcen nutzen und mit bemerkenswerter
Kreativität sowie in hochinteressanten Kooperationen neue
Wege beschreiten. Eine ganz auffallende neue Tendenz zeichnet sich
in den Fächerkombinationen ab: Das Spektrum der traditionellen
Kombinationen ist vielerorts um anwendungsorientierte Fächer
wie Medienwissenschaft, Musikinformatik oder Kulturmanagement erweitert.
Die Vorstellung allerdings, dass mit Rahmenvorgaben eine differenzierte
Abstimmung über Inhalte des Kernfaches zu erzielen sein könnte,
ist insofern unrealistisch, als die strukturellen Rahmenbedingungen
der verschiedenen Bundesländer und die unterschiedlichen Vorgaben
der Hochschulen in Verbindung mit der sehr unterschiedlichen Personalausstattung
der Institute dies nicht zulassen.
Öffentliche Wahrnehmung
Mit Projekten wie dem Répertoire International des Sources
Musicales und den Musikergesamtausgaben hat die Musikwissenschaft
in der Vergangenheit Maßstäbe gesetzt. Weltweit sind
die Ergebnisse musikwissenschaftlicher Arbeit die selbstverständliche
Grundlage einer globalen Musikkultur. Im Bereich der computergestützten
Edition beispielsweise knüpft die Musikwissenschaft in Deutschland
mit innovativen Konzepten an diese Tradition an. Aber dies ist
nur ein Aspekt der heutigen Musikwissenschaft in Deutschland: Der
hohe Anteil interdisziplinärer Forschungsprojekte, an denen
die Musikwissenschaft beteiligt ist, signalisiert, dass das Fach
tatsächlich neue Wege beschreitet und sich im Wissenschaftsdiskurs
der Gegenwart zu Wort meldet. Bundesweit ist das Fach in einer
Vielzahl von interdisziplinären Graduiertenkollegs, Sonderforschungsbereichen
und Exzellenzcluster-Initiativen vertreten. Insofern bleibt rätselhaft,
was die Autorin anmahnt. Von der Vielseitigkeit bei der Neuorientierung
der Fachdisziplin und der Aktualität ihrer Fragestellungen
zeugte der Internationale Kongress der Gesellschaft für Musikforschung,
Musik und Kulturelle Identität, der 2004 in Weimar stattfand
und der sich einer überaus intensiven Wahrnehmung in der regionalen, überregionalen
und internationalen Presse erfreuen durfte. All dies zeigt ebenso
wie der diesjährige Kongress der Internationalen Gesellschaft
für Musikwissenschaft in Zürich, der unter dem Rahmenthema „Passagen“ steht,
nur zu deutlich, dass die viel beschworenen Defizite hinsichtlich
der Wahrnehmung aktueller Fragestellungen eher eine „idée
fixe“ von Musikwissenschaftlern als ein Problem der Musikwissenschaft
sind.
Detlef Altenburg, Präsident der Gesellschaft für Musikforschung