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nmz-archiv
nmz 2007/10 | Seite 36
56. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Transatlantische Diskurse
Debussy, Strauss, Varèse und Ives beim Musikfest Berlin
2007
Das Martyrium des heiligen Sebastian bildete den Ausgangspunkt.
Als Simon Rattle 2006 mitteilte, er wolle das selten zu hörende
Debussy-Werk im folgenden Jahr zum Saisonbeginn der Philharmoniker
aufführen, bot dies für Winrich Hopp, den neuen Künstlerischen
Leiter des Musikfests Berlin, einen willkommenen Anlass, nach programmatischen
Querverbindungen zu suchen. So stieß er auf Edgard Varèse,
der 1907 von Paris nach Berlin übersiedelte, wo er Richard
Strauss begegnete, bevor er ab 1915 in New York lebte. Dies ergab
die Idee zu einem Klangporträt der Städte Paris, Berlin
und New York um 1910, zentriert um Werke von Debussy, Strauss,
Varèse und Ives.
Mehrere Weltorchester konnte Hopp für dieses anregende Konzept
gewinnen. So stellte beim Eröffnungskonzert Bernard Haitink
mit dem Concertgebouworkest Amsterdam den „Nocturnes“ und
den „Six épigraphes antiques“ von Debussy Auszüge
aus „Parsifal“ und „Tristan und Isolde“ gegenüber.
Immerhin hatte der Wagnerisme Debussy entscheidend geprägt.
Sein „Le Martyr de Saint Sébastien“ wäre
ohne „Parsifal“ nicht zu denken. Während Debussy
aber auf Naturbilder zurückgriff – etwa in „La
Mer“ (vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter
Mariss Jansons mit großer Finesse gespielt) auf das Element
des Wassers –, sollte sich Varèse überwiegend
für Großstadtklänge und -geräusche interessieren.
Eine Vermittlungsinstanz bedeutete Richard Strauss, der Varèse
in Berlin förderte und aufführte. Bei Musikfest-Konzerten
in der Philharmonie konnte man die oft übersehene Verwandtschaft
zwischen beiden Komponisten, die schon Romain Rolland in seinem
Musikerroman „Jean Christophe“ aufgegriffen hatte,
sinnlich erleben. Aufregend war es, mit dem Deutschen Sinfonieorchester
unter Ingo Metzmacher direkt nacheinander die Tondichtung „Ein
Heldenleben“ und das gigantische New York-Porträt „Amériques“ zu
hören. Metzmacher hob besonders die Vielstimmigkeit und das
konfliktreiche Nebeneinander verschiedenster Charaktere bei Strauss
hervor und öffnete damit die Ohren für die Ausweitung
der Klangpalette bis ins Geräuschhafte bei Varèse.
Nicht ganz so überzeugend gelang es Fabio Luisi und der Staatskapelle
Dresden, strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen der „Alpensymphonie“ und
dem zehn Jahre später entstandenen Orchesterwerk „Arcana“ aufzuzeigen.
Zum New York-Porträt gehörten neben Dvoráks „Neuer
Welt“-Symphonie, neben „Amériques“ und
Bartóks „Konzert für Orchester“ vor allem
Werke von Charles Ives: „Three Places in New England“,
die Symphonie Nr. 3, „Holidays Symphony“ und „Robert
Browning Ouvertüre“ (mit Boston Symphony Orchestra,
San Francisco Symphony, Konzerthausorchester und Staatskapelle
Berlin). Da die Konzertplanungen relativ kurzfristig begonnen wurden,
waren andere Werke weniger zwingend ins Konzept eingebunden. Bartóks „Wunderbarer
Mandarin“, von den Philharmonikern unter Rattle rhythmisch
intensiv gespielt, war immerhin eine grandiose Großstadtmusik.
So kompetent die Orchester aus Amsterdam, Berlin, Boston und London
die französischen Werke darboten, so bedauerte man doch, sie
nicht auch mit einem Pariser Orchester erleben zu können.
Debussys Tanzpoem „Khamma“ hatte in der Wiedergabe
mit dem Rundfunksinfonieorchester Berlin nicht ganz überzeugt.
Zum Höhepunkt entwickelte sich dagegen „Le Martyr de
Saint Sébastien“ mit Rattle und den Philharmonikern,
ergänzt durch Strawinskys „Roi des Étoiles“ und
die Fünfte von Sibelius.
Trotz der dekadenten Verbindung von religiöser und erotischer
Ekstase in Gabriele d’Annunzios Text (von Sophie Marceau
ausdrucksstark vorgetragen), erwuchs bei Debussy die musikalische
Raffinesse aus einfachen, experimentell konfrontierten Akkorden.
In ihrer exquisiten Klangregie gerade im Pianobereich, der nuancierten
Abstufung von Rundfunkchor, Orchester und Solisten, setzte die
Aufführung Maßstäbe. Nicht nur im Programmprofil,
sondern auch in der Publikumsresonanz bedeutete dieses Musikfest
eine deutliche Verbesserung gegenüber früheren Jahrgängen.