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nmz-archiv
nmz 2007/10 | Seite 35
56. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Ein Orchester zum Musizieren, Studieren und Versöhnen
Salzburger Festspiele 2007: eine Residenz des West-Eastern Divan
Orchestra · Von Jörn Florian Fuchs
Das 1999 von Daniel Barenboim und Edward Said in Weimar gegründete
West-Eastern Divan Orchestra ist mittlerweile zu einem international
erfolgreichen Klangkörper gereift. Die vorwiegend jungen Musiker
aus Israel, den palästinensischen Gebieten sowie aus Ägypten,
Jordanien und weiteren Ländern der Region spielen unter der
alleinigen Leitung Barenboims besonders gern westlich-romantische
Töne und die großen symphonischen Brocken à la
Russe.
Erfahrungsaustausch
beim westöstlichen Diwan in Salzburg. Von links nach
rechts: Mariam Said, die Witwe des Orchestergründers
Edward Said, der Dirigent Daniel Barenboim, Jürgen
Flimm, Intendant der Salzburger Festspiele, Markus Hinterhäuser,
der Konzertchef der Festspiele, sowie Mitglieder des Orchesters.
Auch das Publikum durfte Fragen stellen. Fotos: Charlotte
Oswald
Auch in Salzburg gab es zunächst das gewohnte Repertoire im
Konzert zu erleben: Tschaikowskys „Pathétique“ erklang
als wuchtiges Klangtableau, Beethovens dritte Leonoren-Ouvertüre
als hämmernd-lauter Parforce-Ritt mit Tendenz zum Marsch.
Hohe Luzidität besaßen dagegen Schönbergs Orchestervariationen
op. 31. Auf den ersten Blick wirkte die Einladung des Orchesters
zu den Salzburger Festspielen jedoch eher (kultur-)
politisch denn künstlerisch motiviert. Schließlich stehen
mit den Wiener oder Berliner Philharmonikern, mit den Lokalmatadoren
Mozarteum Orchester und Camerata Salzburg sowie den zahlreichen
Gastorchestern ausreichend befähigte Ensembles für das
konventionelle oder leicht anmodernisierte Klassische zur Verfügung.
Glücklicherweise setzte der neue Salzburger Konzertchef Markus
Hinterhäuser aber nicht nur aufs multikulturelle, harmonische
Abfeiern einschlägiger Werke – geboten wurde vielmehr
auch eine „Schule des Hörens“. An drei Nachmittagen
stand die Universitätsaula den regulären Festspielbesuchern
ebenso wie zahlreichen Studenten offen. Am ersten Tag probte Barenboim
Beethovens dritte Leonoren-Ouvertüre und gab ausführliche
Einblicke ins Probieren und Studieren. Unglücklicherweise
unternahm Barenboim etliche langatmige Exkurse und begab sich auf
(eher dünnes) philosophisches Terrain. Barenboim sprach von
der Aufgabe des Dirigenten, die Töne am Leben zu halten (eigentlich
wollten diese nämlich – beständig – sterben)
und von der Ähnlichkeit zwischen Leben und Musik: beide kämen
aus dem Nichts und kehrten letztendlich wieder dorthin zurück.
Die etwas platte metaphysische Kaffeestunde wurde erst spannend,
als das Publikum den Dirigenten mit konkreten Fragen nach seiner
Schlagtechnik, nach Phrasierungsgestaltungen, Tempovorstellungen
et cetera konfrontierte.
Beim zweiten Hörnachmittag holte sich Barenboim Verstärkung
in Form von Nachwuchstalent Robin Ticciati und es kam zu einer
mal illustren, mal richtig heftigen Diskussion. Während Barenboim
den jungen Kollegen vor allem musikwissenschaftlich beraten wollte,
erklärte dieser sich zum begeisterten Emphatiker, der eine
bestimmte Passage eben genau so dirigiere, wie er sie spüre.
Der Casus belli war übrigens erneut die dritte Leonoren-Ouvertüre.
Wer dann noch einen weiteren Nachmittag hergab und auf den in Salzburg
eigentlich inkommensurablen Kaffeehausbesuch verzichtete, der wurde
reichlich belohnt und erlebte einen echten Höhepunkt der Festspielsaison.
Erstmals stand Altmeister Pierre Boulez am Pult der west-östlichen
Musiker und erklärte knapp, präzise, aber ungemein charmant,
welche strukturellen Klippen es bei Bartóks „Vier
Orchesterstücken“ gibt. Boulez lieferte innerhalb einer
guten Stunde die glasklare Durchleuchtung der Partitur und gab
dabei noch tiefe Einblicke ins Taktgeben. Wer richtet sich wann
und wie nach welcher Handbewegung? Das alles wurde so verständlich,
wie sich die Vielzahl der Bartók’schen Themen und
Motive unter Boulez’ Dirigat zu einer genau nachvollziehbaren
Klangreise fügten.
Sprechen
und Nachdenken über Musik: Pierre Boulez und Daniel
Barenboim in der „Schule des Hörens“ mit
dem West-Eastern Divan Orchestra
In weiteren Konzerten bewiesen die Musiker, welch hohen Standard
vor allem die Streicher und das tiefe Blech besitzen. Und es wurde
deutlich, dass es keinen wirklich genuinen West-Eastern-Stil gibt – der
Dirigent formt das willige Orchester nach seinem Maß. Daniel
Barenboim programmierte einen ganzen Tag für diverse Besetzungen,
von Kammerensembles bis zum ganz großen Apparat. Eindrucksvoll
griff er selbst beim „Forellenquintett“ in die Tasten,
Patrice Chéreau rezititierte den französischen Text
zu Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“, einzig das
Zeitgenössische blieb eine Leerstelle.
Am Ende dieses langen Musiktages schwirrte einem der Kopf vor
lauter enthusiastisch musizierter Töne. Eine Niveausteigerung muss
man dem West-Eastern Divan Orchester eigentlich nicht wünschen,
vielleicht eher mal andere Dirigenten, die das Repertoire erweitern.
Und warum nimmt man sich nicht endlich mal Werke aus den Heimatländern
der Musiker vor? Das gemeinsame Musizieren solch einheimischer
Musik wäre vielleicht der nächste Schritt auf dem bisher
so erfolgreichen Weg der kulturellen Verständigung, es wäre
eine noch tiefere Integrationsarbeit des Orchesters, nach innen
wie nach außen.
In diesem Zusammenhang darf man auf die Vergangenheit der Salzburger
Festspielen verweisen. Beim legendären „Zeitfluss“-Festival,
das zur Mortier-Zeit das Konzert-und Musiktheaterangebot der Festspiele
in den Perspektiven enorm erweitert hat, beschäftigten sich
viele der Konzerte mit der Musik auch aus arabischen Ländern.
Eine Reihe qualifizierter Ensembles kam damals nach Salzburg. Das „Zeitfluss“-Festival
wurde von Markus Hinterhäuser konzipiert. Heute ist Hinterhäuser
Konzert-referent der Festspiele. Das könnte doch eine dauerhafte
Verbindung zwischen Salzburg und dem West-Eastern Divan Orchestra
ergeben.